Neue Lernkultur durch selbstgesteuertes Lernen : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Für die 4. Thüringer Sommerakademie, die vom 10. bis 12. Juli 2008 in Bad Berka stattfand, hatten das Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien (ThILLM) und die Serviceagentur "Ganztägig lernen" Thüringen das Jahresthema 2008 "Partizipation" zum Programm gemacht: "Demokratie lernen und leben - Erleben einer neuen Lernkultur" hieß die Überschrift der Veranstaltung, die selbst mit einer individualisierten Lernkultur aufwartete.

In einer Kaffeepause auf der 4. Thüringer Sommerakademie "Demokratie lernen und leben - Erlebnis einer neuen Lernkultur" antwortete ein Schüler auf die Frage, wie es an seiner weiterführenden Schule um die Partizipation bestellt sei, mit der Gegenfrage: "Partizipation? Was heißt das?" Es war keine Ironie, sondern die tatsächliche Unkenntnis der Bedeutung des Wortes. Nach deren Erläuterung räumen sowohl dieser Schüler als auch eine Schülerin und ein weiterer Schüler ein, dass an ihren Schulen in Sachen Mitbestimmung und Teilhabe so gut wie nichts läuft. Noch nicht. Zusammen mit Lehrerinnen und Lehrern und Schulleitungen sei man nach Bad Berka zu der vom 10. bis 12. Juli 2008 dauernden Veranstaltung gekommen, um sich kundig zu machen, welche Möglichkeiten einer demokratischen Lernkultur es gibt.

Teilnehmerinnen und Teilnehmer  im Plenum und bei der Arbeit
Der Marktplatz im "Lerndorf" des ThILLM in Bad Berka: Platz zum Zuhören und Arbeiten

Während also so manche Schulen institutionalisierte Schülermitbestimmungsgremien wie Klassenrat und Schülerparlament nur vom Hörensagen kennen, legten die Veranstalter der Sommerakademie - das Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien (ThILLM) und die Serviceagentur "Ganztägig lernen" Thüringen - die Messlatte für eine neue Lernkultur sogar noch höher. Die Referenten und die Workshops zielten mit ihren Beiträgen auf eine Veränderung des Unterrichts, dem Kerngeschäft von Schulen.

Patentrezepte gibt es nicht

"Man spürt, dass sich etwas verändern muss", erklärte eine Lehrerin. "Man kann nicht mehr als Einzelkämpferin weiter das durchziehen, was man schon seit 15 Jahren macht. Die Schülerinnen und Schüler verändern sich, wir müssen anders mit ihnen umgehen." Rund 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer wollten an drei Tagen im ThILLM diskutieren und sich informieren, wie diese Veränderungen aussehen und wie sie gestaltet werden können. Die Anwesenden signalisierten Bereitschaft, "den Tunnelblick aufzugeben und eingefahrene Gleise zu verlassen", wie es eine Lehrerin formulierte. Aber wie erreicht man, dass andere aus dem Kollegium oder gar die eigene Schulleitung mitmachen? "Der leiseste Anklang, etwas verändern zu wollen, sendet Schockwellen durch das Kollegium", berichtete eine Lehrerin.

Patentrezepte gab es auch auf der Sommerakademie nicht. Moderator Ralph Leipold, Schulleiter des Gymnasiums Neuhaus am Rennweg, erklärte in einer offenen Gesprächsrunde: "Bei Sachinhalten ist die Veränderungsbereitschaft bei Lehrerinnen und Lehrern groß. Geht es um organisatorische Veränderungen wie die Rhythmisierung und den 45-Minuten-Takt, wird sie schon geringer. Bei Einstellungen und Werthaltungen ist es dann ganz schwierig." Es bedürfe vieler Gespräche und Menschen mit Experimentierfreude, die man um sich scharen müsse.

Eine Schulentwicklungsberaterin ergänzte: "Oft werden Veränderungsprozesse schlecht initiiert und rufen so Widerstände im Kollegium hervor. Die Situation wird unerträglich und ist auch durch Fortbildungen nicht zu ändern. Es liegt an einzelnen Kolleginnen und Kollegen, Veränderungen anzustoßen und andere anzustecken. Wenn schließlich Eltern und Kinder überzeugt werden können, wird es ein Erfolg."

"Wann können wir mal etwas selbst machen?"

Wie Dr. Falko Peschel in seinem Vortrag "Können Kinder wirklich selbstständig lernen?" darlegte, geben die Vorgaben der Bildungsministerien - beispielsweise in Nordrhein-Westfalen die Richtlinie "Selbstgesteuertes Lernen" von 2003 - Lehrerinnen und Lehrer einigen Spielraum, den Unterricht organisatorisch zu öffnen und so Schülerinnen und Schüler über Inhalte und Lerntempo mitbestimmen zu lassen. Der Grundschullehrer und Erziehungswissenschaftler erläuterte die Stufen von einem lehrerzentrierten zu einem methodisch und inhaltlich geöffneten Unterricht. Peschel hat selbst eine Grundschulklasse erfolgreich durch vier Jahre geführt, ohne im klassischen Sinne zu unterrichten.

"Oft wird ein materialzentrierter Unterricht mit einem offenen verwechselt", kritisierte der Lehrer. "Freiarbeit, Wochenplan, Werkstätten und Stationen lernen sind aber nur als Vorstufe zu einem offenen Unterricht zu begreifen. Bei diesen Methoden geben letztlich immer noch die Lehrer die Inhalte vor." Der Kölner Grundschullehrerin Hannelore Zehnpfennig, die viele dieser Methoden in den 80er Jahren kombinierte, seien diesbezüglich die Augen geöffnet worden, als ein Schüler sie eines Tages fragte: "Wann können wir mal selber etwas machen?" Daraufhin habe die Lehrerin mit der "Didaktik des weißen Blattes" zunächst in den beiden Fächern Deutsch und Kunst, in denen sie sicher war, ihren Unterricht weitgehend geöffnet. Morgens trafen sich die Kinder im Sitzkreis und besprachen, was sie am Tag machen wollten. Eine Vorgabe für den Tag konnte dabei schlicht lauten: "Erforsche Afrika!" Die Schülerinnen und Schüler bestimmten dann selbst, welche Aspekte eines Themas sie untersuchen, welche Materialien sie nutzen und wie sie diese für die Mitschülerinnen und Mitschüler aufbereiten.

"In diesem Unterricht entwickeln die Kinder ihre eigenen Fragen. Sie tauschen sich mit Mitschülerinnen und Mitschülern und mit den Lehrern aus, die jetzt auch die Zeit haben, ihnen zuzuhören", beschrieb Peschel diese "Individualisierung von unten". "Zum Schluss eines Tages treffen sich alle, um sich gegenseitig ihre Lösungen und Lösungswege vorzustellen. Bei diesen Gesprächen erweist sich auch die enorme Kompetenz der Kinder, sich in die anderen hineinzuversetzen."

In der Leistungsbewertung nach Weiterentwicklung schauen

Gesprächsrunden mit Ralph Leipold und Bernd Schreier
Gesprächsrunden am "Brunnen" mit Moderator und Lehrer Ralph Leipold (r. im l. Bild) und Bernd Schreier, Leiter des Instituts für Qualitätsentwicklung in Hessen (r. im r. Bild)

Ein weiterer zentraler Bereich, für den die Tagung Denkanstöße in Richtung einer demokratischeren Kultur geben wollte, ist die Leistungsbeurteilung. Mit Prof. Dr. Siliva-Iris Beutel vom Fachbereich Erziehungswissenschaft und Soziologie an der Universität Dortmund, hatten die Veranstalter eine Expertin eingeladen: Einer der Arbeitsschwerpunkte der Erziehungswissenschaftlerin ist die Forschung zu Leistungseinschätzung und -beurteilung. In ihrem Vortrag "Lernen fördern - Aufgaben der Leistungsbeurteilung" mahnte sie auch den von Ralph Leipold als so schwer zu erreichenden Mentalitätswechsel in den Schulen an: "Wenn eine Kollegin zur anderen sagt: ,Du kriegst den Peter, du tust mir jetzt schon leid!', dann ist das hinsichtlich einer objektiven Beurteilung nicht gerade förderlich." Stattdessen müsse eine Anerkennungskultur entwickelt werden.

Seit etwa Anfang der 70er Jahre gebe es in Deutschland eine empirische Notenkritik, die Fragen nach Objektivität und Transparenz der Kriterien stelle. "Es ist erwiesen, dass Noten geschlechtsspezifisch vergeben werden und über den Klassenrahmen hinaus schon nicht mehr vergleichbar sind", so die Wissenschaftlerin.

Die Leistungsbeurteilung solle von Anfang an im Dialog mit den Lernenden entwickelt werden. Wichtig sei es, nach Grundkompetenzen und Weiterentwicklungen zu schauen: "Einem Schüler zu sagen: ,Super, du hast dich von 60 auf 20 Fehler verbessert!' und ihm dann die Fünf zu geben, stärkt das Selbstvertrauen des Kindes nicht", stellt Silvia-Iris Beutel fest. "Selbstvertrauen können die Schülerinnen und Schüler nur entwickeln, wenn die Lernenden unterstützt werden, über ihr eigenes Lernen nachzudenken und Schwächen nicht als selbstwertmindernd zu empfinden. Kinder müssen lernen, mit Fehlern umzugehen, aus ihnen zu lernen und Fehlerängste zu bewältigen."

Lehrerteams machen Leistungsbewertung transparent

Für eine andere Kultur der Leistungsbeurteilung sei es nötig, sich am Kompetenzbegriff zu orientieren und demzufolge einen erweiterten Lernbegriff zugrunde zu legen. Der Lernfortschritt müsse prozessorientiert überprüft werden, auch in bewertungsfreien Lernphasen. Es gelte nicht nur, die Ergebnisse der Lerntätigkeit zu überprüfen. Die Vergleichbarkeit und Transparenz der Leistungsanforderungen und der Bewertungskriterien müssten gesichert werden. Dazu seien kleinere Jahrgangslehrerteams geeignet, um die Leistungsbeurteilung einander anzunähern. Leistungsbeurteilung müsse auch zu einer Aufgabe für Schülerinnen und Schüler werden. Auf der Metaebene könne man dies durch Portfolios erreichen, bei denen die Kinder und Jugendlichen ihren Lernweg reflektieren.

"Bei Berichtsbeurteilungen muss man eine bezugsnormdifferenzierte Rückmeldung anstreben - soziale, sachliche und individuelle Aspekte", so die Erziehungswissenschaftlerin. "Man sollte situationsnahe Unterrichtsbeschreibungen und Zeitformen als Differenzierungsmöglichkeiten nutzen: Was ist gewesen, was ist, wie sind die Aussichten?" Lehrerinnen und Lehrer sollten lernförderliche Hinweise geben, die nächsten Lernschritte formulieren und klarstellen, was sie selbst dazu beitragen können.

Aus dem Plenum wurden Einwände laut, dass für solche ausführliche Leistungsbeurteilungen die Zeit oder auch schlicht der Überblick über die Schülerinnen und Schüler fehle, die man mitunter nur ein Schuljahr unterrichte. "Als Einzelkämpfer ist das auch schwer vorstellbar", gab ein Teilnehmer zu bedenken, "aber wenn man sein Team als Ressource begreift und mit ihm die Verantwortung teilt, kann man die Schülerinnen und Schüler gemeinsam beurteilen." An Falko Peschels Beitrag anknüpfend, erklärte Silvia-Iris Beutel: "Durch Öffnung des Frontalunterrichts schaffen sich die Lehrerinnen und Lehrer Zeitressourcen."

Verständnis und Engagement für die Demokratie entwickeln

Wie außerhalb der Schule Partizipation und aktive Beteiligung von Sieben- bis 14-Jährigen gefördert werden kann, stellten Sandra Schulz und Stefan Werner vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Thüringen vor: Das Projekt "Demokratie auf dem Acker" möchte Beteiligungsformen für Kinder im ländlichen Raum sichern. Das auf drei Jahre bis 2010 angelegte Projekt wird im Rahmen des Bundesprogramms "Vielfalt tut gut. Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie" gefördert.

"Wir möchten Kinder so früh wie möglich für die aktive Gestaltung des Gemeinwesens gewinnen und ihr Eigenengagement und ihre Eigenverantwortung stärken", so Sandra Schulz und Stefan Werner. Andersherum sollten auch die Kommunen für die Belange der Kinder sensibilisiert werden. In manchen Gemeinden seien kaum noch Kinder vorhanden und drohten als Minderheit vergessen zu werden. Einem Bürgermeister, dessen Gemeinde an dem Projekt teilnahm, sei auch daran gelegen gewesen, dass die Kinder ihren Ort in guter Erinnerung behalten sollten.

In den teilnehmenden Kommunen Thüringens zum Beispiel in Pößneck, Hermsdorf und Stadtroda bilden sich Kinderräte. Dort werden Kinderhaushalte aufgestellt, in denen die Mittel fließen, die für den Kinder- und Jugendbereich einer Kommune relevant sind und auf die Kinder Einfluss nehmen können. In einem Kinderdorf lernen die Kinder über mehrere Tage, wie demokratische Strukturen funktionieren: Sie können wählen, können sich wählen lassen und Verantwortung für bestimmte Bereiche übernehmen. "Wir wollen Verständnis und Engagement für Demokratie, demokratische Strukturen und Prozesse und ihre manchmal mühsame Entwicklung fördern", so die beiden Referenten. Nach drei Jahren Laufzeit sollen die einzelnen Bausteine so etabliert sein, dass sie vor Ort weitergeführt werden können. Die Kinderräte sollen als Beteiligungsform dauerhaft etabliert werden.

Die nächste Thüringer Sommerakademie wird sich voraussichtlich mit dem Thema "Individuelle Förderung" befassen. Für die 4. Veranstaltung zog Christine Wolfer, Leiterin der Serviceakademie "Ganztägig lernen" Thüringen, eine positive Bilanz: "Wir haben registriert, dass es im Bereich selbstgesteuertes Lernen und Mitbestimmung am Unterricht einen immensen Fortbildungsbedarf gibt", so die Diplom-Sozialpädagogin über die Thematik der Veranstaltung. Mit dem lockeren Rahmen vieler offener Gesprächsrunden im "Lerndorf" habe man Form und Inhalt einander annähern wollen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nutzten dies und bildeten schon mal kleine Gesprächskreise auf dem Flur.

Die Übernahme von Artikeln und Interviews - auch auszugsweise und/oder bei Nennung der Quelle - ist nur nach Zustimmung der Online-Redaktion erlaubt. Wir bitten um folgende Zitierweise: Autor/in: Artikelüberschrift. Datum. In: https://www.ganztagsschulen.org/xxx. Datum des Zugriffs: 00.00.0000