Gut ankommen in Bremer Ganztagsschulen : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Für die Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Bremen und ihre Leiterin Angelika Wunsch sind interkulturelle Fortbildungen kein neues Thema. Die aktuelle Entwicklung lässt das Thema noch wichtiger werden.

Online-Redaktion: Frau Wunsch, Sie zeigen im Rahmen Ihrer Fortbildung den Schweizer Dokumentarfilm „Neuland“. Welche Bedeutung hat der Film für Ihr Thema?

Angelika Wunsch: Der mehrfach prämierte Film begleitet eine Integrationsklasse in der Schweiz, in der junge Menschen aus den verschiedensten Ländern mit ganz unterschiedlichen Schicksalen zwei Jahre lang in einer Integrationsklasse zusammen lernen, die Sprache erwerben und auf die Realität im Berufsleben vorbereitet werden. Er zeigt auch einen Lehrer, der sehr nahe an den Einzelschicksalen seiner Schüler dran ist, indem er zuhört, fragt und individuell unterstützt – egal, ob sie aus Serbien, Marokko oder Afghanistan kommen. Der Fluchthintergrund der Schülerinnen und Schüler spielt keine Rolle. Das ist ein Punkt, der uns wichtig erscheint.

Der Lehrer im Film hat gewissermaßen ideale Bedingungen, weil er zwei Jahre lang kontinuierlich mit den Jugendlichen zusammenarbeiten kann. Das gibt es hier in den Bremer Vorklassen zwar nicht, aber wichtiger ist die gezeigte Haltung: wie mit fremden Schicksalen sensibel umgegangen werden kann.

Online-Redaktion: Sie halten den Film also für universell genug, dass er nicht mit den „besonderen Schweizer Bedingungen“ abgetan werden kann?

Wunsch: Ich kann mir vorstellen, dass diese Kritik kommt, denn die strukturellen Bedingungen sind nicht vergleichbar. Aber für mich überwiegt die sensible Umgangsweise des Lehrers und die Darstellung der Situation, die die Jugendlichen auf ihrer Suche nach Akzeptanz einerseits und nach einem passenden Praktikumsplatz andererseits zeigt.

Der Umgang mit unterschiedlichen Schülerinnen und Schülern, wenn man so will: multikulturell zu arbeiten, ist nichts Neues für die Bremer Ganztagsschulen. Wir möchten in unseren Veranstaltungen alle am Ganztag tätigen Professionen in einen Austausch bringen und sie vernetzen, Probleme aufzeigen, aber auch gute Praxis. Davon machen besonders Schulleitungen und Vorklassenlehrkräfte Gebrauch.

Serviceagentur Bremen
© Serviceagentur Bremen

Online-Redaktion: Welche Fragen bewegen die Schulleitungen und Lehrkräfte am meisten?

Wunsch: Ein ganz zentrales Thema ist die Heterogenität der Geflüchteten. Es gibt nicht die Geflüchteten, sondern ein ganz breites Spektrum, das reicht von Kindern und Jugendlichen, die analphabetisch zu uns kommen, bis zu Hochbegabten. Es ist eine enorme Leistung, diese Schülerinnen und Schüler gemeinsam in Vorklassen zu unterrichten. Da wünschen sich die Pädagoginnen und Pädagogen mehr Flexibilität, um diejenigen mit besonderem Förderbedarf nach diesem einen Jahr, das ihnen in den Vorklassen zusteht, weiter unterstützen zu können. Umgekehrt sollte es ihrer Ansicht nach möglich sein, die begabten Kinder und Jugendlichen schneller in die Regelklassen einzubinden.

Online-Redaktion: Sie arbeiten mit der Methode der „Wertschätzenden Erkundung“. Was muss man darunter verstehen?

Wunsch: Die Methode kommt aus der Team- und Organisationsentwicklung und eignet sich sehr gut, um eine wertschätzende Haltung in der Zusammenarbeit zu befördern. Es geht um das Aufspüren von Erfolgen in einem schulischen System, um positiv weiterzuarbeiten. Wir haben mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Veranstaltung Schlüsselfaktoren herausgearbeitet, die jeweils für die Ankunft von Schülerinnen und Schülern mit Fluchthintergrund an Ganztagsschulen wesentlich sind.

Solche Schlüsselfaktoren, die die Integration erleichtern, sind zum Beispiel das gemeinsame Mittagessen, die Einschulungsfeier, die Einbeziehung der Eltern, aber auch die parallele Teilnahme am Regelunterricht und pädagogische Klarheit. Dazu bedarf es neben einer guten Planung, Vernetzung und Kommunikation auch der Einbeziehung sonderpädagogischer Kompetenzen. Wir brauchen an dieser Stelle mehr Unterstützung durch Sonderpädagogen, die aus ihrer professionellen Sichtweise einen Beitrag bei der Beurteilung und der Handhabung individueller Lern- und Wissensstände leisten könnten. Es wäre ideal, wenn die Schulen hier spezifischer arbeiten könnten.

Serviceagentur Bremen
Workshop mit Gudrun Zimmermann © Serviceagentur Bremen

Online-Redaktion: Wie kann den Kindern und Jugendlichen die Ankunft erleichtert werden?

Wunsch: Der Aufbau von Helfersystemen ist ein Weg. Schülerinnen und Schüler nehmen sich als Paten der neuen Mitschüler an. Man kann Piktogramme erstellen, um den Kindern und Jugendlichen die Übersicht und Orientierung in der Schule zu erleichtern. Mehrsprachige Anmeldebögen, ob für die gesundheitliche Erstuntersuchung oder für die schulischen Belange, sind ebenfalls hilfreich.

Online-Redaktion: Wie stellt sich die Lage an den Bremer Ganztagsschulen angesichts der neu ankommenden Schülerinnen und Schüler dar?

Wunsch: Es bleibt eine große Herausforderung. Die kontinuierliche Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen ist oft nicht möglich. Sie leben in Übergangswohnheimen oder Turnhallen und müssen zum Teil sehr weite Strecken fahren. Ihr Aufenthaltsstatus ist häufig unsicher. Aber es gibt trotzdem bereits gute Ideen und hervorragende Beispiele und Projekte an Bremer Ganztagsschulen, die die Integration von Geflüchteten praktizieren.

Sie zeugen von der Arbeit von sehr engagierten und ambitionierten Kolleginnen und Kollegen, die flexibel denken und agieren, die ausprobieren, was in dieser besonderen Situation an Schule möglich ist, und – da wären wir schon wieder beim Film – nah an den Kindern und Jugendlichen dran sind. Diese Vorklassenlehrkräfte werden meist auch vom Kollegium und von der Schulleitung wertschätzend und kollegial unterstützt.

Online-Redaktion: Welchen Beitrag kann die Serviceagentur „Ganztägig lernen“ leisten?

Wunsch: Der Wunsch nach Austausch und Vernetzung ist weiter sehr stark. Wir können die Senatsbehörde und die vor Ort pädagogisch Tätigen zusammenbringen. Dies hat sich als gute Kopplung erwiesen. Das bereichert auch die Arbeit in der Behörde: sie nehmen die Anliegen und die Ideen der Ganztagsschulen mit. Aber auch der Austausch unter den Schulen und das Lernen voneinander ist wichtig, denn hier können die Pädagoginnen und Pädagogen auf bereits gut funktionierende Praxisbeispiele zurückgreifen, die direkte Antworten auf ihre Fragestellungen geben.

Online-Redaktion: Werden Sie bei diesem Thema weiter am Ball bleiben?

Wunsch: Wir planen gerade eine Veranstaltung mit dem Arbeitstitel: „Ganztagsschule in der Migrationsgesellschaft“, die sich an das gesamte pädagogische Personal in Ganztagsschulen richtet, um weiterhin Impulse zu diesem Thema hereinzugeben.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Der preisgekrönte Film „Neuland“ wird von Vision Kino für die Schulkinowochen empfohlen.

Vorstellungen demnächst u.a.
am 27.5.2016 in Torgelow
bis 27.5.2016 in Münster
am 31.5.2016 in Osnabrück
bis zum 14.6.2016 in Berlin

Kino-Vorstellungen für Schulklassen sind während der Schulzeit zu reduzierten Eintrittspreisen möglich. Kontakt: info@riseandshine-berlin.de oder telefonisch:
030 4737 2980.

Außerdem gibt es kostenloses Unterrichtsmaterial zum Film.

Kategorien: Service - Kurzmeldungen

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