Entwicklungskongress in Bayern: Vielfalt als Chance : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Dem Titel „Vielfalt“ angemessen war das Angebot des Entwicklungskongresses für bayerische Ganztagsschulen. Er fand am 3. Dezember 2012 im Veranstaltungsforum des Klosters Fürstenfeldbruck statt.

Rund 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, zumeist Schulleiter und Lehrkräfte hatten sich im verschneiten Fürstenfeldbruck zum gemeinsam von der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Bayern und dem Institut für Schulentwicklungsforschung Dortmund (IFS) organisierten Kongress eingefunden. Engagiert diskutierten sie in Foren über Heterogenität, individuelle Förderung, Lernkultur und Qualitätssicherung. Vor allem aber profitierten sie vom wechselseitigen Austausch der Gedanken, Ideen und Umsetzungswege. „Wir haben uns gerade zu einer Hospitation verabredet“, erklärte eine Schulleiterin. Sie erhofft sich vom Besuch einer „altgedienten“ Ganztagsschule Impulse für die eigene Entwicklung. Dass es dabei ganz wesentlich auf Qualität ankommt, betonten der Staatssekretär im Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus, Bernd Sibler, sowie die Geschäftsführerin der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, Dr. Heike Kahl, in ihren Grußworten.

Basisstandards und Gestaltungsfreiraum

Sibler erinnerte an die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen der Schulen. „Wir brauchen daher Basisstandards als verbindliche Grundlagen, gleichzeitig aber Freiräume für ihre Umsetzung“, meinte er. Dieser Gestaltungsraum sei natürlich verbunden mit einer Gestaltungsverantwortung. Als Lern- und Lebensort müssten Schulen in der jeweiligen Bildungsregion eingebunden sein: „Ganztagsschulen spielen hier sogar eine entscheidende Rolle.“

Heike Kahl bezeichnete es als beeindruckend, dass der Ausbau der Ganztagsschulen in Bayern früh mit Qualitätsentwicklung verbunden sei. Zu dieser gehöre auch die Bereitschaft, die eigene Arbeit stets zu hinterfragen. „Ein Kongress wie dieser trägt auch dazu bei, voneinander zu lernen und sich selbst auch einzugestehen, was möglicherweise noch nicht so gut klappt.“

Hervorragend gelang die anschließende musikalische Darbietung von Schülerinnen und Schülern der Mittelschule Bodenmais. Singend und tanzend formulierten sie das Für und Wider der Ganztagsschule, was am Ende in einem klaren Plädoyer mündete. „Daheim hilft mir keiner“, lautete das „Für“ eines Schülers, dem ein anderer entgegenhielt: „Daheim lerne ich für mich, und wenn ich müde bin, lege ich mich hin.“ Ein weiteres „Für“: „Wenn ich nach Hause komme, sind die Hausaufgaben erledigt.“ Dagegen: „Mag mich bei schönem Wetter nicht in die Schule hocken. Die Hausaufgaben mache ich erst abends, das schaffe ich ganz locker.“

Diskussion über Hausaufgaben in der Ganztagsschule

Den Ball „Hausaufgaben“ griff anschließend der Dortmunder Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Heinz Günter Holtappels auf, als er sich mit der Entwicklung der Lernkultur in Ganztagsschulen beschäftigte. Er benannte Leitziele der Ganztagsschule (differenzierende Lernkultur im Unterricht; erweiterte Lerngelegenheiten für fachliches und Fächerübergreifendes Lernen; individuelle Förderung; Partizipation und Demokratielernen; Öffnung der Schule zur Lebenswelt und zum Schulumfeld), ehe er auf Gestaltungselemente der Ganztagsschule zu sprechen kam. Zu ihnen zählt er Fächerübergreifendes Lernen („Weil das, was Kinder interessiert, nicht in Fächer aufzuteilen ist“), längerfristige Projekt, außerschulische Lernorte und eben die Abkehr von Hausaufgaben hin zu Lernzeiten.

Dass es eine hausaufgabenfreie Schule geben könne, bezweifelte der Vorsitzende des Ganztagsschulverbandes GGT e.V., Dr. Stefan Appel. „Sprechen wir doch lieber von Hausaufgabenarm“, empfahl er. Dem schloss sich der Ministerialbeauftragte für die Gymnasien in Unterfranken und ehemalige Schulleiter Gerd Weiß an. Hausaufgaben seien insbesondere an Gymnasien eine „heilige Kuh“. Er zeigte zwar ebenso Verständnis für die besonderen Anforderungen der Gymnasien, insbesondere vor dem Hintergrund der Schulzeitverkürzung, äußerte aber mit Blick auf die geforderten Lernzeiten: „Mit einem guten Unterrichtskonzept ist das machbar.“ Dem fügte Heinz-Günter Holtappels hinzu: „Lernzeiten funktionieren nur, wenn sich Lehrkräfte und jene, die die Lernzeiten begleiten, austauschen.“

Diskussionsrunde
Expertenrunde, v.l.n.r. Wolfgang Endres, Dr. Stefan Appel, Moderator Oliver Buschek, Gerd Weiß, Prof. Dr. Heinz Günter Holtappels © Julia Thalhofer

Nicht nur für die Lernzeiten, sondern für den gesamten Schulalltag wünschte sich der Gründer des Studienhauses St. Blasien, Wolfgang Endres, eine andere Fehlerkultur. Und zwar eine, die die Einstellung ermögliche, aus Fehlern zu lernen und sie nicht als Makel zu betrachten. Mit dem ihm eigenen Humor hatte er zuvor das Bild von einem gesunden Lernklima gezeichnet und die Kongressgäste daran erinnert, dass jeder Mensch und jedes Kind sich anders motiviere. Das bedeute: „Nicht alles, was ich als Pädagoge hoch motiviert anbiete, kommt überall gut an.“ Der Bogen zum Umgang mit der Unterschiedlichkeit der Menschen war gespannt.

Idealer Rahmen für Umgang mit Heterogenität

„Völlig überzeugt bin ich vom Sinn heterogener Klassen noch nicht. Ich fürchte,  Leistungsstärkere können ihr Potenzial dort nicht entwickeln“, gestand eine Pädagogin als sie sich auf den Weg zum Diskussionsforum „Heterogenität und Lernkultur in der Ganztagsschule“ machte. Gut anderthalb Stunden später und nach dem Gedankenaustausch über den Impulsvortrag von Dr. Silvia Dollinger (Universität Passau) stimmte sie der Akademischen Rätin am Lehrstuhl für Grundschulpädagogik und -didaktik zu: Es gibt keine homogenen Klassen. Silvia Dollinger zog ihren eigenen Schluss: „Für einen konstruktiven Umgang mit Heterogenität bildet vor allem die Organisationsform Ganztagsschule den idealen Rahmen – sowohl zeitlich, räumlich, personell als auch vor allem pädagogisch.“

Ganztagsschulen, so die Wissenschaftlerin, böten die Chance, nicht nur mit der Heterogenität umzugehen, sondern sie zu nutzen. Mit ihrem „Mehr“ an Zeit und dank des Einflusses unterschiedlicher Professionen könnten Ganztagsschulen individueller auf die unterschiedlichen Charaktere eingehen. Die Durchmischung einer Klasse spielt nach Ansicht Dollingers eine große Rolle für die Akzeptanz von Ganztagsschulen. „Problemklassen“, sprich die Bündelung von Kindern mit Auffälligkeiten in einer Gruppe, und die daraus resultierenden Schwierigkeiten, würden von Außenstehenden leicht als eine Folge der Ganztagsschule deklariert und damit zu deren Ablehnung beitragen. Und das, obwohl die Ursachen in Wahrheit in der Zusammensetzung der Klassenstruktur und weniger in der Organisationsform lägen.

Die Bedeutung der Initiierungsphase des Ganztags an einer Schule

Schülerinnen und Schüler bei einer Darbietung
Sammelten Argumente für und wider Ganztagsschulen - die Schülerinnen und Schüler der Mittelschule Bodenmais © Julia Thalhofer

Einen eigenen Workshop wert gewesen wären die Erkenntnisse der Akademischen Rätin zu den Gelingensfaktoren für die Implementierung gebundener Ganztagsschulen. Zwei Jahre lang hatte Dollinger dafür fünf gebundene Ganztagsschulen in ihrer Entwicklung begleitet. Die qualitative Studie belegt unter anderem die Bedeutung der Initiierungsphase des Ganztags an einer Schule. „Man sollte sich Zeit lassen, die Gedanken reifen lassen und das Kollegium nicht mit einem fertigen Konzept überrumpeln“, empfahl Dollinger. Ein Schulleiter, der die Vision Ganztag ausgeprägt in seinem Kopf habe, solle sich bemühen, möglichst alle Kolleginnen und Kollegen mitzunehmen. „Es bringt nichts, den Hund zum Jagen zu tragen“, meinte sie. In jedem Schulteam gebe es auch Lehrkräfte mit Willens- und solche mit Fähigkeitsbarrieren. Letztere wollten zwar, seien aber unsicher über das „wie“. Insgesamt gelte es, die Widerstände und Bedenken aufzugreifen. Auch daraus resultierten häufig konstruktive Entwicklungsansätze und -ergebnisse.

„Ohne Kompromisse am Kind orientiert“

Mit Widerständen muss der Leiter der Grundschule Lessingstraße in Ingolstadt, Dr. Michael Enzinger, nicht rechnen. Gemeinsam mit „seiner“ Ganztagskoordinatorin Stephanie Staudner und dem Sozialpädagogen Markus Rossa  stellte er das Konzept seiner Schule vor. Es steht unter dem Motto: „Ohne Kompromisse am Kind orientiert“. Wie das mit Leben gefüllt wird, hörten die Workshop-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer nicht nur, sie spürten es. „Wenn wir am Kind dran sein wollen, müssen wir uns alle im Team besprechen und austauschen“, lautet ein Credo. Mit Folgen. Feste Zeiten für Teamsitzungen sind im Schulalltag geblockt. Stephanie Staudner formulierte es so: „Um Zeit in der Schule zu haben, braucht es Raum im Kopf.“ Was sie ausdrücken wollte: Jeder der Lehrkräfte und des sonstigen pädagogischen Personals identifiziert sich mit der Schule (Rossa: „Und das, obwohl ich nur sechs Stunden pro Woche dort bin.“) und niemand scheut Mehrarbeit. Die findet nach Aussage der drei häufig im Kopf und auch zuhause statt und „lässt sich nicht in Zeitstunden messen.“ Den Lohn erhalten sie nicht nur am Ende des Monats via Gehaltsüberweisung. „Der schönste Lohn ist das Lachen der Kinder“, sagt Enzinger und strahlt.

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