„Ganztagsschulen sind Bildungslandschaften im Kleinen“ : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Kinder und Jugendliche haben ungleichen Zugang zu informellen Lerngelegenheiten. Die Ganztagsschule könnte solche sozialen Ungleichheiten minimieren, meint Prof. Dr. Ahmet Derecik von der Universität Osnabrück.

Online-Redaktion: Prof. Derecik, warum haben informelle Lerngelegenheiten so eine hohe Bedeutung?

Ahmet Derecik: Wir leben in einer sich rasant entwickelnden Welt, die uns immer wieder vor neue nationale und globale Herausforderungen stellt. Um mit diesen Anforderungen Schritt halten zu können, spielt das informelle Lernen eine besondere Rolle. Für die Gestaltung des eigenen Lebensalltags kann es gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Informelles Lernen ist eine Grundform menschlichen Lernens. Es ist die Basis für das formelle Lernen im Unterricht, aber auch für das lebenslange Lernen.

Meine eigenen Studien zum informellen Lernen in der Ganztagsschule haben unter anderem gezeigt, dass Heranwachsende, bei entsprechender Gestaltung der Räume, während der Pausen durch informelles Lernen wichtige Entwicklungs- und Bildungsprozesse vollziehen können. Rimma Kanevski und Maria von Salisch haben in einer Studie zu Freundschaften in der Ganztagsschule gezeigt, dass in Ganztagsschulen durch informelles Lernen wichtige emotionale und soziale Kompetenzen erworben werden.*

Online-Redaktion: Wie verändert sich das Lernverhalten, wenn informell gelernt wird?

Schulplan
© Britta Hüning

Derecik: Der Unterricht in der Schule als wichtigste Form formellen Lernens folgt Lehrplänen, er ist ein geplanter, zielgerichteter, systematischer Prozess, bei dem es oftmals um die Vermeidung von Fehlern geht. Auch informelles Lernen kann gezielt erfolgen. Das Versuch-und-Irrtum-Prinzip ist dabei aber im Gegensatz zum Lernen im Unterricht eine gängige Methode. Zudem ist informelles Lernen oftmals nicht intendiert, es passiert quasi nebenher und unbewusst. Dies bezeichnen wir genauer als implizites Lernen. Zudem ist der formelle Unterricht durch ein Hierarchiegefälle zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern gekennzeichnet. Das ist beim informellen Lernen zwischen Gleichaltrigen nicht der Fall, was zu einer höheren Motivation führen kann.

Online-Redaktion: Wie verändert sich Lehrerverhalten, um dem Anspruch solchen Lernens gerecht zu werden?

Derecik: Fremdbestimmtes Lernen und Arbeitsanweisungen der Lehrkräfte sind unverzichtbar. Heranwachsende lernen unglaublich viel und gut in informellen Situationen, doch unter Umständen benötigen sie auch ein Korrektiv beziehungsweise eine Horizonterweiterung durch Lehrende. Für den Unterricht sind daher sowohl geschlossene, also stärker lehrergesteuerte und -geplante Formen des Lernens mit festen Lernzielen und Kontrollen als auch offene Formen des Lernens notwendig. Die gute Mischung zeichnet eine neue Lernkultur aus. Um mehr informelle Lernprozesse im Unterricht zu ermöglichen, können sich Lehrende auf der Haltungsebene als Lernbegleiter verstehen und eine partizipative Grundhaltung einnehmen.

Es ist sicherlich gewinnbringend, wenn Lehrende, wie es Erich Kästner einmal formuliert hat, sich selbst als Lernende verstehen, die auch nicht immer alles wissen. Wichtig ist, dass Lehrerinnen und Lehrer ein ernsthaftes Interesse für die vorhandenen und vielfältigen Kompetenzen ihrer Schülerinnen und Schüler zeigen. Didaktisch gesehen sind sicherlich Sozialformen wie offener Unterricht, kooperatives Lernen, selbstgesteuerten Lernen hilfreich. Genau dies wird ja in den Qualitätsrahmen der Länder für Ganztagsschulen gefordert.

Online-Redaktion: Wie viel Freiheit, wie viele „Vorschriften“ und wie viele informelle Lerngelegenheiten benötigen Kinder und Jugendliche, um erfolgreich zu lernen?

Derecik: Eine Balance ist notwendig. Das Ziel muss sein, die Lernenden zum selbstbestimmten Lernen zu befähigen. Beim Weg dorthin dürfen aber fremd- und mitbestimmte Lerngelegenheiten nicht fehlen. Ansonsten kann es passieren, dass Heranwachsende nur einseitig lernen und dass sich die sozialen Ungleichheiten verstärken. Die Bedingungen für das informelle Lernen sind nicht für alle Heranwachsenden gleich.

Schülerinnen auf Stelzen
© Britta Hüning

Kinder und Jugendliche aus sozioökonomisch stärkeren Milieus haben in der Regel auch weit mehr Zugang zu verschiedenen informellen Lerngelegenheiten. Denken Sie beispielsweise an teure Freizeitaktivitäten, zu denen Kinder und Jugendliche aus ärmeren Schichten kaum oder gar keinen Zugang erhalten. Gerade deswegen ist die Ganztagsschule auch ein geeigneter Ort, um solche sozialen Ungleichheiten zu minimieren.

Online-Redaktion: Sie weisen darauf hin, dass Schülerinnen und Schüler in der Ganztagsschule auch Rückzugsmöglichkeiten brauchen – was in Schulen oft die Sorge der Aufsichtspflicht hervorruft?

Derecik: Meine Untersuchungen an Ganztagsschulen haben sehr deutlich gezeigt, dass Rückzugs- und Kommunikationsnischen für Jugendliche fehlen. Hier besteht ein dringender Handlungsbedarf. Wir dürfen nicht vergessen, dass in dieser Phase die Entwicklung und Gestaltung von Freundschaften eine zentrale Entwicklungsaufgabe und eine Form der Lebensbewältigung ist. Freundschaften sind besonders für die Entwicklung von sozialen und emotionalen Kompetenzen wichtig.

In meinen Fortbildungen zum informellen Lernen stoße ich, wenn es um die Pausengestaltung geht, tatsächlich oft auf Sorgen von Lehrkräften wegen der Aufsichtspflicht. Diese sind auf der emotionalen Ebene durchaus nachvollziehbar, auf der sachlichen Ebene stellen sie sich aber zum Glück meistens als unbegründet dar. Die Vorgaben dazu sind sehr klar geregelt. Ein wichtiger Punkt ist, dass sich die Schülerinnen und Schüler beaufsichtigt fühlen müssen. Das bedeutet nicht, dass sie ständig kontrolliert werden.

Es reicht, wenn Lehrende sich an Knotenpunkten auf dem Schulhof aufhalten oder im Schulgebäude mal durch die Gänge laufen oder nach den Schülern und Schülerinnen in ihren Klassenzimmern schauen, sofern diese denn geöffnet werden. Die Lehrkräfte haben ja meist ihr geschütztes Lehrerzimmer. Jugendlichen sollten geschützte Rückzugs- und Kommunikationsnischen ebenfalls zugestanden werden.

Online-Redaktion: In welcher Form können Schülerinnen und Schüler bei der Planung einbezogen werden?

Derecik: In meinen Augen ist bei der Planung und Gestaltung oder Umgestaltung von Schulen und gerade, wenn es um Freizeiträume geht, die Beteiligung der Schülerinnen und Schüler unerlässlich. Aber nicht nur diese sollten beteiligt werden. Die Erfahrungen von Kolleginnen und Kollegen und meine Erfahrungen als Moderator für sogenannte Kooperative Planungen zeigen, dass die besten Ergebnisse erzielt werden, wenn Vertreter und Vertreterinnen aus verschiedenen Bereichen zusammenkommen. Dazu zählen neben Schülerinnen und Schülern aus verschiedenen Jahrgängen auch das Schulleitungs- und das Lehrerteam, Hausmeister, Eltern, die Schulverwaltung oder Verantwortliche der Kinder und Jugendhilfe – bis hin zum Bürgermeister oder der Bürgermeisterin. Auch ein Landschaftsarchitekt kann dazu gehören.

Britta Hüning
Regenbogen-Grundschule Jena (Thüringen) © Britta Hüning

Online-Redaktion: In der Heinrich-Mann-Schule in Lübeck steht den Schülerinnen und Schülern eine Lounge in den Räumen der ehemaligen Hausmeisterwohnung als Ort zum „Chill Out“ zur Verfügung. Eine gute Idee? Sieht so die Ganztagsschule der Zukunft aus?

Derecik: Diese Lounge ist raumtheoretisch sehr gut umgesetzt. Sie wird von den Schülerinnen und Schülern sehr gut angenommen. Die Lounge ist gemütlich wie ein Wohnzimmer gestaltet, mit Couches, Wandbemalungen, Blumen, schönen Lampen und vielem mehr. Das Beispiel der Heinrich-Mann-Schule ist sicherlich zukunftsweisend, was die Gestaltung von Rückzugs- und Kommunikationsräumen für Jugendliche, aber auch von Besprechungsräume für Lehrende, angeht. Die Schule hat sich bei der Gestaltung der Lounge nicht nur an der Arbeitsweise der Kinder- und Jugendhilfe orientiert, sondern auch an deren Raumgestaltung, so wie sie in vielen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe üblich sind.

Online-Redaktion: Eignen sich Ganztagsschulen besonders für informelles Lernen, und wie könnte es gestaltet werden?

Derecik: Ich betrachte Ganztagsschulen als Bildungslandschaften im Kleinen, in denen sowohl formelles Lernen als auch informelles Lernen ermöglicht wird. Für das informelle Lernen in den Pausen stehen in Ganztagsschulen je nach Konzeption pro Woche in der Regel – rechnet man in 45-Minuten-Einheiten – zwischen 11 und 20 Stunden zur Verfügung. Das ist weit mehr als alle Unterrichtsstunden in den Hauptfächern zusammen, was den Lehrenden oftmals gar nicht bewusst ist.

Dies ist ein immenses Potenzial, das aktuell oft brach liegt und das unbedingt ausgeschöpft werden sollte. Konkrete Anregungen hier vorzugeben, würde zu weit gehen. Entscheidend ist aus meiner Sicht, dass die Räume für informelles Lernen entwicklungsadäquat und adressatengerecht gestaltet werden. Das habe ich in meinen umfangreichen Empfehlungen zur Gestaltung von Freizeiträumen in Ganztagsschulen versucht zu beschreiben.

Online-Redaktion: Blicken wir nach vorne: Wozu sollten Bildungsexperten und Planer von Ganztagsschulen die kommenden zehn Jahre nutzen?

Derecik: Da gibt es sicherlich einige Herausforderungen. In Bezug auf das informelle Lernen in Ganztagsschulen könnte ich mir vorstellen, dass der damit verbundenen pädagogischen Raumgestaltung ein größerer Stellenwert beigemessen wird. Das wäre ein ergänzender Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung, und es würde der qualitativen Weiterentwicklung von Ganztagsschulen Rechnung zu tragen. Dazu gehört auch, die Freizeiträume für die Pausen entwicklungs- und adressatengerechter, mit einer größeren Wohlfühlatmosphäre zu gestalten. Zudem stellt sich die Frage, wie informelles Lernen und Digitalisierung gemeinsam gedacht und weiterentwickelt werden könnten.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Zur Person:

Prof. Dr. Ahmet Derecik, Jg. 1978, ist seit 2013 Professor für Sport- und Bewegungswissenschaften an der Universität Osnabrück. Nach dem Studium an der Ruhr-Universität Bochum war er von 2005 bis 2009 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Philipps-Universität Marburg und wurde 2011 mit einer sportpädagogischen Arbeit zum informellen Lernen an Ganztagsschulen promoviert. Von 2009 bis 2013 forschte er an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster zur Partizipation an Ganztagsgrundschulen. Er ist Vorstandsmitglied des Vereins „Integration durch Sport und Bildung“ e.V. und des Centrums für Bildungsforschung (CeBiS) der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Er ist außerdem als Referent in der Lehrerfortbildung tätig und Moderator und Experte für Kooperative Planungen zur Schulhofumgestaltung.

Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. informelles Lernen, demokratische Partizipation, Bewegung, Spiel und Sport in der Ganztagsschule, Integration und Sport.

Veröffentlichungen u. a.:

Derecik, A., M.-C. Goutin & J. Michel (2018): Partizipationsförderung in Ganztagsschulen. Innovative Theorien und komplexe Praxishinweise. Wiesbaden: Springer.

Deinet, U. & A. Derecik (2017). Partner im Sozialraum finden – Gelingensbedingungen von Kooperationen. Sport: Bündnisse! Bewegung – Bildung – Teilhabe. Frankfurt am Main: Deutsche Sportjugend.

Derecik, A. (2015): Praxisbuch Schulfreiraum. Gestaltung von Bewegungs- und Ruheräumen in der Schule. Wiesbaden: VS.


* Kanevski, R. & M. von Salisch (2011): Peer-Netzwerke und Freundschaften in Ganztagsschulen. Auswirkungen der Ganztagsschule auf die Entwicklung sozialer und emotionaler Kompetenzen von Jugendlichen. (Studien zur ganztägigen Bildung.) Weinheim: Beltz Juventa.

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