Guter Unterricht im Ganztag mit lernen:digital : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Erwachen wir in Sachen „Digitale Medien im Unterricht“ aus dem Dornröschenschlaf? Prof. Dr. Katharina Scheiter leitet die Transferstelle des Kompetenzverbundes lernen:digital, der Fortbildungen für Lehrkräfte und Unterstützungsangebote für Schulen entwickelt.
Online-Redaktion: Der Bund investiert bis 2026 insgesamt 205 Millionen Euro in Forschung und Entwicklung von Fortbildungsangeboten für Lehrkräfte zum Thema Nutzung „Digitaler Medien“. Welche Aufgabe hat die Transferstelle?
Prof. Dr. Katharina Scheiter: Einfach ausgedrückt: Wir sammeln die Erkenntnisse der Wissenschaft und bringen sie in die Breite. Alles firmiert unter dem Dach des Kompetenzverbundes lernen:digital, der über die Transferstelle an der Universität Potsdam koordiniert wird. Es wurden vier Kompetenzzentren eingerichtet: Eines widmet sich dem Thema MINT, eines dem Thema Sprachen, Gesellschaft und Wirtschaft, ein weiteres thematisiert Musik, Kunst und Sport und das vierte die Schulentwicklung.
Uns ist dabei ganz wichtig, dass sich die Wissenschaft nicht hinstellt und den Schulen beziehungsweise den Lehrerinnen und Lehrern „von oben“ erklärt, wie es geht. Darum beziehen wir bei der Entwicklung der Fortbildungsangebote von Anfang an die Schulpraxis, also die Expertinnen und Experten aus den Schulen und den lehrkräftebildenden Einrichtungen der Länder, ein.
Online-Redaktion: Die Frage sei erlaubt: Erwacht Deutschland in Sachen „Digitale Medien im Unterricht“ aus dem Dornröschenschlaf?
Scheiter: Ich glaube, die Frage ist nicht despektierlich. Viele wussten schon lange, dass sich da etwas ändern muss. Seit Corona wissen wir es alle. Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger hat es bei der Vorstellung des Kompetenzverbundes ja treffend formuliert: „Mit Lehrkräften, die ihren Unterricht kompetent gestalten und digitale Zukunftskompetenzen für Beruf und Studium vermitteln können, treiben wir die Digitalisierung der Bildung weiter voran. Das ist wichtig, denn digitale Kompetenzen werden immer mehr auch zu einer Frage der Chancengerechtigkeit und Teilhabe.“
Online-Redaktion: Welche Bedeutung sehen Sie selbst in den „Digitalen Medien“?
Scheiter: Sie können dazu beitragen, guten Unterricht herzustellen und umzusetzen, indem sie neue Lern- und Lehrwege eröffnen. Lehrkräfte spielen eine zentrale Rolle für guten Unterricht. Sie entscheiden, welchen Medien ein besonderes Potenzial für ein bestimmtes fachliches Lernziel zukommt und wie aus der Kombination aus analogen und digitalen Werkzeugen ein harmonischer moderner Unterricht zu gestalten ist. Das Ziel des Kompetenzverbundes lernen:digital ist es, die Professionalisierung der Lehrkräfte durch die in den Kompetenzzentren entwickelten Angebote zu unterstützen.
Online-Redaktion: Digitale Medien also als Ergänzung, nicht als Allheilmittel?
Scheiter: Exakt. Die Mischung und die Verknüpfung machen es. In Kooperation mit einem Kollegen aus der Fachdidaktik Physik hat eine meiner Doktorandinnen eine Untersuchung für das Unterrichtsfach Physik durchgeführt. Dabei stellten wir ganz klar fest, dass der höchste Lernerfolg sich dann einstellte, wenn die Lernenden sowohl praktisch eigene Experimente durchführten als auch mit digitalen Simulationen arbeiteten. Aus unseren Ergebnissen bin ich überzeugt, dass der Einsatz und der Nutzen des Digitalen selbstverständlicher Bestandteil der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern sein sollten.
Im Moment ist es bedauerlicherweise oft noch so, dass Digitales wie ein Add-on, also eine Erweiterung der Aufgaben diskutiert wird, ein bisschen ähnlich, wie wir das bei Themen wie Inklusion und Umgang mit Heterogenität sehen. Daraus resultiert dann bei den Lehrenden ein Gefühl zusätzlicher Anforderungen. Wir sollten dahin kommen, dass wir nicht über Selbstverständliches diskutieren, sondern über das, was guten Unterricht ausmacht. Guter Unterricht ist motivierend, selbstbestimmt, individualisiert, begleitet und angeleitet, rhythmisiert im Ganztag, um einige Stichworte zu nennen. Das kann man aus einer gelungenen Kombination von digitalen und analogen Methoden erreichen. Im Moment haben Digitale Medien noch zu oft einen Sonderstatus.
Online-Redaktion: Wie werden Sie die Fortbildungsbausteine der Kompetenzzentren in die Fläche bringen?
Scheiter: Die Bausteine werden forschungsbasiert entwickelt. Dabei beachten wir regionale Besonderheiten. Die Projektverbünde der Kompetenzzentren werden sehr eng mit den Landesinstituten für die Lehrerfortbildung zusammenarbeiten. Wir wollen aber auch über die föderale Struktur hinausblicken, wir möchten das Wissen, das beispielsweise in Rheinland-Pfalz existiert, auch in anderen Bundesländern sichtbar und nutzbar machen. Dazu entwickeln wir unter anderem eine digitale Plattform. Zusätzlich werden wir Multiplikatorinnen und Multiplikatoren ausbilden, die das Wissen weitergeben können, und entwickeln Blaupausen für Fortbildungsangebote. Denn als kleine Transferstelle können wir kaum alle mehr als 200 000 Lehrkräfte in Deutschland einzeln fortbilden.
Online-Redaktion: Wie kann die einzelne Lehrerin, der einzelne Lehrer profitieren?
Scheiter: Wir haben in der Corona-Zeit viel aus der Praxis gelernt. Beispielsweise, dass Lehrkräfte sich anlassbezogen fortbilden und dann auch digitale Selbstlernkurse wahrnehmen, wenn diese konkrete „Problemlöser“ für den Unterricht darstellen. Der Zeitaufwand dafür ist zwar häufig sehr gering, doch der Ertrag hält sich auch in Grenzen. Wir denken eher an eine umfassendere hybride Fortbildung, das heißt, es gibt Inputs in Gruppen, dann wieder einmal Einzelarbeit, dann wieder digitale Treffen, dann wieder Präsenzveranstaltungen in der Gruppe. Gespräche von Angesicht zu Angesicht, das Soziale, den persönlichen Austausch über die eigenen Erfahrungen mit Methoden, die man vielleicht gerade einmal ausprobiert hat, halten wir für unersetzlich.
Online-Redaktion: Gibt das die bestehende Fortbildungskultur her?
Scheiter: Wir beobachten eine sehr unterschiedliche Fortbildungsmotivation. Bestimmt hängt es von der Qualität der Angebote ab, ob sie wahr- und angenommen werden. Aber es hat auch viel mit der Einstellung, dem wahrgenommenen Bedarf für sich selbst und genereller Innovationsbereitschaft zu tun. Wir erleben immer wieder, dass die Aufgeschlossenen gerne zugreifen, wenn sie etwas sehen, womit sie ihren Unterricht noch besser, spannender und anregender gestalten können.
Online-Redaktion: Ist der Einwand, Fortbildung sei nicht erforderlich, solange die Infrastruktur nicht entsprechend ausgebaut ist, den ganz unberechtigt?
Scheiter: Ich möchte es einmal so ausdrücken: Ich verkenne keineswegs, dass es immer noch Regionen und Schulen gibt, wo die Infrastruktur tatsächlich noch ausbaufähig ist. Aber wir müssen nur einmal in unser Nachbarland Tschechien blicken. Dort gilt die Infrastruktur auch nicht gerade als hochentwickelt, trotzdem schaffen es die Schulen, den Schülerinnen und Schülern eine gute Medienkompetenz zu vermitteln. Unzureichende Infrastruktur sollte also niemanden davon abhalten, sich Gedanken darüber zu machen, wie man mit und zu digitalen Medien guten Unterricht gestaltet.
Online-Redaktion: Muss Deutschland in Sachen Digitale Bildung in der Schule das Rad neu erfinden?
Scheiter: Auf keinen Fall. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, den wissenschaftlichen Transfer in die Praxis auch durch einen intensiven Blick ins Ausland zu bereichern. Der Erfahrungsaustausch mit den Niederlanden, Großbritannien, Israel, Belgien, mit Australien und den USA, in denen sich unsere Kolleginnen und Kollegen gut auskennen, steht selbstverständlich auf unser To-do-Liste.
Online-Redaktion: Alle reden von Rhythmisierung und multiprofessionellen Teams im Ganztag. Mit welchen Fortbildungsangeboten dürfen diejenigen rechnen, die keine Lehrkräfte sind?
Scheiter: Es kann keinen Zweifel geben, dass digitale Bildung in die Fortbildung des gesamten pädagogisch tätigen Personals, aber auch der externen Anbieter von Ganztagsangeboten gehört. Gerade in Ganztagsangeboten wird häufig projektorientiert und selbstgesteuert gelernt und gearbeitet. Das müssen die erwachsenen Bezugspersonen auch digital begleiten können. Im besten Fall sollte es eine Abstimmung und konzeptionelle Übereinstimmung mit den Lehrkräften geben. Ich plädiere dafür, dass wir die unterschiedlichen Professionen gleichermaßen berücksichtigen und entsprechende Fortbildungsangebote auf den Tisch legen können, und bin überzeugt, dass dies der richtige Weg ist. Und wenn wir ehrlich sind, muss das ebenso für die Erzieherinnen und Erzieher in den Kitas gelten. Wir haben noch ein paar Schritte vor uns.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Ganztag vor Ort - Lernkultur und Unterrichtsentwicklung
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