"Mischen" possible!? – in Schule und Sozialraum : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Was braucht eine Schule, die alle Kinder und Jugendlichen aufnimmt? Wie kann Inklusion gelingen? Das Form Sozialraum des Evangelischen Erziehungsverbandes mit dem Titel "Mischen possible!? – Inklusion im Sozialraum" widmete sich vom 27. bis 29. November 2013 in Eisenach besonders dem Thema Inklusion aus der Perspektive der Jugendhilfeträger.

Folgt man sozialräumlichen Theorien, ist die inklusive Beschulung aller Kinder eine konsequente Schlussfolgerung – aber zugleich eine immense Herausforderung an die Schulen, die Jugendhilfe, die Kommunen, die Lehrkräfte, die schulischen und außerschulischen Pädagoginnen und Pädagogen. Das Spannungsfeld zwischen pädagogischen Wünschen, rechtlichen Vorgaben und den Realitäten vor Ort untersuchte das Forum Sozialraum des Evangelischen Erziehungsverbandes (EREV) vom 27. bis 29. November 2013 in Eisenach.

In der Tagungsstätte Haus Hainstein kamen rund 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, hauptsächlich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus der Jugendhilfe und auch einige Schulsozialarbeiter zusammen, um zu diskutieren, wie gute Lernorte für Kinder und Jugendliche aussehen. Was braucht eine Schule, die alle Kinder und Jugendlichen aufnimmt? Wie können Bildung und Teilhabe für alle Kinder angesichts unterschiedlicher Ausgangsbedingungen gesichert werden? Verschiedene Referate mit Diskussionen, moderierte Arbeitsgruppen und Workshops ermöglichten eine vertiefende Auseinandersetzung mit diesen Themen.

Carola Hahne, zweite stellvertretende Vorsitzende des EREV und Leiterin der Diakonischen Heime in Kästorf, erklärte im Gespräch mit der Online-Redaktion: „Wir wollen in diesem Forum keine Gründe gegen Inklusion, sondern Lösungen für die Wege finden.“ Schon während der Veranstaltung wurde indes deutlich, dass sich die handelnden Personen, die Inklusion anstreben, an Strukturen oft „die Zähne ausbeißen“. Als konkretes Beispiel konnte Carola Hahne die eigenen Schulen anführen: „Wir sind in Kästorf Träger von Förderschulen im Bereich Emotionale und soziale Entwicklung – und an einer Regelschule haben wir nur mit Extra-Räumen andocken können. Man könnte meinen, dass unsere Kinder niemand haben will.“

„Wir brauchen eine flammende Idee“

In Niedersachsen mache ein Begriff wie „Durchgangsschulen“ die Runde – nicht mehr ganz Förderschule, aber auch noch keine inklusive Regelschule. „In vielen Kommunen gibt es nur befristete Projekte im Bereich der Inklusion“, so Hahne. „ Die Strukturen in den Kommunen und in den Ländern, parallele Zuständigkeiten führen oft zu Passivität. Innovative Ideen entstehen nur dann, wenn bestimmte Personen in der Verwaltung dafür brennen. Bisher ist die Inklusion auf dem Rechtsweg von oben verordnet worden, aber es fehlen entsprechende Räumlichkeiten und besonders eine entsprechende Haltung. Und wir brauchen vor allem die flammende Idee, die vermittelt, dass in Unterschiedlichkeit mehr gelernt wird.“

Alle Beteiligten im Forum waren sich einig, dass Geduld gefragt ist und diese Prozesse Zeit benötigen. Dennoch wurde Unverständnis darüber geäußert, dass sich manche Verantwortliche wie der Vogel Strauß verhielten und „nichts in die Wege leiteten“, was zu inklusiven Bildungslandschaften führe. Auch forderten einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer, dass Verbände wie der EREV ihre Stimme gegenüber Politik und Gesellschaft noch lauter erheben müssten.

Deutlich wurde, dass selbst in Kommunen, die in Sachen Inklusion als „Vorzeigebeispiele“ gehandelt werden, die Arbeit teilweise auf Improvisation und Absprachen unter der Hand beruht und das Erreichte aufgrund der finanziellen Situation bedroht ist. „Was frustriert, ist das Gefühl, in einer permanenten rechtlichen Grauzone zu operieren“, meinte eine Teilnehmerin.

Wilhelmshaven: Netzwerk Schulsozialarbeit

Jörg Ratzmann, der Koordinator Fachdienst Schulische Sozialarbeit des Jugendamtes in Wilhelmshaven, sprach in seinem Vortrag vom „Bermudadreieick“ in der Verantwortungsgemeinschaft von Schule und Jugendamt. Wilhelmshaven ist eine kreisfreie Stadt in Niedersachsen mit rund 80.000 Einwohnern, davon ca. 12.000 Kinder und Jugendliche. Das Jugendamt finanziert rund 700 Hilfen zur Erziehung.

Das von der Stadt erkannte Problem formulierte Ratzmann so: „Am Ende eines Weges landen die Kinder und Jugendlichen in der Jugendhilfe – und die Kosten damit bei der Kommune.“ Verantwortlich dafür seien unter anderem parallele Strukturen, eine Abgrenzungsmentalität zwischen Schule und Jugendhilfe, kein gemeinsames Bildungsverständnis, ein fehlender strukturierter Dialog, ein Verantwortungsdschungel. Alles münde in einen „Problemverschiebebahnhof“. Währenddessen steige die Schülerzahl in den Förderschulen unaufhörlich – und damit auch die Kosten.

„Um diesem Zustand etwas entgegenzusetzen, haben wir in Wilhelmshaven eine aktive Verantwortungsgemeinschaft begründet, um alle jungen Menschen zu einem Schulabschluss zu begleiten“, berichtete der Fachdienstleiter. Das Netzwerk Schulsozialarbeit wurde gebildet: Neben dem Fachdienst Schulische Sozialarbeit im Jugendamt vernetzten sich hier die Schulsozialarbeit in der Sekundarstufe I, die sonderpädagogische Grundversorgung an Grundschulen, die Landesschulbehörde, die Hausaufgabenprojekte, Schulprojekte wie Sozialtraining und Trainingsräume, die Schulsozialarbeit an Grundschulen und das Team SUSI.

Erfolge durch das SUSI-Team

SUSI bedeutet „Systemische Unterstützung schulischer Integration“. Das präventive, schulische Projekt besteht aus drei Förderschullehrerinnen und zwei Sozialpädagoginnen beziehungsweise Sozialarbeiterinnen. Ziel des Teams SUSI ist es, gemeinsam mit allen Beteiligten Lösungen zu entwickeln, damit Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf im Bereich soziale und emotionale Entwicklung an ihrer Regelschule und im häuslichen Bereich eine gezielte Unterstützung erhalten. Das Angebot bezieht sich auf den gesamten Regelschulbereich der Stadt Wilhelmshaven, wobei die SUSI-Mitarbeiterinnen sowohl Lehrkräfte als auch Eltern beraten.

Etwa zu 75 Prozent wird ein Förderbedarf von der Schule initiiert, zu 25 Prozent von den Eltern. Nach einem Erstkontakt besprechen die SUSI-Mitarbeiterinnen den Fall, sichten die Akten, besprechen sich dann mit den Lehrkräften und den Eltern. Sie hospitieren daraufhin im Unterricht, beziehen weitere Helfer mit ein und absolvieren Hausbesuche. Zum Schluss setzen sich alle Beteiligten an einen Runden Tisch, um die Maßnahmen zu besprechen. „Die Kosten pro Kind belaufen sich auf 5.200 Euro“, erläuterte Ratzmann. „Im Vergleich dazu kostet ein Förderschulplatz 40.500 Euro jährlich.“

Das SUSI-Projekt ließ die Stadt Wilhelmshaven von der Diplom-Sozialwissenschaftlerin Denise Saßenroth von der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg evaluieren. Sie kam zum Fazit: „Wenn man sich die Ergebnisse im Bereich der Zielsetzungen anschaut, wird deutlich, dass sowohl das Primärziel ‚Verbleib an der Schule’ als auch das Ziel der Verhaltensbesserung in den meisten Fällen erreicht wurde.“

Wie verändern sich Einstellungen?

Seit 2005 hat Wilhelmshaven circa 1,2 Millionen Euro pro Jahr in den Aufbau von rund 20 Projekten investiert. „An allen Schulen wird inzwischen interdisziplinär gearbeitet. Schulen haben sich von einer Einrichtung der Wissensvermittlung zum ganzheitlichen Bildungsstandort entwickelt“, zählte Jörg Ratzmann auf. „Es wurden flächendeckende Ganztagsangebote mit pädagogischer Personalausstattung aufgebaut. Die Schulen sind integraler und aktiver Bestandteil und Netzwerkpartner im Sozialraum.“

Schulen und Jugendamt seien nun horizontal und vertikal vernetzt. Das Land trage seinen Teil der Verantwortung aktiv und kommunalisiere nicht weiter seine Pflichtaufgaben. Und es gebe eine gemeinsame Qualitätsentwicklung. „Unser Traum, der hinter all diesen Anstrengungen steckt, ist, dass jeder junge Mensch die Schule mit einem qualifizierten Abschluss verlässt“, schloss Ratzmann seine Ausführungen.

Während das Wilhelmshavener Beispiel das Thema Vernetzung und Ausstattung widerspiegelte, wandte sich Prof. Matthias von Saldern von der Leuphana Universität in Lüneburg dem Aspekt der Haltung zu. „Alle Erwachsenen haben bestimmte Einstellungen gelernt“, so der Schulpädagoge. „Die Frage ist: Kann man diese Einstellungen ändern, kann man umlernen?“ Um Vorurteile zu reduzieren, ist es laut dem Wissenschaftler wichtig, „Eigen- und Fremdgruppe“ in Kontakt zu bringen. Unterschiede sollten dabei zum Thema gemacht werden, ohne zu stigmatisieren. Herabwürdigungen, Abwertungen und Ausgrenzungen müssten wahrgenommen und sich ihnen widersetzt werden, ohne Relativierungen und Rechtfertigungen.

„Eine inklusive Infrastruktur im Gemeinwesen zu entwickeln, ist die Aufgabe der Kommune oder des Landkreises. Diese Aufgabe muss zusammen mit anderen Hilfeangeboten, Regeleinrichtungen, Bildungseinrichtungen, Stadtplanungsentwicklung, Wohnungsbau und Mitbürgern gelöst werden“, resümierte von Saldern.

 

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