"Ganztagsschulen brauchen auch Ganztagslehrer" : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

"Präsenzzeit" lautet das Zauberwort einer veränderten Arbeitszeitorganisation an der Bremer Grundschule Borchshöhe.

"Ganztagsschulen brauchen auch Ganztagslehrer." Dies ist die Überzeugung von Christel Hempe-Wankerl, Referentin beim Senator für Bildung und Wissenschaft in Bremen und zuständig für die Ganztagsschulen im Stadtstaat. Und da Ganztagsschulen einen anderen Unterrichtsrhythmus vorgeben, sollten auch Ganztagslehrer nicht mehr auf der Basis althergebrachter Stundendeputate unterrichten - zumal diese sowieso nicht von Vorteil sind. "Burnout-Syndrome bei Lehrern haben auch viel mit der Arbeitszeitstruktur und Arbeitszeitorganisation zu tun", stellt Frau Hempe-Wankerl fest.

Für die ehemalige Lehrerin hat dieser Beruf den "Charakter eines Stoßgeschäftes" und ist unter den derzeitigen Voraussetzungen "eine einsame Tätigkeit". Entgegen landläufiger Meinungen hätten Studien erwiesen, dass die durchschnittliche Arbeitszeit von Lehrern über der wöchentlichen Arbeitszeit tariflicher Jobs liege. Die Vor- und Nachbearbeitung des Unterrichts erfordere einen hohen Zeitaufwand am heimischen Schreibtisch, während in der Schule durch das Bestreben, pädagogisch immer richtig zu handeln, eine "hohe psycho-soziale Belastung" entstehe.

Es ist oft die Sorge vor einer noch höheren zeitlicher Belastung, die in Kollegien, die vor der Entscheidung stehen, ob sie Ganztagsschule werden wollen, die größte Skepsis auslösen. Eins ist für Frau Hempe-Wankerl daher klar: "Wenn sich Lehrerinnen und Lehrer immer größeren Belastungen ausgesetzt fühlen, kann man sie auch im Rahmen von Ganztagsschulen nicht zusätzlich belasten - es sei denn, man entlastet sie an anderer Stelle."

Ideen aus Schweden

Bremer Delegation vor der schwedischen Schule Futurum
Karin Bossaller (M.) mit der Bremer Delegation bei ihrem Besuch der schwedischen Schule Futurum

Eine Entlastung bezieht sich dabei nicht allein auf die Arbeitszeit, sondern auch auf veränderte Organisationsstrukturen in den Schulen: Weg vom Einzelkämpfertum hin zum Entwickeln von Teamstrukturen innerhalb der Schule und Kooperationen mit Pädagogen von außerhalb. So geschieht es an der Grundschule Borchshöhe, die sich bereits zu einer Vorzeigeschule in Sachen Architektur und individueller Förderung entwickelt hat und auch hinsichtlich der Organisation der Lehrerarbeitszeit mit einem interessanten Modell aufwartet: Der Präsenzzeit.

Auslöser für die Einführung der Präsenzzeit war - wie bei so vielen neuen Anstößen in der Bildungspolitik - die gerade für Bremen ernüchternden Ergebnisse der PISA-Studie. "Wir müssen etwas in den Strukturen verändern", waren sich laut Frau Hempe-Wankerl alle Beteiligten schnell einig. An der Bremer Grundschule Borchshöhe richtete man den Blick auf der Suche nach besseren Lehr- und Lernbedingungen auf Schweden. Karin Bossaller, Konrektorin an der Borchshöhe, ist gebürtige Schwedin und begleitete Politiker und Pädagogen in ihre Heimat, wo man unter anderem die Vorzeigeschule Futurum besuchte.

Aus Schweden brachte man einige gute Ideen mit, die mit dem Schuljahr 2002/2003 in der Grundschule Borchshöhe konsequent in die Tat umgesetzt wurden: So löste man die Klassen auf, statt dessen lernen die Kinder jetzt in altersgemischten Gruppen und Arbeitseinheiten. Die Gruppen sind auf zwei Lernhäuser aufgeteilt, in denen jeweils rund 70 Schülerinnen und Schüler der Jahrgänge eins bis drei untergebracht sind. Seit dem vergangenen Schuljahr hat die Borchshöhe auf Ganztagsbetrieb umgestellt. Unterricht und Betreuung werden montags bis donnerstags von acht bis 15 Uhr, freitags bis 14 Uhr angeboten. Bis 16 Uhr wird ein offenes Angebot gemacht. Jeden Freitagnachmittag findet eine Besprechung des kompletten Teams von Lehrerinnen und Erzieherinnen statt, in der resümiert wird, ob die gesteckten Ziele erreicht worden sind, und die nächsten Wochenpläne besprochen werden.

Lehrer bestimmen ihre Arbeitszeit

Die Häuser werden durch so genannte Hausteams geführt, die aus Lehrerinnen, Sonderpädagoginnen, pädagogischen Fachkräften, einer Referendarin und einem Türkischlehrer bestehen. Die Teams sind dabei autonom in ihren Entscheidungen: Sie können selbstständig ihre Lehrschwerpunkte setzen, ihre Kompetenzbereiche aufteilen und innerhalb gesetzter Standards ihren Weg dorthin frei wählen. Eine weitere Freiheit und Voraussetzung für die Durchführbarkeit dieser Art des Lehrens ist eine flexible Arbeitszeit.

Die Verteilung des Stundenpools untereinander bleibt den Lernhäusern selbst überlassen. Die Lehrerinnen und die anderen Pädagogen können selbst festlegen, wer wann arbeitet. "Wir bestimmen unsere Arbeitszeit selbst", erklärt Karin Bossaller. Voraussetzung für diese Freiheit und das Abweichen vom Stundendeputat ist Paragraph 9 im Bremer "Gesetz zur Regelung der Arbeitszeitaufteilung für Lehrer und Lehrerinnen an öffentlichen Schulen" (Lehrerarbeitszeitaufteilungsgesetz) von 1997, das am 20. Februar 2003 novelliert worden ist. Dort heißt es: "Schulen können nach Maßgabe der nachfolgenden Bestimmungen ein Arbeitszeitmodell erproben, das bei der Aufteilung der Arbeitszeit der Lehrer und Lehrerinnen nicht von in den § 2 bis 6 festgelegten Unterrichtsverpflichtungen, sondern von den Jahresarbeitszeiten der Lehrer und Lehrerinnen ausgeht."

In der einfachen Konsequenz heißt das für die Grundschule Borchshöhe: Die Lehrkräfte verbringen mehr Zeit an der Schule und arbeiten weniger zu Hause. Die festgesetzte Jahresarbeitszeit liegt analog der Regelung im Öffentlichen Dienst bei etwa 1700 Stunden, die von einer gerechten Aufteilung auf die Unterrichtswochen, die schulischen und die außerhalb der Schule stattfindenden Tätigkeiten ausgeht und somit die Grundlage für die Einführung der Präsenzzeit für die Lehrerinnen bildet.

Die Anwesenheit der Lehrerinnen in der Schule erhöht sich von 28 Unterrichtswochenstunden à 45 Minuten entsprechend 21 Zeitstunden auf 35 Zeitstunden in der Woche. In diesen 35 Stunden sind dann allerdings mit 14 Stunden auch alle Tätigkeiten eingerechnet, die bisher nebenbei erledigt werden mussten, wie zum Beispiel die Absprachen im Kollegium, Dienstbesprechungen, gemeinsame Unterrichtsplanung für Projekte, das Aufstellen der individuellen Lehrpläne für die Kinder und Elterngespräche. Beinhaltet sind des weiteren die Planung der Lernentwicklung und deren Dokumentation, das Erledigen von Verwaltungsaufgaben, die Pausenaufsicht und die Essenszeiten. Mit fünf mal 30 Minuten Pause täglich ergibt sich so eine Anwesenszeit in der Schule von 37,5 Stunden. Dazu kommen dann noch 10,7 Stunden, die für die Vor- und Nachbearbeitung am heimischen Schreibtisch oder Fort- und Weiterbildung angesetzt sind. Insgesamt beträgt die Arbeitszeit - alles inklusive - also 45,7 Stunden in der Woche.

"Das Unterrichtsdeputat hat ausgedient"

Erhöht sich die Arbeitszufriedenheit bei diesem Modell oder sinkt sie? "Nur eine Kollegin hat uns verlassen, weil sie mit den ganzen Neuerungen nicht zurecht kam", berichtet Konrektorin Bossaller, "aber viele wollen sich zu uns versetzen lassen." Schulleiterin Petra Köster-Gießmann hat bisher ebenfalls nur Positives gehört: Die Kolleginnen seien froh, nicht mehr so viel Arbeit mit nach Hause nehmen zu müssen, sondern nun den Unterricht in den unterrichtsfreien Arbeitszeiten in der Schule vorbereiten, mit den Kolleginnen zusammenarbeiten, sich absprechen und so auch gegenseitig entlasten können. So werden Klassenarbeiten gemeinsam durchgesehen. "Über das Team ergeben sich viele flexible Lösungen", meint Christel Hempe-Wankerl.

Das bringt das Mentorenprinzip mit sich: In der Grundschule Borchshöhe steht keine Lehrerin steht mehr allein vor einer Klasse, sondern die Kinder werden in kleinen Gruppen von 15 bis 20 Kindern jeweils von einer Lehrerin und einer Pädagogin betreut. Vier Mentoren sind für die Vorbereitung der Unterrichtsblöcke verantwortlich. "Die Arbeit kann nun differenzierter stattfinden, und die Aufgaben können gezielter aufgeteilt werden", berichtet Petra Köster-Gießmann. Krankheitsfälle lassen sich so auch viel leichter auffangen. Sorgte ein erkrankter Lehrer bisher dafür, dass die Stunde einfach ausfiel, so können hier die Kolleginnen einspringen und das Duo wieder komplettieren. Eine Entlastung wird auch durch die gemeinsam gegenüber den Schülerinnen und Schülern sowie Eltern vertretenen Konzepten erreicht.

An der Schule sprechen die Lehrerinnen gar nicht mehr von Unterricht, sondern von "Zeit mit Kindern", denn "nicht alle Zeit in der Schule, die wir mit den Kindern verbringen, ist Unterricht", erläutert Karin Bossaller. In den Pausen zwischen den Wochenplanblöcken machen die Erzieherinnen Angebote für die Schülerinnen und Schüler, was die Lehrerinnen zusätzlich entlastet. Die Mentoren treffen sich derweil im Pausenraum, wo sie sich "immer wieder besprechen", wie die Konrektorin berichtet.

Christel Hempe-Wankerl ist überzeugt, dass sich das Präsenzzeit-Modell immer mehr durchsetzen wird: "Das Unterrichtsdeputat hat ausgedient." Genährt wird diese Zuversicht durch die Tatsache, dass die Zufriedenheit und die hohe Akzeptanz an der Borchshöhe mit der neuen Regelung anderen Schulen nicht verborgen geblieben sind. Mit der Tami Oelfken-Schule und der Grundschule an der Oslebshauser Heerstraße übernehmen zum jetzt beginnenden Schuljahr zwei weitere Bremer Schulen das neue Arbeitszeitmodell.

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