Fördern gegen den Frust: Ganztagshauptschule Aretzstraße : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Die Ganztagshauptschule Aretzstraße in Aachen erhielt als eine der ersten des Landes das neue Gütesiegel für individuelle Förderung.
Erfolgreiche Schulen, die mit Preisen bedacht werden, stehen manchmal im Verdacht, günstigere Ausgangsbedingungen als andere zu haben - zusätzliche Finanzmittel, mehr Personal oder ein unproblematisches Einzugsgebiet durch sozial besser gestellte Familien. So manch andere Schule relativiert die Auszeichnung: "Ja, wenn wir solche Bedingungen hätten, könnten wir auch so erfolgreich arbeiten."

Die Ganztagshauptschule Aretzstraße in Aachen wird am 3. Februar 2007 von der nordrhein-westfälischen Schulministerin Barbara Sommer als eine von zwei Schulen des Landes mit dem neu geschaffenen "Gütesiegel für individuelle Förderung" ausgezeichnet. Diese Schule kann keineswegs besonders günstige Umstände für sich geltend machen. "Wir bekommen es hier von allen Seiten", stellt Schulleiter Manfred Paul lakonisch fest. Seine Schule liegt in einem Viertel, das man mit dem viel bemühten Terminus "sozialer Brennpunkt" beschreiben kann: Ein ehemaliges Arbeiterviertel, das nun durch Arbeitslosigkeit, eine Drogenszene und einen sehr hohen Migrantenanteil geprägt wird - dem Schulleiter zufolge ein "ganz schwieriger Standort".
Um so mehr zählt die Auszeichnung des Landes. Und besieht man sich einen Stundenplan der Hauptschule Aretzstraße, kann man das Gütesiegel für individuelle Förderung allemal als wohlverdient bezeichnen. An jedem der fünf Tage, an denen der gebundene Ganztagsunterricht bis 16 Uhr dauert, sind Stunden für individuelle Förderung geblockt: Schon vor dem eigentlichen Unterrichtsbeginn um 8.00 Uhr finden jeweils 15 Minuten Förderung von einzelnen Schülerinnen und Schülern statt. Im weiteren Tagesverlauf gibt es in der fünften Stunde unterrichtsorientierte Fördermaßnahmen im so genannten "Wochenplan plus", bei dem die Lehrerinnen und Lehrer auch Kinder und Jugendliche zum Beispiel für Konzentrationsübungen herausnehmen können. "Eine Kollegin sucht gezielt Angebote für die Schülerinnen und Schüler heraus, sodass jede und jeder in diesen Genuss kommt", erläutert der Rektor. Darüber hinaus gibt es nicht unmittelbar unterrichtsorientierte Fördermaßnahmen für alle Schülerinnen und Schüler einer Jahrgangsstufe und Förderunterricht in Fachgruppen.
Förderunterricht gleichrangig mit Fachunterricht
Vor 15 Jahren führte die Hauptschule Aretzstraße die offene Ganztagsschule ein. Im Rahmen der "Qualitätsoffensive Ganztagshauptschule" des Landes Nordrhein-Westfalen, das dafür zusätzliche Mittel bereitstellt, findet der Ganztagsunterricht jetzt in gebundener Form statt. Der Förderunterricht ist dabei gleichrangig im Vormittag verankert und wird auch benotet. "Für die Schülerinnen und Schüler ist das ein wichtiges Signal, und auch schwächere Schüler bekommen einen Motivationsschub", meint Paul. Die früher an den Schultag angehangenen Fördernachmittage, die als "nicht so wichtig wie das Curriculum" betrachtet wurden, hatten sich nicht bewährt.
Der Tag gliedert sich in vier Stunden Unterricht beziehungsweise Förderunterricht, die Wochenplanstunde, eine Stunde Mittagspause mit Essensausgabe und drei Stunden Unterricht am Nachmittag. Um den Tag für die Kinder überschaubar zu halten, erhält jede Klasse in Blöcken gegliederten Unterricht: Zum Beispiel Computer und Technik, Sport oder Kunst und Musik. Eine Unterrichtsstunde dauert 45 Minuten. "Wir würden gerne auf 60 Minuten gehen, um methodisch noch besser arbeiten zu können", berichtet der Schulleiter über den intensiven Diskussionsprozess.
All diesen Maßnahmen liegt ein Schulprogramm zu Grunde, das sich in den vergangenen Jahren entwickelt hat und Schule als Ort des Förderns und Forderns, des selbstständigen Lernens, der Werteorientierung und als ermutigenden Lebensraum postuliert. Ohne die Maßnahmen der individuellen Förderung wäre es um diese Ermutigung schlecht bestellt, denn viele der Hauptschülerinnen und Hauptschüler sehen ihre Zukunftschancen auf dem Arbeitsmarkt realistischerweise als schlecht an.
"Es heißt immer, die Schülerinnen und Schüler seien so viel schlechter als früher", stellt Schulleiter Paul fest. "Das können wir nicht bestätigen. Die Anforderungen der Arbeitswelt sind wesentlich höher als noch vor zwanzig Jahren, als selbst schwächere Schüler noch einen Arbeitsplatz finden konnten. Heute reicht ein Hauptschulabschluss nicht mehr aus, und wir sollen auf einmal aus allen unseren Schülerinnen und Schülern High-Tech-Experten machen. Deshalb müssen wir uns so anstrengen."
Ab Klasse 9 beginnt der Frust
Viele Schülerinnen und Schüler, die von den Grundschulen in die Hauptschule Aretzstraße kommen, sind laut Paul sehr leistungsschwach. "Wir bauen sie dann neu auf, sie erzielen erhebliche Wissensfortschritte und sind bis in die 8. Klasse motiviert. In der 9. Klasse müssen sie sich konkreter mit ihrer beruflichen Zukunft auseinandersetzen, stecken sich Ziele, die sie nicht erreichen können - und der Frust geht los." Es sei dann oft schwierig, die Schülerinnen und Schüler auf den Boden der Realität zu holen. Zumal wenn sie ja nicht zu Unrecht klagen, dass sie gut gelernt hätten und die Wirtschaft dennoch keine Verwendung für sie findet.

Die Schule antwortet darauf, indem sie einen Schwerpunkt auf die Berufsvorbereitung legt: Lebende Werkstätten, Rollentauschpraktika in Klasse 8, Berufswahlpass ab Klasse 7, verschiedene individuelle Praktika ab Klasse 8, Berufsorientierungsklassen, die Schülerfirma TuWas, eine Kooperation mit der regio iT Aachen, ein Berufseignungstest ab Klasse 7, Wahlpflichtunterricht Arbeitslehre, Betriebsbesichtigungen und Ausbildungspaten sind Elemente, die teilweise bereits ab der 5. Klasse eingesetzt werden.
Dank des 30-prozentigen Stellenzuschlags, den das Land gebundenen Ganztagshauptschulen in der "Qualitätsoffensive Ganztagshauptschule" gewährt, und der Möglichkeit der Kapitalisierung von Stellen hat die Hauptschule Aretzstraße eine Sozialpädagogin für das Berufswahlzentrum in der Schule engagieren können. Diese hat ausdrücklich den Auftrag, die Schülerinnen und Schüler realistisch zu beraten. Ab der Mittagspause können die Jugendlichen dort vorbeischauen.
Für jeden Schüler eigene Wege finden
Weitere finanzielle Mittel für den Ganztag gehen in die Integrationsbegleitung, denn 80 Prozent der rund 400 Kinder und Jugendlichen besitzen über einen Migrationshintergrund. Ein Schulsozialarbeiter mit halber Stelle begleitet rund 15 bis 20 Schülerinnen und Schüler und deren Familien durch das Jahr. "Schule allein könnte so etwas überhaupt nicht leisten", räumt Manfred Paul ein. Allein diese beiden Einrichtungen - Berufswahlzentrum und Integrationsbegleitung - seien extrem hilfreich.
Bei allen Maßnahmen ist für den Schulleiter das soziale Lernen der wesentliche Bestandteil des Schullebens. Empathie von Lehrerseite müsse sein, damit die Schülerinnen und Schüler negative Leistungen verkraften könnten. Dazu gelte es, für jeden Schüler und jede Schülerin individuelle Wege zu finden. Die Lehrerinnen und Lehrer müssen sich dazu in ihrer Arbeitsweise umstellen, was zunächst einigen Kolleginnen und Kollegen Probleme bereitete. "Nur die Erhöhung der Stundenzahl brachte nichts, weil manche Lehrerinnen und Lehrer in die alten Strukturen zurückfielen und allein ihre Curricula durchziehen wollten", weiß der Rektor.
Mit eigenen Fortbildungen schulte sich das Kollegium in anderen Unterrichtsformen abseits des klassischen Frontalunterrichts und bildete Lehrerteams. "Es gibt ältere Kolleginnen, die gut mit dem Frontalunterricht arbeiten und die die Kinder mit Autorität und Empathie für sich gewinnen - da verändere ich nichts", schildert der Schulleiter. "Aber die Kolleginnen und Kollegen müssen sich auch mit anderen Lehrmethoden vertraut machen." Ein Hauptziel sei das eigenständigere Lernen, das die Lehrerinnen und Lehrer entlaste, und ein handlungsorientierter Unterricht. "Wir können nicht acht Stunden hinter Büchern sitzen", meint Manfred Paul. Zum Glück sei sein Kollegium experimentierfreudig.
Förderunterricht wirkt oft Wunder
Klargestellt werden musste zu Beginn, dass die zwei Förderunterrichtsstunden nicht zum Erledigen von Hausaufgaben gedacht waren. Die Inhalte des Förderunterrichts sind teilweise losgelöst vom Unterricht, denn beim Fördern "geht es nicht ums Lernen, sondern ums Verstehen", wie es Paul ausdrückt. Als Lehrerin und als Lehrer müsse man wissen, warum Schüler bestimmte Fehler machten. Zu dieser Diagnostik setzt die Hauptschule Aretzstraße Förderbögen ein. Für die Anforderungen in Deutsch sind in diesen Bögen feste Vorgaben definiert - denn natürlich ist gerade die deutsche Sprache ein Knackpunkt an der Schule. Mangelndes Sprachverständnis zieht auch die Leistungen in naturwissenschaftlichen Fächern in Mitleidenschaft. Daher nehmen alle Schülerinnen und Schüler der Klassen 5 bis 7 an Deutschtrainingskursen teil.
Die Schule hat für zusätzlichen Förderbedarf das Lernzentrum eingerichtet, für das Kolleginnen und Kollegen freigestellt werden. Hierzu verwendet die Schule die Stunden, die sie durch die Integrationszuschläge erhält. Die Lehrerinnen und Lehrer sprechen sich ab, welche Schüler jeweils zusätzlichen Förderbedarf haben. Vier Stunden pro Woche und Jahrgang können dann drei bis vier Kinder mit Lernproblemen in ruhiger Atmosphäre zum Beispiel am Computer lernen, was "oft Wunder wirkt", wie Konrektorin Anne Wahl beobachtet hat. Das Verpassen des Regelunterrichts nimmt man dabei in Kauf: "Die Schüler kriegen da so viel mit, dass sie auch was verpassen dürfen." Ebenso hilfreich sind die individuellen Förderzeiten von einer Viertelstunde in der Mittagspause, die individuell mit den Kindern und Jugendlichen ausgehandelt werden und große Fortschritte erzielen.
"Die einzig richtige Form, Schule zu machen"
Es ist eine eigene Kunst, diese ganzen Fördermaßnahmen mit dem Stundenplan zu verzahnen. Die Schulleitung plant seit drei Jahren alles zum Schuljahresbeginn - offenbar erfolgreich, denn die Arbeitszufriedenheit ist groß: "Wir haben verhältnismäßig wenig Stress", meint Manfred Paul. Zwar gibt es kein Präsenzzeitmodell, aber immer mehr Kolleginnen und Kollegen wollen in der Schule über ihren Unterricht hinaus arbeiten. Die Hauptschule Aretzstraße hat Mittel aus dem Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" (IZBB) zu diesem Zweck eingesetzt: "Lehrerarbeitsplätze sind eine ganz entscheidende Sache", so der Schulleiter, "und abschließbare Schränke eine Voraussetzung."
Für den Schulleiter steht fest: "Die Ganztagsschule ist die einzig richtige Form, Schule zu machen." Die Ganztagshauptschule Aretzstraße nutzt die zusätzliche Zeit auch für Sport- und Musikangebote, Entspannungsübungen, Ergotherapie, Kooperationen mit Sportvereinen, der Wirtschaft, dem Handwerk, der Schuldnerberatung, der AIDS-Hilfe und der Fachhochschule.
Die Arbeit der Schule erfuhr schon vor dem Gütesiegel viel Wertschätzung, so mit dem Aachener Friedenspreis und dem Hauptschulpreis. Die Presse stellt die zahlreichen Aktivitäten der Hauptschule gebührend heraus. Dennoch stimmen die Eltern laut Paul immer noch "nach dem Namen" ab, wenn es um die Entscheidung geht, auf welche Schule ihre Kinder nach der Grundschule gehen sollen. Die Gesamtschule hat dann die Nase vorn. "Unsere Arbeit wären noch erfolgreicher, wenn wir eine heterogenere Schülerschaft hätten", ist der Rektor überzeugt. Eine "Schule für alle" wäre auf jeden Fall erstrebenswert.
Kategorien: Ganztag vor Ort - Lernkultur und Unterrichtsentwicklung
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