Erzieherinnen in Ganztagsgrundschulen : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Unter welchen Bedingungen arbeiten Erzieherinnen in Ganztagsgrundschulen? Dieser Frage ging Prof. Dr. Bernd Rudow in einer Studie an Berliner Schulen nach.

An einer Kooperation von arbeits- und erziehungswissenschaftlicher Forschung mangelt es noch, wenn es um die Arbeitsbedingungen des pädagogischen Personals in Ganztagsschulen geht. Das meint der Arbeitswissenschaftler Prof. Dr. Bernd Rudow. Nach Studien zur Arbeitsbelastung von Lehrkräften hat sich Rudow bereits vor 15 Jahren auch den Arbeitsbedingungen von Erzieherinnen und Erziehern zugewandt. 2013/2014 hat er im Auftrag der Max-Traeger-Stiftung und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft eine Untersuchung zur Arbeitssituation von Erzieherinnen in Berliner Ganztagsgrundschulen durchgeführt. Rund 1.400 Erzieherinnen nahmen daran teil. Die Ergebnisse seiner Studie „Belastungen von Erzieherinnen in der Arbeit an der Schule“ erlangten viel Aufmerksamkeit. Im Interview erläutert der Arbeitswissenschaftler seine Untersuchung und warnt zugleich vor einseitigen Interpretationen.

Online-Redaktion: Prof. Rudow, was erforscht ein Arbeitswissenschaftler?

Prof. Bernd Rudow: Der Gegenstand der Arbeitswissenschaft sind Arbeitssysteme verschiedenster Art. Dazu zählen wir die Arbeitsaufgaben, den Arbeitsplatz, die Arbeitsräume, die Arbeitsmittel, die Arbeitsorganisation einschließlich Arbeitszeit, die Arbeitsumgebung wie Lärm oder Klima, aber auch soziale Bedingungen. Bei den Erzieherinnen sind es in erster Linie die Kinder.

Schulklasse im Kreis auf dem Boden des Klassenzimmers
Hannah-Höch-Grundschule Berlin © Britta Hüning

In der Arbeitswissenschaft gibt es drei Hauptaufgaben. Erstens die Arbeitsanalyse: Hier geht es darum, die genannten Arbeitsbedingungen zu erfassen. Daraus resultiert als zweite Aufgabe die Arbeitsbewertung, und zwar unter humanen und unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Human bedeutet: Wie gesund und wie belastend ist die Arbeit? Wirtschaftlich heißt: Wie wertschöpfend ist die Arbeit?

Aus diesen beiden Aufgaben resultiert als dritte, entscheidende Aufgabe die Arbeitsgestaltung. Die Arbeitswissenschaftler wollen nicht nur den Status quo feststellen, sondern letztendlich dazu beitragen, die Arbeit im Sinne der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter besser zu gestalten.

Online-Redaktion: Was heißt das übertragen auf Ihre Studie über die Arbeit von Erzieherinnen an Berliner Ganztagsgrundschulen?

Rudow: Wir erfassen die Wirkungen der Arbeitsbedingungen auf die Leistungsfähigkeit, auf die Belastung und auf die Gesundheit der Erzieherinnen. Dadurch stellt man die Auswirkungen auf die Qualität der pädagogischen Arbeit fest.

Online-Redaktion: Die von Ihnen genannten Arbeitssysteme sind allesamt quantifizierbar. Aber wie sieht es mit der Arbeitszufriedenheit oder der Wertschätzung der Arbeit durch Dritte aus? In Ihrer Studie spielt gerade Letztere eine große Rolle. Wie lässt sich so ein „weicher Faktor“ messen?

Rudow: In der Arbeitswissenschaft gibt es verschiedene disziplinäre Ansätze, mit denen auch solche scheinbar weichen Faktoren erfasst werden können. Die klassische Arbeitswissenschaft kommt ursprünglich aus der Technik. Von Hause aus bin ich Arbeitspsychologe und konzentriere mich mehr auf die Auswirkungen der Arbeitsbedingungen auf den Menschen. Dazu gehört die Arbeitszufriedenheit. Sie ist zwar ein subjektiver Faktor, aber die Arbeitswissenschaft hat Methoden entwickelt, die sie messbar und quantifizierbar machen. Für diese Studie habe ich einen Fragebogen mit zehn Items entwickelt, mit denen man die Arbeitszufriedenheit, das Wohlbefinden und die subjektive Gesundheit der Erzieherinnen objektiv erfassen kann.

Online-Redaktion: Was war der Anlass für die aktuelle Studie?

Rudow: Seit etwa 15 Jahren beschäftige ich mich mit der Arbeit von Erzieherinnen, was mich gewissermaßen zu einem Pionier zu diesem Thema in der Arbeitswissenschaft gemacht hat. 2003/2004 leitete ich die erste große Studie zur Arbeit von Kita-Erzieherinnen, an der über 1.000 Erzieherinnen in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt beteiligt waren. Eine zweite große Studie zur Arbeit von Erzieherinnen habe ich von 2005 bis 2007 durchgeführt. In beiden Projekten arbeitete ich vor allem mit der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft zusammen.

2011 entstand dann die Idee, gemeinsam eine weitere größere Studie über Erzieherinnen in Ganztagsgrundschulen durchzuführen. Wir haben uns dabei auf Berlin bezogen, weil es dort seit 2005 ein Modell für Ganztagsgrundschulen gibt, das an sich progressiv hinsichtlich der Zusammenarbeit von Erzieherinnen und Lehrkräften ist.

Online-Redaktion: Wie sind Sie die Studie angegangen?

Rudow: Meine Aufgabe bestand darin, entsprechende Methoden für die Diagnostik der objektiven und subjektiven Faktoren zu prüfen und zu entwickeln. Im ersten Schritt haben wir im Rahmen einer Tätigkeitsanalyse die Arbeitsaufgaben und einzelne Tätigkeiten der Erzieherinnen erfasst. Das geschah durch Beobachtungen, für die ich selbst in vier ausgewählten Ganztagsschulen war, und durch halbstandardisierte Interviews mit den Erzieherinnen. Diesen Schritt bezeichnen wir als Pilotstudie, bei der es darum ging, die Tätigkeit der Erzieherinnen im Wesentlichen kennenzulernen.

Ausgehend von dieser Pilotstudie haben wir diagnostische Methoden zur Erfassung der psychischen Belastungen der Erzieherinnen und deren Auswirkungen, zum Beispiel Stress- und Ermüdungserleben, entwickelt und überprüft. Erfasst wurden die psychischen Belastungen, das Beanspruchungserleben, psychische und psychosomatische Beschwerden, Burnout, die Arbeitszufriedenheit und weitere Ressourcen für die Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Erzieherinnen. Erfreulicherweise haben sich an der Studie rund 1.400 Erzieherinnen beteiligt. Das ist eine große und repräsentative Stichprobe. Die Ergebnisse sind damit sehr aussagekräftig.

Online-Redaktion: Die Ergebnisse ihrer rund 80 Seiten starken Studie wurden in der Presseöffentlichkeit häufig auf die Aussage „Ganztagsschulen machen Erzieherinnen krank“ zugespitzt. Trifft das Ihre Forschungsergebnisse?

Rudow: Überhaupt nicht. Im April fand eine Pressekonferenz der GEW zur Präsentation der Studie statt. Dort habe ich rund 20 Minuten über die Ergebnisse referiert und dabei unter anderem die Burnout-Problematik bei Erzieherinnen erwähnt. Ich habe gesagt, dass bei 14 Prozent der Erzieherinnen Burnout-Tendenzen bestehen. Da dieser Begriff sehr populär und medienwirksam ist, wurde er sofort aufgenommen und in den Mittelpunkt gestellt, obwohl ich ausdrücklich dargestellt hatte, dass man die Arbeit der Erzieherinnen in den Ganztagsgrundschulen nicht auf diesen Begriff reduzieren kann. Aus wissenschaftlicher Sicht ist es unzulässig, das Ganze so einseitig auf die Formel „Ganztagsschule macht krank“ zu vereinfachen. Ich bedauere sehr, dass das teilweise so dargestellt wurde.

Online-Redaktion: Welche Ergebnisse sind Ihnen besonders wichtig?

Rudow: Wir können konstatieren, dass die psychischen und die körperlichen Belastungen der Erzieherinnen in der Ganztagsgrundschule relativ hoch sind. Das ist hauptsächlich dem Lärm und den für Erzieherinnen unergonomischen Möbeln geschuldet. Psychische Belastungen entstehen besonders durch die Gruppengrößen. Eine Erzieherin ist im Durchschnitt für 27 Kinder zuständig. Der Schlüssel sollte aber etwa bei 1 zu 20 liegen.

Schülerinnen und SChüler einer Grundschule im Klassenraum
© Britta Hüning

Ein weiterer Belastungsgrund ist, dass Erzieherinnen sehr häufig für ausfallende Lehrkräfte einspringen müssen. Statt vier Stunden sind sie bis zu zwölf Stunden in der Woche unterrichtsbegleitend tätig. Diese Zeit fehlt dann für die eigentliche Erziehungsarbeit. Die Personalausstattung der Erzieherinnen in den Ganztagsgrundschulen ist deutlich unzureichend. Das wirkt sich auch auf das Ermüdungs- und Stresserleben aus. Das ausgeprägte Ermüdungserleben ergibt sich vorrangig durch die langen Arbeitszeiten und fehlende Pausen. Das kann über die Zeit zu Erschöpfungszuständen, also zum Burnout führen.

Wir haben andererseits festgestellt, dass die meisten Erzieherinnen mit ihrer Arbeit zufrieden sind. Die Arbeitszufriedenheit ist relativ hoch. Das ist eine wichtige Gesundheitsressource. Sie ist besonders auf den Spaß in der Arbeit mit den Kindern zurückzuführen und darauf, dass die Erzieherinnen kreativ und im Team arbeiten können. Teamarbeit bedeutet oft soziale Unterstützung und ist somit ein sog. Stresspuffer.

Online-Redaktion: Ihre Studie hält fest, dass nur etwa ein Drittel der Erzieherinnen unter 45 Jahre alt ist. Steigt das Belastungsempfinden auch institutionsunabhängig mit dem Alter?

Rudow: Ältere Erzieherinnen haben mehr Probleme durch den Lärm und die kind-, aber nicht erwachsenengerechten Möbel. Andererseits haben sie einen Vorteil durch ihre Berufserfahrungen. In der Summe führt das höhere Alter nicht zwangsläufig zu höheren psychischen Belastungen. Das wäre eine zu einseitige Betrachtung.

Online-Redaktion: Welche Schlussfolgerungen ergeben sich für Sie aus der Untersuchung?

Rudow: Nach den Ergebnissen meiner Studie muss die Personalausstattung verbessert werden. Zweitens muss geprüft werden, inwieweit die mittelbare pädagogische Arbeit mit Vor- und Nachbereitung in der Dienstplanung Berücksichtigung findet. Die pädagogisch anspruchsvolle Tätigkeit der Erzieherinnen benötigt mehr Zeit. Diese fehlt häufig.

Drittens müsste die Kooperation der Erzieherinnen mit den Lehrkräften und der Schulleitung neu justiert werden. Schulleitungen haben traditionell die Arbeit der Lehrkräfte und die Unterrichtsgestaltung im Fokus, aber nicht hinreichend die Arbeit der Erzieherinnen. Die Erzieherinnen und Erzieher fühlen sich dadurch in ihrer Arbeit nicht genügend gewürdigt. Auch die Gesellschaft erkennt die schwierige Arbeit der Erzieherinnen nicht ausreichend an. In der Öffentlichkeit ist die Tätigkeit der Erzieherinnen und Erzieher in den Schulen kaum bekannt. Denn Schule wird auf die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer reduziert.

Viertens ist die Raumsituation häufig unzureichend. Noch immer sind viele Schulen auf Unterricht, aber nicht auf den Ganztagsbetrieb eingerichtet, sodass Räume oft doppelt für Unterricht und Betreuung genutzt werden. Fünftens ist zu prüfen, wie im Sinne einer ganztägigen Rhythmisierung besonders in den gebundenen Ganztagsschulen Lehrkräfte und Erzieherinnen besser zusammenarbeiten und unter anderem Erholungspausen eingebaut werden können. Das Berliner Modell der Ganztagsgrundschule ist prinzipiell gut. Es muss aber aus arbeitswissenschaftlicher Sicht verbessert werden.

Online-Redaktion: Sie haben in Berliner Ganztagsgrundschulen geforscht. Ist das eine sehr spezifische Ausgangslage, oder lassen sich die Ergebnisse verallgemeinern?

Rudow: Wir haben die Studie als Modellstudie deklariert. Die meisten festgestellten Punkte wie zum Beispiel Gruppengrößen oder Wertschätzung lassen sich auf andere Bundesländer übertragen. Die Studie ist wegweisend über Berlin hinaus. Wir planen derzeit eine vergleichende Studie in Ganztagsschulen von Baden-Württemberg, Berlin, Hessen und Rheinland-Pfalz. Ich hoffe, dass dabei die Arbeitswissenschaft und die Erziehungswissenschaften enger zusammenwirken werden.

Zur Person:

Prof. Dr. rer. nat. habil. Bernd Rudow: Studium der Psychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, Schwerpunkt Arbeits- und Ingenieurpsychologie. Promotion (Dr. rer. nat.) an der Technischen Universität Dresden, Habilitation und Venia Legendi für Psychologie an der Universität Mannheim. Professuren für Arbeitswissenschaft oder Psychologie an der Hochschule Merseburg, Universität Heidelberg und Universität Koblenz-Landau.

Forschungen im Bereich der Arbeitswissenschaft, Arbeitsorganisation und Arbeitsgestaltung, u. a. zu Tätigkeit, Belastungen und Gesundheit von Lehrkräften, Erzieherinnen und Erziehern sowie Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern.

Rudow, B. (2014). Die gesunde Arbeit. Arbeitsgestaltung. Psychische Belastungen und Arbeitsorganisation. München/Berlin: De Gruyter Oldenbourg.

Rudow, B. (2000). Arbeits- und Gesundheitsschutz im Lehrerberuf. Ludwigsburg: SPV.

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