Eine Vision wird Realität : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Wie sieht die ideale Ganztagsschule aus? Man ist nicht nur auf Beispiele aus dem Ausland angewiesen, auch hier zu Lande gibt es schon Schulen, die der Vision des Ideals sehr nahe kommen. Die Hedwig-Dransfeld-Schule für Körperbehinderte im westfälischen Werl verwirklicht das Konzept der Individuellen Förderung in bemerkenswerter Weise.
Kein starrer 45-Minuten-Rhythmus, kein stummes Neben- und Hintereinandersitzen vor einem im Frontalunterricht dozierenden Lehrer, keine dunklen Betonkästen, die dem Betrachter zu signalisieren scheinen: Betreten auf eigene Gefahr! Statt dessen: Gruppenarbeit, auch altersübergreifend, selbstbestimmtes und selbstständiges Lernen, Arbeitsgemeinschaften verrichten handwerkliche Tätigkeiten oder musizieren im Orchester in hellen, freundlichen Gebäuden mit viel Glas und Holz.

So begegnet dem Betrachter die ideale Ganztagsschule in Reinhard Kahls Filmdokumentation "Treibhäuser der Zukunft". Noch stehen viele Schulen vor der Umwandlung zu Ganztagsschulen, suchen nach Gestaltungskonzepten der nachmittäglichen Angebote und sind vom Idealzustand ein gutes Stück entfernt.
Doch auch hier zu Lande gibt es Ganztagsschulen, die beispielgebend sein können. Eine davon ist die Hedwig-Dransfeld-Schule für Körperbehinderte im westfälischen Werl, die sich als "Schule im Aufbau" definiert. Tatsächlich sorgen Bagger und Bauarbeiter derzeit für eine Erweiterung der Schule mit einem komplett neuen Gebäudeteil. Aber die Hedwig-Dransfeld-Schule ist auch eine vergleichsweise junge Schule, in der zweizügig die Klassen eins bis zehn unterrichtet werden sollen, derzeit aber bereits Klasse acht die höchste ist. Auf Grund der steigenden Schülerzahlen hatte der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) als Schulträger die Schule zum Schuljahr 1995/96 als 13. Schule für Körperbehinderte eingerichtet.
Kinder benötigen mehr Zeit
Insgesamt sind neun Jahrgänge vertreten, denn die Schule bietet noch vor dem ersten Schuljahr im Primarstufenbereich eine Eingangsklasse an. Schulabschlüsse können nach den Richtlinien und Lehrplänen für Grund- bzw. Hauptschule, Schule für Lernbehinderte und der Schule für Geistigbehinderte erworben werden. Schulleiter Ulrich Neumann betont, dass ein Wechsel in andere Schulformen jederzeit möglich ist: "Wir haben ein sehr offenes Schulsystem. Der Satz: 'Einmal Sonderschule, immer Sonderschule' stimmt nicht."
Dabei war das Konzept der Hedwig-Dransfeld-Schule von Anfang an das einer Ganztagsschule. Neumann begründet dies: "Ein Halbtagskonzept ist hier gar nicht möglich, da unsere Schülerinnen und Schüler wegen ihrer körperlichen Beeinträchtigungen für alles - angefangen beim Aus- und Ankleiden - mehr Zeit benötigen." Hier werden Kinder unterrichtet, bei denen eine Körperbehinderung oder Mehrfachbehinderungen vorliegen. "Alle Kinder haben darüber hinaus Lernbehinderungen - der klassische Rollstuhlfahrer kommt nicht zu uns, sondern ist längst in Grund- und weiterführenden Schulen integriert", erläutert Neumann.
Der praktische Anlass für das Ganztagsschulkonzept mag ein teilweise anderer sein als der in der Öffentlichkeit diskutierte, doch im Ergebnis läuft die Konzeption des Schultags auf das gleiche Ziel hinaus: Jede Schülerin und jeder Schüler soll bestmöglich gefördert werden - was mit mehr Zeit einfach besser möglich ist. "Wir schauen uns zunächst einmal an, welchen Bedarf das Kind hat", erklärt der Schulleiter. Es gibt eine große Bandbreite von Schülerinnen und Schülern: Von Kindern, die leicht hinken, bis zu nahezu gänzlich paralysierten, an den Rollstuhl gefesselten Pflegefällen. Doch die Klassen sind möglichst gemischt.
Aufgaben richten sich nach Förderbedarf
In der Hedwig-Dransfeld-Schule unterrichten insgesamt 51 Lehrkräfte - Sonderschullehrerinnen und -lehrer sowie Fachlehrerinnen und vier Lehramtsanwärterinnen und -anwärter in der Ausbildung - die 71 Mädchen und 122 Jungen, in Klassen, die möglichst aus nicht mehr als 13 Kindern bestehen. Darüber hinaus beschäftigt der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) als Schulträger sieben Physio- und vier Ergotherapeuten sowie im pflegerischen Dienst vier Krankenschwestern, vier Hilfspflegerinnen und sechs Zivildienstleistende. Die Unterrichtszeiten dauern montags bis mittwochs von 8.30 bis 15.15 Uhr, wobei jeweils ein Frühstück eingenommen und ein warmes Mittagessen serviert wird, das ein Catering-Service aus Witten in Warmhaltebehältern anliefert. Der spätere Schulanfang und das Mittagessen mit anschließender Pause um zwölf Uhr kommen dabei dem wissenschaftlich erwiesenen Biorhythmus der Kinder entgegen. Wegen des allgemeinen Lehrermangels - fünf reguläre Stellen sind momentan nicht besetzt - ist die Schule allerdings gezwungen, donnerstags nur Unterricht bis 12.55 Uhr und freitags bis 12.10 Uhr anzubieten.

Den Schülerinnen und Schülern soll ein umfangreicher und vielschichtiger Erfahrungsraum zur Verfügung stehen, der es ihnen ermöglicht, erschwerte Entwicklungsbedingungen zu kompensieren, versäumte oder unvollständige Lern- und Umwelterfahrungen nachzuholen, zu erweitern, zu erproben und zu vertiefen. Je nach sonderpädagogischen Förderbedarf der oder des Einzelnen werden die Lernziele und Lerninhalte angepasst. Die Lehrerinnen und Lehrer stimmen zum Beispiel innerhalb ihrer Klassen die Aufgaben auf das Individuum ab. So kann eine Rechenaufgabe in drei unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden gestellt werden. Und je nach Unterricht kann sich auch die Zusammensetzung der Klasse, die sich grundsätzlich nach dem Jahrgang richtet, verändern, wenn ein Kind in einem speziellen Punkt schon weiter als seine Klassenkameraden ist oder umgekehrt erhöhten Förderbedarf benötigt. So werden auch kleinere Differenzierungsgruppen oder klassenübergreifende Lerngruppen gebildet.
Zusätzlich sollen die Schülerinnen und Schüler in sozialer Integration zur eigenen Lebensbewältigung befähigt werden und sich selbst verwirklichen. Neben der Förderung in der Bereichen Motorik, Wahrnehmung, Sprache und Kommunikation, Emotional- sowie Sozialverhalten und Kognition stehen daher auch lebensnaher Unterricht auf dem Stundenplan. In der großzügig ausgestatteten Lehrküche kann gekocht und gebacken werden. Photos der Küchenutensilien auf den Schränken verhelfen auch denjenigen zur Orientierung, die des Lesens nicht mächtig sind. Gleich daneben besteht in der Waschküche die Möglichkeit zu waschen, zu trocknen und zu bügeln. Im Musikraum steht den Kindern neben diversen Instrumenten sogar ein kleines Mischpult zur Verfügung. Mit einem selbst geschriebenen und gesungenen Lied, zu dem sogar ein Videoclip gedreht wurde, gewann eine Klasse im Juni 2003 den ersten Platz beim LWL-Schülerwettbewerb "Nur mit uns!".
Vorhanden sind auch eine Turnhalle, ein Therapiebad, ein Snoezelen-Raum, gut ausgestattete Fachräume für Werken, für Kunst und für Naturwissenschaften, ein Photolabor und ein Computerraum. In diesen Räumen kann im Rahmen des so genannten vorhabenorientierten Unterrichts gelernt und gearbeitet werden: Die Schülergruppen arbeiten hier an verschiedenen Aufgaben innerhalb eines Unterrichtsthemas oder -ziels, wobei mehrere Unterrichtsfächer vermischt werden können, die sich dem Thema unterordnen. "In allen Klassen stehen neue Medien wie Computer und Internet zur Verfügung. Hier hat unser Schulträger große Anstrengungen unternommen", lobt Neumann. Die Räumlichkeiten sind über das verwinkelte, aber großzügig angelegte, helle und freundliche Gebäude mit den breiten Gängen verteilt. Ein Merkmal ist die Galerie, die im ersten Stock umläuft und von der man einen guten Überblick über das Erdgeschoss hat.
Nicht auf einer Insel, sondern in der Realität lernen
Der Unterricht gliedert sich in 90-Minuten-Blöcke, die aber kein Dogma sind: Die Lehrerinnen und Lehrer sind frei in der Verteilung der Unterrichtszeit. Neben dem vorhabenorientierten Unterricht gibt es auch die so genannte Freiarbeit. Hier können die Schülerinnen und Schüler ihr Lerntempo und die Lerninhalte im Rahmen von Entscheidungsgrenzen mitbestimmen. So lernen sie, selbst gesteckte Ziele zu verfolgen und sich selbst zu organisieren. Die Lehrkraft fungiert hier als Berater und Helfer. Wichtig ist auch das soziale und kommunikative Miteinander: Feste, Spiele, Gemeinschaftsaktionen und Unterrichtsfahrten bieten Gelegenheit zum sozialen Lernen und Kennenlernen.

Hierzu hat die Hedwig-Dransfeld-Schule auch Kontakte zu außerschulischen Partnern geknüpft: So nahm man mit einem offenen Adventssingen am Werler Weihnachtsmarkt teil und organisierte ein großes Zirkusprojekt mit der Zirkusfamilie Sperlich. Einmal in der Woche findet in Kooperation mit dem Werler Reiterverein ein heilpädagogisches Reiten statt, bei dem acht Schülerinnen und Schüler mitmachen. "Durch die Bewegung des Pferdes lernen die Kinder Selbstbewusstsein und Vertrauen", erläutert Neumann den Sinn der Therapie.
Besonders wichtig für das Schulleben ist auch das Engagement der Eltern, die dieses durch Unterstützung bei Schulfesten oder im Förderverein bereichern. Der Förderverein finanzierte zum Beispiel zusammen mit weiteren Spendern zwei schuleigene Kleinbusse samt Anhänger, den die Schule zu Ausflügen nutzt. Über die so genannten Mitteilungshefte halten Lehrerinnen und Lehrer Kontakt mit den Eltern: Hier wird festgehalten, was das Kind gelernt und erreicht hat oder ob es Probleme gab. Die Eltern informieren die Lehrkräfte auf diese Weise, wenn zu Hause etwas außer der Reihe passiert ist. Das Engagement der Lehrkräfte wiederum sorgte für die Einrichtung einer kleinen Schulbibliothek mit Lese- und Kuschelecke, die Schulleiter Neumann zu Folge sehr gut angenommen wird.
"Auch wenn die langen Schultage für unsere jüngeren Schülerinnen und Schüler manchmal anstrengend sind, ist der Ganztagsunterricht doch gut so. Auf Kinder mit bestimmten Bedürfnissen kann anders eingegangen und Fortschritte erzielt werden", resümiert Neumann. "Wir wollen hier keine Insel schaffen, sondern erheben den Anspruch, in der Realität zu lernen."
Kategorien: Ganztag vor Ort - Lernkultur und Unterrichtsentwicklung
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