Mecklenburg-Vorpommern: Inklusion ist möglich : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer versammelten sich zum „Praxistag Inklusion“ in Rostock. Sie wollten die aktuellen Pläne der Landesregierung erfahren und vor allem Praxiserfahrungen von Schulen kennenlernen.

„Warum Inklusion unmöglich ist“, hatte Bildungsminister Mathias Brodkorb auf dem ersten Inklusionskongress von Mecklenburg-Vorpommern 2012 sein Referat überschrieben – und sich damit, geschult an der Systemtheorie Niklas Luhmanns, sehr grundlegend mit der Frage auseinandergesetzt, was Inklusion für das bestehende Schulsystem bedeute. Zum Beispiel damit, dass Inklusion eine Aufgabe der Gesellschaft sei, die nicht allein Lehrerinnen und Lehrern überantwortet werden könne, und dass es einen „weiten“, „pragmatischen“ und einen „engen“, „radikalen“ Inklusionsbegriff gebe.

Im Januar 2012 hatte der Minister eine Expertenkommission mit Vertreterinnen und Vertretern aus Landtag, Wissenschaft, Schulleitungen und Schulaufsicht unter Leitung von Prof. Dr. Katja Koch von der Universität Rostock beauftragt, eine „Konzeption zur Gestaltung und schrittweise Umsetzung eines inklusiven Bildungssystems in Mecklenburg-Vorpommern bis 2020“ zu erarbeiten. Seit gut einem Jahr liegt das Konzept vor.

Brodkorb: „Inklusion ist Teilhabe im gesamten Leben“

Am 24. Mai 2014 luden das Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur und das Institut für Qualitätsentwicklung Mecklenburg-Vorpommern zum „Praxistag Inklusion“ in die Universität Rostock. Minister Mathias Brodkorb nahm in seinem Grußwort explizit Bezug auf seinen Vortrag von 2012, zumal das sich anschließende Hauptreferat von Thomas Höchst, Schulleiter der IGS Contwig, nunmehr den Titel „Inklusion ist möglich“ trug.

Brodkorb warnte erneut davor, Inklusion in der öffentlichen Diskussion zu verengen, nämlich auf den Bereich Schule: „Es geht um das Recht auf Teilhabe im gesamten Leben. Die Basis für diese Teilhabe ist ein erfolgreicher Schulabschluss. Inklusion muss daher vorrangig bedeuten, dass jedes Kind den bestmöglichen Schulabschluss erreicht.“

Für das Schuljahr 2014/15 kündigte der Minister an, dass aufgrund einer zentralen Empfehlung der Expertenkommission die Mittelzuweisung nicht länger auf der Basis diagnostischer Gutachten erfolgen werde. Statt der zeitaufwändigen, inflexiblen Antragsverfahren – die bei Expertinnen und Expertinnen auch international kritisch gesehen werden – soll künftig jede Schule eine sonderpädagogische Grundausstattung von etwa 80 Prozent der aktuellen Zuweisungen erhalten. 20 Prozent verblieben bei den Schulämtern für Einzelmaßnahmen.

„Die 80 Prozent sind fest und einplanbar“, betonte der Minister. 40 Grundschulen sollen jeweils eine zusätzliche Erzieherinnenstelle erhalten. 18 Millionen Euro investiere das Land in Weiterbildungsmaßnahmen zum Thema Inklusion in den Regionen. Dennoch: „Auch dieses Jahr sind große, kontroverse Debatten über Inklusion zu erwarten“, vermutet der Bildungsminister.

„Nehmen Sie sich Zeit!“

Grundsatzdiskussionen gibt es an der Integrierten Gesamtschule Contwig in Rheinland-Pfalz über dieses Thema nicht mehr. Schulleiter Thomas Höchst hielt unter der erwähnten Überschrift „Inklusion ist möglich“ ein Plädoyer für die Inklusion – ohne die Herausforderungen zu verschweigen. „Alle Schulen stellen insgesamt eine zunehmende Heterogenität in den Klassen fest“, erklärte Höchst. In einer Integrierten Gesamtschule sei das besonders spürbar – auch in der Zusammensetzung der Lehrerschaft.

Schüler auf dem Flur
© Britta Hüning

Die IGS Contwig entstand vor fünf Jahren aus einer Regionalen Schule und befindet sich noch im Aufbau. „Es war die Chance, eine Schule von Grund auf neu zu gestalten“, erinnerte sich der Schulleiter, die auch genutzt worden sei, Ganztagsklassen einzuführen. Hier ist es möglich, den Unterricht über den ganzen Tag zu verteilen, Phasen von An- und Entspannung wechseln zu lassen und mehr Förderung und soziales Miteinander zu ermöglichen. Von Montag bis Donnerstag gibt es keine Hausaufgaben, dafür zusätzliche acht Unterrichtsstunden pro Woche sowie Arbeitsgemeinschaften dienstags und donnerstags. 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler besuchen die Ganztagsklassen.

„Inklusion geht von der Besonderheit und den individuellen Bedürfnissen eines jeden Kindes aus. Uns wurde klar, als wir unser Konzept der inklusiven Unterrichtung verfassten, dass es nicht um Förder- und Regelschüler geht, sondern darum, wie wir allen Schülerinnen und Schülern gerecht werden können. Aus den vielen Einzelbemühungen muss ein roter Faden gesponnen werden – ein gemeinsames Konzept, das von allen mitgetragen wird und für alle verbindlich ist, aber zugleich der pädagogischen Freiheit der Lehrkräfte Rechnung trägt“, erklärte Höchst. „Mein Rat an die Schulen, die inklusiv arbeiten wollen: Werden Sie es nicht als ganze Schule komplett sofort, denn damit überfordern Sie sich. Nehmen Sie sich Zeit und lassen es lieber jahrgangsweise hochwachsen.“

Mittelweg zwischen innerer und äußerer Differenzierung

Ein Jahr habe die Arbeit am Konzept an der IGS Contwig gedauert. Es gab intensive Auseinandersetzungen mit dem Entwurf, und „es war wichtig, alle Ängste ernst zu nehmen und alle Beteiligten einzubinden und mitzunehmen – vom Personalrat über die Teams, die Steuergruppen bis zum Schulelternbeirat“. Inzwischen existieren an der Gesamtschule eine Fachkonferenz Inklusion und eine Projektgruppe Inklusion. Jede Förderlehrkraft ist Tutor einer Klasse – die klassische Rollenverteilung Förderlehrkraft und Regellehrkraft sucht man an der IGS Contwig vergebens.

Die Inklusion braucht Höchst zufolge Teambildung. „Ohne die wird es nichts – und auf Dauer wird es alle Beteiligten entlasten. Jede Lehrkraft ist für jedes Kind zuständig, sämtliche Ebenen treffen sich, und alle 14 Tage finden Teamsitzungen statt.“ Im Unterricht gelte das Prinzip der Arbeit am gemeinsamen Gegenstand: „Alle machen das Gleiche, aber nicht dasselbe.“ Die Unterrichtsformen müssten differenziert werden, wobei auch äußere Differenzierung gewinnbringend sei. Es gelte, den Mittelweg zwischen innerer und äußerer Differenzierung zu finden.

Statt des klassischen Elterntagsprechtags finden an der IGS Contwig Schüler-Eltern-Lehrer-Gespräche statt, die mindestens eine halbe Stunde dauern und an deren Ende die Partner gemeinsame Zielvereinbarungen formulieren. „99 Prozent der Eltern kommen zu diesen Gesprächen, die von unseren Kolleginnen und Kollegen lange vorbereitet werden“, vermeldete Thomas Höchst.

„Wir haben fast alle zur Berufsreife geführt“

Auch an der Regionalen Schule Waren/West ist das integrative Lehren und Lernen mit einem „hohen zeitlichen Aufwand“ verbunden, wie Schulleiterin Sylvia Hänsel am Nachmittag im Workshop „Erfahrungen aus 20 Jahren integrativer Beschulung im Gemeinsamen Unterricht“ berichtete. Um sich in den neunziger Jahren auf den Gemeinsamen Unterricht vorzubereiten, habe das Kollegium an vielen Schulen hospitiert. Misst man den Erfolg der integrativen Bemühungen an den Schulabschlüssen der Jugendlichen, so arbeiten Sylvia Hänsel und ihr Kollegium sehr erfolgreich: „Zur Berufsreife haben wir in all den Jahren bis auf zwei alle Schülerinnen und Schüler geführt, die Mehrheit hat die Mittlere Reife erhalten.“

Von den rund 400 Schülerinnen und Schülern weisen derzeit sechs Prozent einen sonderpädagogischen Förderbedarf auf. In den Klassen 5 und 6 bietet die Schule eine zusätzliche Förderung in Mathematik und Englisch an. Parallel zum Unterricht findet individuelle sonderpädagogische Förderung statt. Durch Zweitlehrereinsatz könne im Teilungsunterricht das zieldifferente Lernen besser umgesetzt werden, wobei „neuer Stoff für alle Schülerinnen und Schüler erstmal im Frontalunterricht vermittelt“ werde, berichtete Schulleiterin Hänsel.

Teambesprechung: die „kleine Supervision für die Lehrer“

Das Gymnasiale Schulzentrum „Fritz Reuter“ Dömitz hat sich die „Inklusive Schule“ auf die Fahnen geschrieben, konzipiert und organisiert durch ein Netzwerk: die Koordinatorin für den Gemeinsamen Unterricht, eine Schulsozialarbeiterin, die Schulleitung, das Team Fortbildung sind darin ebenso vertreten wie der Diagnostische Dienst, der Schulpsychologische Dienst, das Jugendamt, die Teamleiterinnen und -leiter der Jahrgangsstufen. Christine Förstenberg, die GU-Koordinatorin, erstellt zusammen mit den Klassenlehrern die Förderpläne. Die Schulsozialarbeiterin führt Projekte durch, vermittelt Entspannungstechniken und Zeitmanagement in den Klassen, führt Gespräche oder hilft beim Konfliktmanagement. „Sie ist als Person an der Schule bekannt und wird von vielen Eltern aufgesucht“, berichtete Schulleiterin Evelin Timmermann.

Gruppenfoto mit Schülerinnen und Schülern
© Britta Hüning

Jeden Montag in der 5. Stunde findet „die kleine Supervision für die Lehrer“ statt, wie die obligatorische Teambesprechung zwischen Klassenleitungen und Teamleitungen an der Schule genannt wird. Die Teamleitungen – die Projekte, Exkursionen und Fahrten, das Methodentraining an Projekttagen, Gesprächsrunden und Jahrgangskonferenzen organisieren, aber auch individuelle Beratung für Klassen- und Fachlehrer anbieten – besprechen sich hier mit den Lehrkräften. „Würde man sich in der Teambesprechung nicht begegnen, gäbe es nur Tür- und Angel-Gespräche“, meinte Evelin Timmermann.

Bei allen Herausforderungen und Problemen, die benannt wurden – beispielsweise der fehlende kontinuierliche Einsatz von Sonderpädagogen oder zu wenig sonderpädagogische Fortbildungsangebote – zeigte der Praxistag, dass Inklusion mit einer gemeinsamen Überzeugung, viel Arbeit und einem stringenten Konzept in der Tat möglich ist. Das bestätigte auch Dirk Kollhoff¬ von der Serviceagentur „Ganztägig lernen“, der das Netzwerk „Heterogenität und Inklusion in der Ganztagsschule“ vorstellte, zu dem das Schulzentrum „Fritz Reuter“ gehört.

Zu den Ganztagsschulen, die aus ihrer Praxis berichteten, gehörten außerdem die Regionale Schule Garz, der Schulcampus Evershagen, das Schulzentrum „Paul Friedrich Scheel“ Rostock, die Ernst-von Haselberg-Schule Stralsund, die Regionale Schule „Caspar David Friedrich“ Greifswald und die Grundschule „Am Rugard“ Bergen.

 

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