Ganztag muss selbstreguliertes Lernen unterstützen : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Welche Ziele setze ich mir, wie kann ich sie erreichen, was benötige ich zum Lernen? Antworten auf diese Fragen sind entscheidend für Schülerinnen und Schüler. Prof. Dr. Ferdinand Stebner von der Universität Osnabrück im Interview.

Online-Redaktion: Was bedeutet „selbstreguliertes Lernen“?
Prof. Dr. Ferdinand Stebner: Schön, dass wir gleich mit dieser Frage beginnen. Denn die Antwort ist eine entscheidende: Selbstreguliertes Lernen wird häufig mit offenen Lernsettings, also Formen der Freiarbeit oder Projektarbeit verwechselt. Das ist so nicht korrekt. Selbstreguliertes Lernen ist die Kompetenz, die für offene Lernformen wichtig ist. Selbstreguliertes Lernen ist aber genauso wichtig für geschlossene Lernformen, denn auch dort sollte ich ja mich selbst im Griff haben und die Lerninhalte aktiv verarbeiten. Selbstregulation steht im Kern für das Bewusstsein für sich selbst. Wie geht es mir, was kann ich leisten, benötige ich eine Pause? Was ist für mich der richtige Weg des Lernens, welche Instrumente, Materialien und Lernstrategien nutze ich? Welche Ziele stecke ich mir und wie erreiche ich diese?
Online-Redaktion: Darf man also Selbstregulation als gekonnte Nutzung eines Werkzeugkastens voller Lernstrategien betrachten?

Stebner: Durchaus. In jedem Menschen wirken selbstregulierende Kräfte. Lernen ist ein sehr subjektiver Prozess. Wir alle starten mit völlig unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen, angefangen bei der Umgebung, in der wir aufwachsen. Geschieht dies in einem neugierigen Umfeld mit an Bildung und Wissen interessierten Menschen? Lebe ich in einer Welt der Anpassung oder einer der Individualisierung? Welche Unterstützung erhalte ich?
Ich beispielsweise bin eher in einer Welt der Anpassung aufgewachsen. Das zog sich bis ins Studium durch. Ich liebte es, im Hörsaal zu sitzen, wurde aber deutlich weniger gerne im Seminar selbst aktiv. Schon vor diesem Hintergrund gibt es nicht den „richtigen“ und den „falschen“ Unterricht. Es gibt einen, der mich inspiriert, und einen, dem das nicht gelingt. Mein Werkzeugkasten an Strategien ermöglicht es mir, in jedem Setting klarzukommen, davon zu profitieren. Ich muss, um im Bild zu bleiben, „nur“ das richtige Werkzeug aus meiner Kiste nutzen. Wobei ich mir bewusst bin, dass die Wahl des Werkzeugs nicht immer einfach ist.
Kinder müssen das von früh an lernen und dabei auch erfahren, dass es erlaubt, ja sogar gewollt ist, dass sie sich selbst regulieren und dabei vielleicht auch mal Fehler machen. Sie müssen lernen, sich Ziele zu setzen und Wege zu wählen, diese zu erreichen. Sie müssen Reflexionsstrategien entwickeln, um ihr Handeln überprüfen zu können. Sie müssen sozusagen die Vogelperspektive auf den Prozess ihres Lernens einnehmen.

Online-Redaktion: Wie können Kinder und Jugendliche das erreichen?
Stebner: Wir kennen von vielen Schulen die Projekte „Lernen lernen“. Dort werden meist eine Woche lang mögliche Lernstrategien vorgestellt und ein wenig trainiert. Die empirische Lernforschung zeigt aber: So etwas bringt wenig bis gar nichts. Es bleibt nichts haften. Man könnte auch sagen, die Aufmerksamkeit wird nur sehr kurz auf dieses so wichtige Element der individuellen Förderung gelenkt. Diese Form von „Lernen lernen“ ist meistens nicht nachhaltig und unterstützt kaum den Transfer in andere Fächer oder das außerschulische Leben.
Besser ist es, wenn Schülerinnen und Schüler möglichst frühzeitig eigenes Lernstrategiewissen aufbauen – dies aber intensiver und kontinuierlich. Dann verfügen sie auch über sogenanntes metakognitives Wissen, das sie in andere Fächer, ja sogar in ihre Lebenswelt transferieren können, wenn es intensiv und regelmäßig unterstützt wird. Meines Erachtens sollte es Bestandteil des Schulalltags sein, in jedem Fach und in regelmäßigen Abständen in normalen Unterrichtsstunden, sofern es sie noch gibt, 10 bis 15 Minuten darauf zu verwenden, die Schülerinnen und Schüler direkt, also explizit, zu unterstützen, die für sie und die Lerninhalte passenden Lernstrategien zu finden und zu trainieren. Hier wird deutlich, dass dies womöglich einen Paradigmenwechsel voraussetzt, den einige Schulen bereits vollzogen haben, denn hier stellt sich die Frage: Worum geht es in Schule wirklich?

Die Schülerinnen und Schüler sollen erkennen, welche Ziele zu ihnen passen und dass diese sehr unterschiedlich zu den der anderen Schülerinnen und Schüler sein können. Wenn ich meine Stärken, Schwächen und Neigungen erkenne, frustriert mich auch eine schlechtere Note weniger, da ich schaue, wieweit ich von meiner Ausgangsposition aus gekommen bin. Was sich, ganz nebenbei bemerkt, auch positiv auf die eigene Gesundheit auswirkt. Diese direkte Förderung sollte Hand in Hand gehen mit der indirekten Förderung, mit der Möglichkeit, sich auszuprobieren. Wochenpläne oder Logbücher beispielsweise sind da gute Hilfsmittel. Es geht also darum, das in der direkten Förderung Erarbeitete als Lehrkraft immer wieder zu triggern, damit die Schülerinnen und Schüler sehen: „Ah, hier kann ich das auch anwenden!“.
Online-Redaktion: Viele Fachlehrerinnen und -lehrer werden zu bedenken geben, dass sie zu wenig Zeit im Unterricht haben, weil sie ja Fachwissen vermitteln müssen…

Stebner: Das Argument ist vordergründig nicht von der Hand zu weisen. Denn Fachwissen ist wichtig, um Kompetenzen zu erwerben und zu festigen. Fachwissen ist so etwas wie die Wolle, die wir zum Stricken benötigen. Zweitens wollen Kinder sich Wissen aneignen und drittens ist Fachwissen zum Teil überlebenswichtig. Untersuchungen zeigen aber immer wieder, dass Menschen, die kognitive in Kombination mit metakognitiven Lernstrategien anwenden können – also beispielsweise eine Lesestrategie nutzen und sich zugleich ein Ziel dafür setzen –, erfolgreicher lernen. Unter dieser Prämisse ist die Zeit, die wir nutzen, um den Lernenden das Nachdenken über das eigene Wissen und die Anwendung von Lernstrategien zu ermöglichen, nicht verschenkt. Im Gegenteil, es sind sehr sinnvoll eingesetzte Minuten und Stunden. Leider ist das zu wenig Thema in der Lehrkräfteausbildung. Wie sollen es dann Schülerinnen und Schüler lernen? Hier muss sich grundlegend etwas ändern.
Online-Redaktion: Gibt es Anlass zu Optimismus?

Stebner: Durchaus. Die Erkenntnis, dass Bildung mehr ist als nur Lernen und Leistung, setzt sich doch immer wieder durch. Denn Bildung kann man nicht vermitteln, wie Wolfgang Klafki schon festhielt. Und so kann man selbstreguliertes Lernen als einen kleinen Teil von Bildung verstehen, der es ermöglicht, sich selbst und die von Informationen überflutete Welt bewusst zu erschließen.
Aktuell entwickeln wir an der Universität Osnabrück in einem Projekt mit sechs Grundschulen im Rahmen des Kompetenzverbunds lernen:digital, der vom BMBF gefördert wird, Konzepte für Schulen, die eine Kultur des selbstregulierten Lernens leben wollen. Daraus soll ein digitales Fortbildungsangebot erwachsen, auf das später alle Schulen bundesweit zugreifen können. Dabei erörtern wir auch, wie die durch den Ganztag gewonnene Zeit genutzt werden kann, das selbstregulierte Lernen zu unterstützen.
Online-Redaktion: Setzt das mit Blick auf den Ganztag nicht voraus, dass das gesamte Personal im Ganztag geschult wird?

Stebner: Minimum ist, dass alle Fachkräfte im Ganztag das Leitbild der Schule, aber auch das Verständnis von Lernprozessen kennen und teilen. Wir plädieren dafür, auch sie fortzubilden und mit der Idee und der Bedeutung des selbstregulierten Lernens vertraut zu machen.
Online-Redaktion: Wie könnte das gelingen?
Stebner: Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Gemeinsam mit einigen Projektschulen haben wir das Forschungsprojekt MineQuartier entwickelt, ein Pilot-Praxisprojekt, das von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt gefördert wird. Damit sollen Schülerinnen und Schüler in ihrem eigenen Quartier eine nachhaltige Lebenswelt schaffen und an das Thema „Energie- und ressourcenschonende Quartiersentwicklung“ herangeführt werden, indem sie beispielsweise lernen, was eine nachhaltige Bushaltestelle und was eine zirkuläre Stadt ist.

Mit Minecraft, einem der erfolgreichsten Open-World-Spiele der Welt, können wir neue virtuelle Lernwelten zu diesem Thema schaffen und die Schülerinnen und Schüler zugleich beim selbstregulierten Lernen unterstützen. Wir werfen zum Beispiel einen Blick darauf, wie selbstregulierende Kräfte beim Spielen – man kann auch sagen: „Zocken“ – wirken: Bin ich in der Lage, selbst zu erkennen, wann Schluss sein muss oder wie sehr ich mich vom neben mir liegenden Handy in der Konzentration und Aufmerksamkeit ablenken lasse?
Wir verknüpfen also Inhalt mit selbstreguliertem Lernen und automatisch auch mit der Förderung von Medienkompetenz. In diesem Projekt wird deutlich, wie groß die Bedeutung der Selbstregulation auch im Leben der Schülerinnen und Schüler ist – sowohl im schulischen als auch im außerschulischen Leben. Spätestens wenn wir die Lehrkräfte fortbilden, wird jeder Lehrkraft bewusst, wie wichtig es ist, dass Kinder und Jugendliche wissen, wie man lernt.

Entscheidend wird sein, ob es uns gelingt, die Überzeugung zu fördern, dass nicht nur Strategien zur Wissensaneignung wie Lesetechniken zählen, sondern auch Lernstrategien, die das eigentliche Lernen unterstützen und erfolgreicher machen – ob im Unterricht, im Ganztag oder im lebenslangen Lernen. Wenn die Probephase evaluiert ist, möchten wir das von uns entwickelte Unterrichtsmaterial öffentlich zugänglich machen.
Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
Kategorien: Ganztag vor Ort - Lernkultur und Unterrichtsentwicklung
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