Mit Zeit und Bewegung zur Motivation: Lindenhofschule Halver : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Die Lindenhofschule im sauerländischen Halver möchte ihre Schülerinnen und Schüler ermutigen, eigene Entscheidungen zu treffen, Standpunkte zu vertreten und ihr Lernverhalten zu reflektieren.
"Wenn ich nur darf, wenn ich soll
aber nie kann, wenn ich will,
dann mag ich auch nicht, wenn ich muss.
Wenn ich aber darf, wenn ich will,
dann mag ich auch, wenn ich soll,
dann kann ich auch, wenn ich muss.
Denn schließlich:
Die können sollen, müssen wollen dürfen."

Der kleine Tim steht auf. Rund 20 Augenpaare sind auf ihn gerichtet. "Ich habe heute nicht so gut gearbeitet", sagt er. "Ich habe zwei Vogelpaare geschafft und eine Seite Lesen, aber ich habe heute das Blitzrechnen nicht gemacht. Für die Hausaufgaben nehme ich mir das Blitzrechnen vor und noch eine Seite Rechnen im Heft." Als nächstes ist Lisa an der Reihe. Sie sagt selbstbewusst: "Ich habe heute gut gearbeitet. Ich habe drei Seiten gelesen und die Blitzrechenaufgaben gelöst. Für heute Nachmittag nehme ich mir vor, mit den Schreibübungen weiterzumachen."
Es ist eine Revolution im Klassenzimmer, zumindest für diejenigen, die seit Jahren keine Grundschule wie die Lindenhofschule in der sauerländischen Kleinstadt Halver betreten haben. Die Klassenzimmer hier haben nichts mehr mit denen des Kaiserreiches zu tun, die bis heute überwiegend das Bild in deutschen Schulen prägen. Statt den auf eine Tafel ausgerichteten Sitzreihen, vor denen eine Lehrperson wie in einer Universität dozierend vor den Kindern steht, ist der Raum absolut ungeometrisch, im Gegenteil geradezu verwinkelt eingerichtet. Zweier- und Vierertische stehen im Raum oder an Schrankrückwänden, Tische mit Bastel- und Lernmaterialien in jeder Ecke oder auch mitten im Raum. Computer stehen an den Wänden, Fächer und Ordner mit den Namen der Schülerinnen und Schüler sind in den Regalen zu finden. In einer Ecke der Klassenzimmer findet man das so genannte Podest, eine erhöhte mit Matten abgedeckte Stelle, auf die sich die Kinder zum Lernen zurückziehen können, so wie zum Beispiel ein Mädchen, das dort gerade in ein Buch versunken ist.
"Es ist phänomenal, was Kinder können"
Der zentrale Treffpunkt der Klasse ist der Sitzkreis - vier Bänke, die um einen flachen Tisch aufgestellt sind. Hier findet nicht nur der Morgenkreis statt, sondern auch der Tagesabschluss, bei welchem die Schülerinnen und Schüler bereits ab der 1. Klasse ihr Arbeitspensum des Tages resümieren und Ziele formulieren, die sie mit den Hausaufgaben erreichen möchten. In der Lindenhofschule lernen die I-Dötzchen diese Art der Reflexion schon von Anfang an.
"Es ist phänomenal, was die Kinder alles können", meint Miriam Wingels. Sie ist Klassenlehrerin der altersgemischten Gruppe, in der die Klassen eins bis drei gemeinsam lernen. Zu Beginn einer Woche erhalten die Kinder das Thema und die Aufgaben gestellt. Dann müssen sie selbst entscheiden, welche Aufgaben sie wann bearbeiten und wie sie die vorgegebenen Ziele innerhalb der Woche erreichen. Dazu können sie alleine oder in der Gruppe arbeiten und sich aller zur Verfügung stehenden Hilfsmittel inklusive des Internets bedienen. Die Lehrerin beobachtet als Lernbegleiterin die Fortschritte der Kinder oder steht bei Problemen helfend zur Seite. In der Zwischenzeit helfen kleine Tests, den Wissensstand der Schülerinnen und Schüler zu dokumentieren und auch für die Eltern einsehbar zu präsentieren. Die Ergebnisse der Kinder werden in einem Portfolio, einem Lerntagebuch, festgehalten, in das sie auch kleine Referate und Arbeiten, die sie für sehr gelungen halten, abheften können.

Für Beate Segieth ist diese Art des selbstständigen und selbstverantwortlichen Lernens nur folgerichtig. "Wir müssen diesen natürlichen Trieb, wissen zu wollen, ausnutzen. Früher mag eine Schule, die das selbstständige Denken der Schüler eher verhindert hat, ausgereicht haben, aber für die Anforderungen der heutigen Gesellschaft genügt es eben nicht mehr. Heute sind Schlüsselqualifikationen wie Selbstständigkeit, Teamfähigkeit und Zielstrebigkeit gefragt", meint die Schulleiterin, die seit 1973 Lehrerin ist und die Lindenhofschule seit 2000 leitet. Ihre Erfahrung ist, dass Frontalunterricht, der die Kinder in ein "Korsett presst" und "an den Kindern vorbeiunterrichtet", das Schulversagen fördert, während freie Unterrichtsformen die Entfaltung der Kinder als wissbegierige Persönlichkeiten unterstützen.
Ein schleichender Prozess
Der Frontalunterricht ist laut Beate Segieth überhaupt nicht mehr in der Lage, Lernen zu gewährleisten. Die Voraussetzungen, die Schülerinnen und Schüler heute in die Grundschule mitbringen, sind einfach zu unterschiedlich und haben sich insgesamt verschlechtert. "Es ist ein schleichender Prozess, der sich über viele Jahre hinzieht: Wir haben an unseren Schulanfängern beobachtet, dass immer häufiger motorische Fähigkeiten fehlen. Die Kinder konnten keinen Stift oder eine Schere in die Hand nehmen oder sich nur in Trippelschritten vorwärts bewegen", berichtet die Pädagogin. Dazu kommt, dass immer mehr Kinder als verhaltensauffällig gelten müssen: Sie können sich nicht konzentrieren, verweigern sich völlig. "70 Prozent der Kinder haben in irgendeiner Form Probleme", schätzt die Schulleiterin.
Bereits 1989 begann die Lindenhofschule daher nach und nach, die Unterrichtsformen zu verändern, weil "alle Kinder zusammen einfach nicht mehr unterrichtet werden konnten", wie sich Beate Segieth erinnert. Damit einher ging eine Verlängerung des Schultages. Erst bot die Grundschule die Betreuung bis 13 Uhr, später dann bis 14 Uhr an. Eine Umfrage der Stadt ergab 2003, dass auch der Bedarf nach einer Ganztagsschule bestand - "was uns überrascht hat", wie die Lehrerin einräumt. Für die Schule war klar, dass man diesen letzten Schritt der Erweiterung des Schultages um zwei weitere Stunden auch noch gehen wollte. "Für uns war das kein so großer Schritt wie vielleicht für andere Schulen, die alles aus dem Boden stampfen mussten", erinnert sich die Pädagogin, "denn es waren schon Räume und die Keimzelle der Betreuung vorhanden."
Das Votum im Kollegium fiel einstimmig aus, sodass der Betrieb der offenen Ganztagsschule mit dem Schuljahr 2004 startete. Träger des Ganztags wurde die Stadt Halver. Die Kommune beantragte Mittel aus dem Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" (IZBB) des Bundes, um Räume für den Ganztagsbereich umzubauen und die Klassenräume mit schalldämpfenden Akustikdecken zu versehen. Insgesamt 80.000 Euro wurden so verbaut. Auch neues Mobiliar wurde angeschafft. "Die Kinder sollen an der guten Ausstattung sehen, dass sie uns etwas wert sind", erklärt Beate Segieth.
Freiwilliges Engagement der Lehrerinnen am Nachmittag
Im ersten Jahr starteten 25 Kinder im Ganztag, im zweiten Jahr konnten mit 40 Schülerinnen und Schülern schon zwei Gruppen gebildet werden. Von den rund 285 Schülerinnen und Schülern besuchen derzeit rund 50 den offenen Ganztag. Neben zwölf Lehrerinnen, Lehramtsanwärterinnen und Praktikantinnen arbeitet auch eine Sozialpädagogin mit, die für zwei Schulen zuständig ist. Die Personaldecke ist dünn, aber durch unentgeltliche Arbeit der Lehrerinnen im Nachmittag läuft der Schulbetrieb reibungslos. Nebenbei sorgt dieses Engagement auch für eine personelle Verzahnung von Vor- und Nachmittag.
Nach dem Unterricht am Vormittag finden sich die Kinder zum Mittagessen in der ehemaligen Schulküche ein. Dort bereitet Claudia Dossow, eine bei der Stadt angestellte Köchin, das Essen jeden Tag frisch zu: Mit Hilfe der IZBB-Mittel hat man einen Dampfgarherd angeschafft. Einmal die Woche gibt es Fisch, zweimal die Woche Fleisch, an zwei Tagen fleischloses Essen. Damit die Kinder einen Bezug zum Essen herstellen - auch dieser Aspekt ist in vielen Familien verloren gegangen - stellt die Köchin oft die zu verarbeitenden Lebensmittel aus. An diesem Tag stehen beispielsweise Schüsseln mit Kohlrabiköpfen auf der Fensterbank. In großen Kochtöpfen brodelt ein Erbseneintopf. Laut Beate Segieth käme ein Caterer die Schule nicht viel preisgünstiger als die Köchin, zumal diese sehr gut mit dem ihr anvertrauten Budget umzugehen weiß: "Ich schaue immer, wo es Angebote gibt." So komme sie mit 700 Euro im Monat, Stromkosten inklusive, aus. Die Eltern zahlen monatlich 50 Euro Essensgeld.

Nach dem Mittagessen, das in drei Schichten eingenommen wird, da die jüngeren Schülerinnen und Schüler eher Schulschluss haben als die älteren, die dann noch ihren Fachunterricht besuchen, gehen die Kinder in die Hausaufgabenbetreuung. In einem eigens dafür eingerichteten Raum sitzen die Schülerinnen und Schüler an Einzeltischen und brüten über ihren Heften. Zwei Mütter gehen umher und haken ein, wenn ein Kind Probleme hat. Um die Kinder mit größeren Lernschwierigkeiten kümmert sich die Lehrerin Annette Stähler als Förderlehrerin gesondert. In einer Kleingruppe sitzen an diesem Tag fünf Schüler an einem Tisch, die Lehrerin hilft jedem einzelnen. "Zwei dieser Schüler waren zu Schulbeginn so verhaltensauffällig, dass wir Sorge hatten, ob sie überhaupt an unserer Schule verbleiben könnten. Der Wechsel zu einer Förderschule stand zur Diskussion," erläuterte Beate Segieth. "Die Jungen saßen während des Unterrichts buchstäblich unter dem Tisch und verweigerten sich total. Es ging erst mal überhaupt nichts!"
Geringere Zahl leistungsschwächerer Kinder
An der Lindenhofschule hat man aber die Zeit, sich diesen Kindern direkt zuzuwenden und sie zu fördern. Das ist überhaupt das Erfolgsrezept, findet die Schulleiterin: "Mehr Zeit zu haben, ist das Wichtigste. Für viele Kinder nimmt sich kaum noch jemand Zeit - die Eltern arbeiten, am Nachmittag hängen die Schüler dann vor dem Fernseher, da muss man sich doch keine Illusionen machen." Viele Lernmethoden habe die Schule auch vor der Ganztagsschule angewendet, doch jetzt könne man noch viel konsequenter fördern, weil die Zeit dafür vorhanden sei. "Diese eine Stunde mache ich eigentlich am liebsten", berichtet Annette Stähler, "denn hier kann man wirklich was reißen."
Zieht man die Vergleichsarbeiten des Landes als Maßstab heran, dann stechen die Schülerleistungen der Lindenhofschule nicht heraus, sondern befinden sich leistungsmäßig im Mittelfeld. Aber die Zahl der leistungsschwachen Kinder ist signifikant niedriger - und gerade deren Abhängen im deutschen Bildungssystem haben die PISA-Studien besonders kritisiert. "Unsere Schülerinnen und Schüler sind motivierter, selbstständiger, zielstrebiger. Sie merken, dass sie was leisten können", beschreibt Beate Segieth das Ergebnis der Mischung aus individualisiertem Unterricht und individueller Förderung.
Wesentlich zum erfolgreichen Lernen und der entspannten Atmosphäre trägt auch das Bewegungskonzept der Schule bei. Die Schülerinnen und Schüler dürfen sich zu jeder Zeit bewegen, auch den eigenen Klassenraum verlassen und in Nachbarklassen gehen. Die Türen stehen überall auf. An jedem Tag gehen die Kinder für eine Bewegungsstunde in die direkt ans Gebäude anschließende Turnhalle, um dort Geschicklichkeitsübungen zu absolvieren, zu klettern und zu balancieren. Auch in den Pausen steht die Halle den Kindern offen, ebenso gibt es die Möglichkeit, auf dem Schulhof auf Klettergeräten zu spielen. Die Schülerinnen und Schüler können so auch ihren natürlichen Bewegungsdrang ausleben - Zappelphilippe, die sechs Stunden stillsitzen müssen, gibt es hier nicht. "Hier geht auch niemand über Tische und Bänke - die Kinder begreifen sehr schnell, was sie dürfen und was nicht und merken, dass man auf sie eingeht", so die Schulleiterin. Man verzichtet auch auf eine Schulklingel.
Mischung in den Angeboten, Kontinuität beim Personal
Bewegung und Sportangebote sind auch im Nachmittagsbereich wichtig, daher hat die Lindenhofschule einen örtlichen Sportverein als Kooperationspartner gewonnen. Es gibt eine Schwimmstunde und einen Fitnesskurs für Kinder mit motorischen Problemen. Ein weiteres Standbein am Nachmittag sind die Angebote einer Kunsttherapeutin - "eine gute Ergänzung zu den kognitiven Aufgaben und den Bewegungsangeboten", meint Beate Segieth. Aber auch das freie Spiel sei wichtig, man dürfe nicht den kompletten Tag der Kinder verplanen. Bevor die Schülerinnen und Schüler die Angebote wählen, können sie in diesen hospitieren, um zu sehen, ob diese zu ihnen passen. Die Lehrerinnen und Pädagogen achten dabei schon darauf, dass "die Mischung stimmt" und die Kinder möglichst von verschiedenen Angeboten etwas mitbekommen.
Inzwischen gibt es auch im Nachmittagsbereich eine personelle Kontinuität. "Wir haben zu Beginn mit 400 Euro-Kräften, die für zwei Stunden am Tag kamen, gearbeitet. Dieser ständige Wechsel im Personal war für die Kinder aber nicht gut. Jetzt sind die Bezugspersonen bei der Betreuung, dem Sport, der Hausaufgabenhilfe und der Kunst immer dieselben", so die Schulleiterin. Renate Thormann, die Leiterin des Ganztags, nimmt an den Lehrerkonferenzen teil und sitzt in der Schulkonferenz. Jeden Tag klärt sie vor Dienstbeginn mit der Schulleiterin, ob es etwas Besonderes gegeben hat. Der Austausch zwischen dem Personal ist durch wöchentliche Sitzungen stets gegeben.
Mit der Ganztagsschule hat sich nicht nur die Schule für außerschulisches Personal geöffnet und den Schritt zu jahrgangsgemischtem Unterricht gewagt, der demnächst konsequent mit dem gemeinsamen Lernen der Klassen eins bis vier ausgebaut werden soll. Die Schule öffnet sich auch für die Umwelt: Die Kinder besuchen örtliche Einzelhändler und Handwerker, das Heimatmuseum, die Bücherei, den Bürgermeister, das Theater in Lüdenscheid oder das Freilichtmuseum in Hagen. Im Gegenzug kommt zum Beispiel der Leiter der Musikschule in die Schule und stellt Musikinstrumente vor. Die Ferienbetreuung findet fast ausschließlich außerhalb der Schulmauern statt: Die Kinder sind im Wald, auf Bauerhöfen, im Freibad oder im Zoo.
Eine Couch für das Lehrerzimmer
Für die Lehrerinnen hat sich mit der Ganztagsschule auch die Arbeitszeit verändert. Viele empfinden es als angenehm, nicht zu Hause arbeiten zu müssen. "Wenn ich die Schule verlasse, habe ich meine Arbeit getan", formuliert es Miriam Wingels. Auch die Arbeit im Team, die mehr Ideen hervorbringe, wird begrüßt. "Das Burn out-Syndrom ist eine Folge des Unterrichtsstresses. Den gibt es bei uns aber nicht, die Atmosphäre ist sehr angenehm", meint Beate Segieth. "Es ist schon der Wunsch nach einer Couch für das Lehrerzimmer geäußert worden."
Für die Zukunft wünscht sich die Schulleiterin eine bessere Einbindung der Eltern, eine größere Öffentlichkeit für die Aktivitäten der Ganztagskinder und eine noch engere Verzahnung von Vor- und Nachmittag; die ganztägig rhythmisierte Form empfindet sie als optimal. Auch hofft sie, dass die Lindenhofschule nicht wieder ab Klasse zwei Noten geben muss. Bislang gibt es bis einschließlich Klasse drei ein Berichtszeugnis, erst in der vierten Klasse werden Noten erteilt - selbst das ist Beate Segieth noch zu viel. "Die Noten sind schädlich - die Lerninhalte treten bei den Kindern auf einmal völlig hinter diesen Zahlen zurück - alles dreht sich nur noch um Zensuren. Hat ein Kind erst mal zwei "Fünfen" hintereinander kassiert, ist es nicht mehr zu motivieren." Und an fehlender Motivation soll an der Lindenhofschule in Halver kein Kind scheitern müssen.
Kategorien: Ganztag vor Ort - Lernkultur und Unterrichtsentwicklung
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