Lernen im Ganztag – geht das auch ohne Hausaufgaben? : Datum: Autor: Autor/in: Claudia Pittelkow

In Hamburg bieten Schul- und Sozialbehörde regelmäßig gemeinsame Veranstaltungen für Ganztags-Beteiligte an. Beim „Tandem-Workshop“ zum Thema Lernzeiten tauschen Leitungskräfte aus Schulen und der dazugehörigen Kooperationspartner Erfahrungen aus.

Seit der flächendeckenden Einführung der Ganztagsschulen in Hamburg gibt es kaum ein anderes Thema, das so konfliktgeladen ist wie das Thema Hausaufgaben. „Hausaufgaben haben eine lange Tradition in deutschen Schulen und sind mit vielen Erwartungen an ihre vermeintliche Wirksamkeit befrachtet. Sie in Frage zu stellen, löst emotional aufgeheizte Diskussionen aus“, sagt Detlef Peglow vom Ganztagsreferat in der Hamburger Schulbehörde.

Lernen im Ganztag
© Claudia Pittelkow

Es gibt Eltern, die ihre Kinder zur Ganztagsschule schicken, um das Konfliktfeld Hausaufgaben aus der familiären Situation zu entfernen und sich selbst zu entlasten. Ein verständlicher Wunsch, dem viele Schulen versuchen, entgegenzukommen. „Für die sozialpädagogischen Fachkräfte steht die Unterstützung des selbstbestimmten Lernens und die Gestaltung von freier Zeit im Vordergrund, auch hier liegt Konfliktpotenzial“, weiß Regina Raulfs vom Sozialpädagogischen Fortbildungszentrum (SPFZ) der Hamburger Sozialbehörde.

Nicht zu vergessen sind die Schülerinnen und Schüler, die ihre eigene Meinung dazu haben. Klar ist: Hausaufgaben sind ein Spannungsfeld aus ganz vielen Erwartungen. Wie gehen Hamburgs Grundschulen mit dieser Problematik um? Mit welchen Methoden wird gearbeitet, welche Schulentwicklungsprozesse werden in Gang gesetzt? Um den Ganztags-Beteiligten die Möglichkeit zum Austausch und gemeinsamer Entwicklung zu geben, haben Schul- und Sozialbehörde in der Vergangenheit eine Reihe so genannter Tandemveranstaltungen organisiert.

„Das hat sich bewährt“, sagt Diplom-Pädagogin Regina Raulfs. Die gemeinsam organisierten Veranstaltungen sollen deshalb fortgeführt werden. Auf dem bisher letzten Tandem-Workshop „Veränderungsprozesse einleiten, gestalten, erfolgreich umsetzen am Beispiel der Lernzeiten“ tauschten sich im Dezember rund 30 Schulleitungen, Ganztagskoordinatoren und Leitungen der Kooperationspartner über ihre Erfahrungen aus.

Für guten Ganztag gibt es kein Standardrezept

Vera Bacchi, renommierte Prozessbegleiterin für Ganztagsschulentwicklung in Hamburg und Schleswig-Holstein, sieht die Entwicklung nach der flächendeckenden Einführung des Ganztags an Hamburger Grundschulen vor rund vier Jahren als Pionierarbeit aller Beteiligten, denn keiner habe gewusst, wie guter Ganztag funktioniert. Bacchi: „Auch ich habe kein Standardrezept für Ganztag an Schulen, aber es gibt Erfahrungen und Erfolgsfaktoren.“

In vielen Ganztagsschulen heißen Hausaufgaben mittlerweile Lernzeiten. Doch eine Wortänderung allein bringe noch keine Veränderung, so Bacchi. Alle Ganztags-Beteiligten kennen dabei die Positionen der jeweils anderen zum Thema Hausaufgaben in- und auswendig. Und auch das wird deutlich: Das Thema Hausaufgaben ist ein Paradebeispiel für die sich wandelnden Anforderungen an das Lernen im Ganztag. In vielen Ganztagsschulen würden inzwischen abwechslungsreiche Übungs- und Trainingsformen als Ersatz für die „traditionellen“ Hausaufgaben erprobt, berichtet Ganztagsexpertin Vera Bacchi.

Lernzeiten
Vera Bacchi, Prozessbegleiterin für Ganztagsschulentwicklung in Hamburg und Schleswig-Holstein © Claudia Pittelkow

Lern- und Übungszeiten im Verlauf des Schulalltags machten die Kinder weitgehend unabhängig von der Hilfe der Eltern. Denn das sei ein wichtiges Kriterium für Chancengleichheit. Außerdem könnten sich die Schülerinnen und Schüler gegenseitig helfen, denn häufig würden die Erklärungen der Mitschüler besser verstanden als die der Erwachsenen. Bacchi: „Lern- und Übungszeiten müssen auch nicht unbedingt im Anschluss an das Mittagessen stattfinden, dann sind viele Kinder müde und möchten sich entspannen.“ Denkbar sei etwa eine Hausaufgabenstunde zu Beginn des Schultags, gleich um 8 Uhr morgens.

Best Practice: Grundschule Traberweg schafft Hausaufgaben ab

Selbstständigkeit und Eigenverantwortung – diese beiden Schlagworte waren für Jörg Behnken, Leiter der Grundschule Traberweg, ausschlaggebend für die Entscheidung, Hausaufgaben an seiner Schule ganz und gar zu streichen. Für die erste bis dritte Klasse wurde ein neues Nachmittagskonzept eingeführt: Die Grundschüler bekamen keine Hausaufgaben mehr auf, gleichzeitig entfielen die festen Hausaufgabenzeiten während der Ganztagsbetreuung am Nachmittag.

„In der Anfangszeit als Ganztagsschule haben wir festgestellt, dass die Kinder deutlich weniger Zeit für die freie Entfaltung haben“, so Behnken. Die anfänglich eingeführte Taktung von Mittagessen und anschließendem Hausaufgabenkurs habe sich zudem als zu eng erwiesen. Behnken: „Eine Lernzeit nach dem Essen entspricht einfach nicht dem Biorhythmus der Kinder und überfordert sie.“

Kinder benötigen Zeit, um mit Freunden zu spielen, zum Entdecken, zum Erforschen, um kreativ oder um einfach mal für sich zu sein. Ein durchgetakteter Schultag sei nicht kindgerecht. Behnken: „Wir haben aus diesem Grund auch unsere Kurse komplett in Frage gestellt.“ Nach einem Probejahr ohne Hausaufgaben wurde abgestimmt. Lehrerkollegium und Erzieher waren sich einig: Das neue Konzept funktioniert und soll beibehalten werden.
Heute gibt es an der Grundschule nur noch einen festen Kurs, stattdessen zahlreiche offene Angebote. Während früher alle Kinder zur gleichen Zeit ihre Hausaufgaben erledigen mussten, können sie heute – durch die Abschaffung der festen Lernzeit und den damit verbundenen Zeitgewinn – zusätzliche Angebote wahrnehmen. „Kinder brauchen mehr als schulisches Lernen“, betont Behnken.

Lernen Kinder ohne Hausaufgaben nicht weniger?

Auf die Frage, ob die Bildung ohne Hausaufgaben nicht zu kurz komme, antwortet der Schulleiter: „Keineswegs, denn wir fördern so nicht nur schulische, sondern auch emotionale, soziale und motorische Kompetenzen. Das ist ein enormer Gewinn für die Kinder.“ Beispielsweise lernten die Schüler im Rollenspiel, Regeln auszuhandeln und andere Sichtweisen anzunehmen, in Kreativräumen gehe es um Konzentration, Fingerfertigkeit und Mathematik. Man habe beobachtet, dass die Kinder nach den neuen Regeln selbstständiger lernten. Wenn etwa eine Klassenarbeit anstehe, könnten sie sich zum Üben in einen freien Raum zurückziehen – und würden das auch tun. Außerdem werde der Unterricht am Vormittag durch mehr Übungszeit verstärkt.

Workshop
Ganztagsbeteiligte von rund 15 Hamburger Schulen nahmen am Workshop teil © Claudia Pittelkow

Der Schulleiter ist fest davon überzeugt, dass schulisches Lernen in den Klassen 1 bis 3 nach fünf Stunden beendet sein müsse. „Das ist für viele Kinder schon Schwerstarbeit. Alle weiteren verbindlichen Lernarrangements gehen zu Lasten anderer Kompetenzen, die ein Schüler für seine ganzheitliche Entwicklung benötigt“, so Behnken.

Viele Eltern seien anfangs skeptisch gewesen, hätten aber bald gemerkt, dass ihre Kinder deutlich entspannter aus der Schule kamen. Durchweg positiv seien auch die Rückmeldungen der Schülerinnen und Schüler gewesen. Dennoch gibt der Pädagoge zu bedenken: „Wer als Schule diesen Weg geht, muss sich bewusst sein, dass er gegen den Strom schwimmt. Man muss dahinter stehen, dass Kinder durch den Wegfall von Hausaufgaben andere Dinge lernen, die genauso wichtig für das spätere Leben sind. Das ist keine leichte Entscheidung.“

Schulen müssen ihren Weg finden

Referent Detlef Peglow, der auch Ganztagskoordinator der Erich Kästner Schule ist, sagt: „Ich dachte früher, gute Kurse seien das Wichtigste im Ganztag. Heute denke ich, dass es gar nicht so sehr um zusätzliche Zeiten angeleiteten Lernens geht wie in einem tollen Schach- oder Tanzkurs. Vielmehr sollte Zeit und Raum für informelles Lernen sein, mit Möglichkeiten, selbst zu entscheiden und frei zu spielen.“

Detlef Peglow
Detlef Peglow: Ganztagskoordinator der Erich-Kästner-Schule und Referent der Schulbehörde © Claudia Pittelkow

Eine Schulleiterin befürchtet dagegen, dass durch die Selbstbestimmung am Nachmittag der Vormittag noch schulischer, noch stringenter werden könnte: „Droht nicht die Gefahr, dass dann alles, was nachmittags wegfällt, noch in den Vormittag gepresst wird?“

Hausaufgaben oder Schulaufgaben? Verpflichtende Lernzeiten oder mehr freie Zeit? Welche Methode zu einem gelungenen Ganztag führt, muss jede Schule für sich allein herausfinden. Im besten Fall sollten Hausaufgaben – oder Schulaufgaben – hilfreiche Instrumente zur zielgerichteten Weiterentwicklung der Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern sein.

 

Kategorien: Service - Tipps

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