Ganztagsschule und Inklusion: "Nicht bange machen lassen" : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Die Qualität der Ganztagsschule besteht in ihrem Potenzial, die Inklusion zu unterstützen. Dies verdeutlichte die Fachtagung „Alle sind willkommen – Vielfalt in der Ganztagsschule“ am 23. und 24. September 2014 in Bochum.

Die Übung trägt den Titel „Kreative Zugänge zum Thema Inklusion“. Rund 30 Erwachsene stehen in einem Raum, mit braunen DIN-A4-Umschlägen in der Hand. In jedem Umschlag befindet sich ein Bild, das nur der Inhaber des Umschlages kennt. Nun erhalten alle die Aufgabe, die Briefumschläge so aneinanderzulegen, dass die Bilder eine sinnvolle Reihenfolge ergeben. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dürfen über den Inhalt ihrer Umschläge nur sprechen, ihn aber nicht zeigen. Sofort hebt ein wildes Durcheinandergerede und Hin- und Herlaufen an. Was zeigen die Bilder der anderen? Passt mein Bild zu den anderen? Und ergibt das alles überhaupt einen Sinn? Immerhin scheinen die Bilder völlig zusammenhangslose Motive zu zeigen: von völliger Schwärze über eine New Yorker Verkehrsszene bis zu einem Hahn auf einem Bauernhof.

Das Vorgehen ist unstruktuiert und chaotisch, langsam wächst die Reihe der Umschläge am Boden, bis nach rund 20 Minuten alle in einer Reihe liegen. Und obwohl es keine Absprachen oder ruhigen Diskussionen gegeben hat, überrascht das Ergebnis am Ende. Bis auf einen Ausreißer sind die Bilder tatsächlich in sinnvoller Reihenfolge aneinandergelegt worden.

Sabine Hüsemann von der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Berlin begleitet an diesem 23. September 2014 die Übung „Kreative Zugänge zum Thema Inklusion“ auf der Fachtagung „Alle sind willkommen – Vielfalt in der Ganztagsschule leben“ im Jugendgästehaus Bermuda3Eck in Bochum. Sie befragt anschließend die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach ihren Empfindungen während der Übung. „Frustriert“ ob des Chaos sind einige, andere aber finden dieses Herantasten an eine nicht näher definierte Lösung durch intensive Kommunikation „spannend“.

Kommunikation als Schlüssel

Die Übung illustriert am Ende ein Motiv, das auf der Fachtagung immer wieder aufscheint: Auch wenn man sich zu Beginn im Ziel nicht einig ist, auch wenn das Ziel gar unscharf erscheint, auch wenn der Wissensstand und das Engagement der Beteiligten unterschiedlich sind – eine ständige, intensive Kommunikation ist unerlässlich und erhöht die Erfolgsaussichten immens.

Ob nun Prof. Michael Urban von der Goethe-Universität in Frankfurt am Main in seinem Vortrag über den „Aufbau multiprofessioneller Teams“ und die „Ausweitung der Kooperationsmöglichkeiten“ referiert, Birgit Schröder von der Serviceagentur Nordrhein-Westfalen über ihre Erfahrungen berichtet, dass „Teamstrukturen entscheidend für den Erfolg sind“ oder Schulleiter Stephan Vielhaber von der Köllerholzschule in Bochum das Kommunizieren zu einer „Gelingensbedingung von Schule“ erklärt – die Zeiten des Nebeneinanderher-Arbeitens oder der indirekten Kommunikation über Schriftverkehr ins Elternhaus und turnusgemäße Elternabende sind laut Theorie und Praxis überholt.

Gerade die Inklusion fordert die Schulen noch mehr – und niemand kann diesem Thema ausweichen. „Durch die Unterzeichnung der UN-Konvention 2009 hat die inklusive Beschulung Rechtscharakter gewonnen“, erklärte Prof. Urban. In Nordrhein-Westfalen betrifft dies eine Gruppe von rund sieben Prozent der Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf (117.000 von insgesamt 1,6 Millionen Schülern im Jahr 2013). „Hier geht es nicht mehr um die Integration Einzelner, sondern um die Veränderung der Schule insgesamt“, führte der Erziehungswissenschaftler aus. „Wir kommen nun zu einer Schule für alle Kinder, die auf Etikettierungen, auf Labels und Zuweisungen verzichtet.“ Diese Idee der Transformation der Schule sei nicht neu, bereits in den 80er Jahren habe Prof. Helmut Reiser im Rahmen von „Integration“ dazu geforscht. Nun würden dessen Theorien wiederentdeckt und aufgegriffen.

Widersprüchliche und spannende Entwicklungen

Viele Schulen scheinen wie das Kaninchen vor der Schlage zu verharren, in sorgenvoller Erwartung, was da auf sie zukommt. „Die Stadt Essen macht es sich einfach und legt fest, welche Schule welche Kinder aufzunehmen hat. Es gibt aber nur eine Entlastungsstunde pro Schule“, klagt ein Schulleiter. „Mein Kollegium hat Angst vor Überforderung, besonders im Umgang mit lern- und erziehungsschwierigen Kindern.“

Es gebe „widersprüchliche Entwicklungen, die aber auch sehr spannend sind“, konstatiert Michael Urban. Auf der einen Seite sei die Politik seit Beginn des Jahrtausends bestrebt, das Schulsystem hinsichtlich der Qualifikationsfunktion (Unterricht) und der Allokationsfunktionen (Prüfungen) zu optimieren. Dies sorge für ein Spannungsverhältnis zum Aufbau der integrativen und inklusiven Strukturen. „Die Diskussion über Heterogenität und Individualisierung hat unabhängig von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung zugenommen – und dies berührt wiederum den Inklusionsgedanken.“

Inklusion ist laut Urban mit den Strukturen des Schulsystems „nicht mehr kompatibel“ – und es könne nicht darum gehen, allein Gesamtschulen nun zu einer Art Sonderschulen weiterzuentwickeln. „Nein, es muss etwas Neues entstehen“, meint der Wissenschaftler. Bei dieser Entwicklung zur inklusiven Schule komme der Ganztagsschule eine besondere Bedeutung zu. „Die Qualität der Ganztagsschule entsteht daraus, dass sie Möglichkeiten schafft, schulische Innovation auf vielen Ebenen parallel und wechselseitig befruchtend zu entwickeln, und dieses Potenzial unterstützt Inklusion.“

Wertschätzende Haltung den Eltern gegenüber einnehmen

So gehe es um die didaktische Pluralisierung, beispielsweise innere Differenzierung durch Wochenpläne, Stationen lernen, projektorientiertes Lernen, aber auch um dichte Begleitung und Monitoring, Peer-to-peer-Lernen und soziales Lernen. Interne und externe Beratungsstrukturen seien zu implementieren, wozu auch die Kooperation von Schulen gehört. Die empirischen Ergebnisse der von Urban durchgeführten Studie „Potenziale der Ganztagsförderschule“ zeigen, dass es insbesondere einer veränderten, wertschätzenden Haltung der Schule gegenüber den Eltern bedarf. Diese Haltung hängt dem Wissenschaftler zufolge wiederum von der Organisation der Ganztagsschule ab.

„Die einzelnen Innovationsaspekte kann man auch an einer Halbtagsschule umsetzen, aber das Klima und vor allem die zusätzliche Zeit, neue Dinge auszuprobieren, an einer Ganztagsschule lassen sich für die Inklusion besonders gut nutzen. Die Strukturentwicklungen können dort als besonders förderlich für die Inklusion betrachtet werden“, resümierte Michael Urban.

Stephan Vielhaber, der Schulleiter der Bochumer Köllerholzschule, kann dies nur unterstreichen. Er schickt voraus, dass seine dreizügige Grundschule ohne das Ganztagsangebot „wohl nur einzügig wäre“. Eine von der Stadt Bochum formulierte Gelingensbedingung ist eine „Ganztagsschule mit inklusiven Ansätzen und Profilbildung“. Diese bietet die Köllerholzschule und überzeugt damit offensichtlich die Eltern.

Sich ausprobieren, beweisen und Erfolgserlebnisse haben

„Wir haben es mit manchen Kindern zu tun, die es physisch in einem Klassenraum nicht aushalten, die immer wieder weglaufen und die wir einfangen müssen. Die Angst haben, dass ihre Eltern sie mittags nicht abholen, weswegen sie diese suchen wollen. Überhaupt spielt das Thema Angst eine immer größere Rolle“, so der Schulleiter. Mit viel Geduld und Zuwendung fange sein multiprofessionelles Team aus ausgesuchten, mit der Schule lange assoziierten Mitarbeitern diese Kinder immer wieder auf und buchstäblich ein.

Ein Viertel der 288 Schülerinnen und Schüler an der Grundschule besitzt einen Förderbedarf; 185 Kinder besuchen die seit 2004 bestehende Ganztagsschule, 65 weitere die Mittagsbetreuung. „Wir dürfen in der Schule keine Zweiklassengesellschaft etablieren“, spricht sich Vielhaber für einen möglichst breiten Besuch der Ganztagsschule aus. Den Schritt zur gebundenen Ganztagsschule wolle man indes noch nicht gehen. Bereits am Vormittag liegen die Lernwerkstätten, in denen auch „XXL-ADHS-ler“, wie Vielhaber es bezeichnet, sich ausprobieren, beweisen und Erfolgserlebnisse haben: sei es in der Imkerei oder der Holzwerkstatt. „Hier blühen sie auf und sind konzentriert bei der Sache“, berichtet Heinz Balzen, der ehrenamtlich in den Lernwerkstätten als „Ganztagsschul-Opa“ mitarbeitet.

Die Schülerinnen und Schüler werden am Morgen jahrgangs- und klassenübergreifend in Deutsch und Mathematik gefördert, dazu kommt eine Wochenstunde Chinesischunterricht im Klassenverband. Am Nachmittag arbeiten die Kinder in der Lernzeit. Die Lernzeiten werden von Ganztagskräften und Lehrkräften zum Teil gemeinsam durchgeführt.

Bildung für nachhaltige Entwicklung

In gemeinsamer Absprache mit den Eltern und Mitarbeitern entwickeln die Schülerinnen und Schüler einen persönlichen Plan. In diesem Plan ist festgelegt, wann sie an Kursen und Projekten teilnehmen und welche Zeiten sie für die Lernzeit nutzen. Auch das Freispiel findet angemessene Berücksichtigung, denn die Kinder bräuchten ebenso Zeit für Muße. „Wir dürfen nicht alles verplanen“, erklärt Vielhaber.

Einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Lernkultur der Köllerholzschule leistet der Schulgarten, der 1994 angelegt wurde und seither kontinuierlich erweitert worden ist. An vier Wochentagen ist die Schulgarten-AG anwählbar, in die auch die Eltern häufig eingebunden sind. Seit 2005 arbeitet die Schule in Kopplung an die weltweite UN-Bildungsdekade an der Umsetzung einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE). Schwerpunkt des laufenden Schuljahres ist die Entwicklung der Lehrpläne vor diesem Hintergrund, wobei das Leitfach traditionell der Sachunterricht ist. Daran sind alle pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Schule beteiligt.

„Von den weiterführenden Schulen kommen positive Rückmeldungen, was die Selbstständigkeit und Ausdauer unserer Schülerinnen und Schüler betrifft“, berichtet Stephan Vielhaber. Die starken Herausforderungen, denen sich seine Schule Tag für Tag von Neuem gegenüber sieht, redet der Schulleiter nicht weg. Er rät zur Gelassenheit im Prozess. Leidenschaft gehöre in die Arbeit mit dem Kind investiert. „Und es braucht einen konstanten Stamm von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die Visionen haben und sich nicht bange machen lassen.“

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