Bildung in der Förderschule: "Alles ist Unterricht" : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf

Förderschulen wie die Stephanus-Schule in Berlin-Pankow können nur ganztägig funktionieren. Porträt einer nicht ganz alltäglichen Ganztagsschule.

Frau hält Kind
© Stephanus-Schule

Im Herzen von Berlin-Pankow liegt eine nicht ganz alltägliche Schule, deren Werdegang ein Lehrstück für die gesellschaftliche Integration und Wertschätzung von geistig und mehrfach behinderten Kindern und Jugendlichen ist. Die Stephanus-Schule ist eine staatlich anerkannte Schule mit sonderpädagogischem Förderschwerpunkt "Geistige Entwicklung". In der Grundschule, Sekundarschule I und Sekundarschule II lernen 92 Schülerinnen und Schüler in elf Klassen von 7:00 Uhr bis 17:00 Uhr. Das schöne Gebäude befindet sich auf dem Gelände der evangelischen Hofbauer-Stiftung - dort ist es wie in einem Kokon eingebettet.

Das Gelände der Stiftung erfüllt auch den Zweck eines großen Sozialraumes. So soll demnächst ein neues Gemeindezentrum entstehen, damit eine engere Vernetzung zwischen der Förderschule und dem Seniorenheim möglich wird, meint Jürgen Kraetzig, Leiter der Abteilung Schulen und Bildung der Hoffbauer gGmbH. Es solle den Austausch zwischen den Generationen voranbringen. "Wir möchten so viel Zusammenarbei wie möglich aufbauen", fügt Angelika Arndt hinzu. Die Schulleiterin der Förderschule möchte dementsprechend die Kitas sowie die Grundschulen in der Umgebung stärker einbeziehen. Natürlich spielen auch Tage der offenen Tür, Feste wie das Lese- und Zahlenfest oder Wettbewerbe eine große Rolle bei der Öffnung der Schule. 

Keine Kosten beim Ausbau gescheut

Das im Jahr 2007 mit insgesamt 5,4 Mio. Euro neu gestaltete Schulhaus gewinnt besonders durch seine in warmen Farben gestaltete Außenfassade sowie die reichliche Verglasung, die das Gebäude transparent und offen wirken lässt. "Wir durften das Farbkonzept der Innenräume selbst bestimmen", erklärt die stellvertretende Schulleiterin Sybille Esch. Während die Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung den Bau im Rahmen des Investitionsprogramms "Zukunft, Bildung und Betreuung" (IZBB) mit rund 990 000 Euro förderte, beteiligte sich die RTL-Stiftung "Wir helfen Kindern" mit 964 000 Euro.

Dennoch wurde ein Eigenanteil der Stephanus-Stiftung von 3,5 Mio. Euro erforderlich. Die Stiftung finanziert als evangelischer Schulträger nicht nur viele Kosten wie einen Teil des zusätzlichen pädagogischen Personals, sie sammelt auch Spenden für die Schule. "Durch den Freien Träger haben wir eine gute personelle Besetzung" erläutert Sybille Esch. Die ist auch notwendig, da der Stundenplan sehr differenziert auf jedes Kind ausgerichtet ist: er sieht bei jedem Kind anders aus.

Eine Förderschule, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, jedes einzelne Kind individuell zu fördern und bei Bedarf auch medizinisch therapeutisch zu behandeln, ist natürlich eine kostspielige Angelegenheit. So besitzt jede Klasse, die eine Gruppengröße von sieben bis neun Kinder hat, zwei Räume: einen behindertengerechten Unterrichtsraum und einen Klassenraum. In jeder Klasse befindet sich es eine Küchenzeile mit Waschbecken sowie einer Mikrowelle.

Essen ist Programm

"Essen ist Programm bei uns", erklärt Esch. So wurde ein eigenes Lernprogramm entwickelt, das den Schülerinnen und Schülern individuelle Aufgaben wie Milch einkaufen etc. stellt. Das Decken des Tisches beim Mittagessen bzw. das Zubereiten einer Mahlzeit tragen zur Erziehung zur Selbstständigkeit bei, an denen nicht zuletzt den Eltern viel gelegen ist. Ein eigener Spielplatz sowie eine Turnhalle, die aus den Mitteln des IZBB gefördert wurden, unterstützt die Entwicklung der Motorik der Kinder und Jugendlichen.

"Ganz wichtig sind die schönen Pflegebäder, die schweres Heben und Tragen von behinderten Kindern ermöglichen. Darüber hinaus verfügt die Stephanus-Schule über zahlreiche Funktionsräume, die mit modernster Technik ausgestattet sind. Sie dienen therapeutischen Zwecken wie Physiotherapie, oder sie unterstützen den Unterricht in Form von lebenspraktischen oder künstlerisch orientierten Tätigkeiten.

"Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung"

Mit anderen Worten: die Förderschule ist mit Blick auf ihr differenziertes Raumangebot, das den Behinderungen der Schülerinnen und Schüler gerecht wird, voll auf den Ganztagsbetrieb eingestellt. Dieser erstreckt sich von der Organisation des Unterrichts im offenen Ganztag bis zur hortähnlichen Betreuung. Wie kommt ein Kind eigentlich in die Förderschule und welche Rolle haben dabei die Eltern? "Für viele Eltern ist es eine schwierige Situation, wenn ihr Kind in eine Gemeinschaft mit schwer- oder mehrfach behinderten Kindern gehen soll", erklärt die stellvertretende Schulleiterin.

Schwierigkeiten kann es bei verhaltensauffälligen Kindern geben: "Die Amtsärztin schaut sich das Kind an und fordert ein Gutachten. Bekommt es die Diagnose 'Förderschwerpunkt geistige Behinderung' wird es in eine entsprechende Schule überwiesen. "Etliche Schülerinnen und Schüler kommen auf unsere Schule, deren Integration in den fünften Klassen gescheitert ist", fügt Esch hinzu. "Sie sind hier richtig aufgeblüht."

Die Starken richten sich nach den Schwachen

Man sollte sich von einem zu engen Bildungsbegriff verabschieden, will man das Zusammenleben und Lernen von Kindern und Jugendlichen mit Lernbehinderungen bzw. geistigen Behinderungen unter einem Dach begreifen. Eine Szene wie gemalt: Vor dem Mittagessen sitzen mehrere Kinder im Alter von sieben bis acht Jahren am Computer: Paul, der Schwächste, sitzt an der Tastatur: "Er bestimmt, wann es weitergeht", erklärt die stellvertretende Schulleiterin.

Jede Schülergruppe hat eine Klassenlehrerin und eine Erzieherin mit sonderpädagogischer Ausbildung, die gemeinsam einen individuellen Förderplan erstellen. Es sei ungeheuer wichtig, "dass die Schülerinnen und Schüler Empathie und Gruppengefühl entwickeln", ergänzt die Klassenlehrerin Roswitha Berrick. Die Schülergruppe liest die Geschichte "Der kleine Angsthase". Die Kinder ordnen den Geschichten Gefühle zu, sie entwerfen Bildkarten dazu. "Die Einheit war richtig gut", findet die Klassenlehrerin. "Die Kinder haben dabei über eigene Ängste gesprochen."

"Alles ist Unterricht"

Eine andere Szene ist ebenfalls wie aus dem Lehrbuch: Timon, ein achtjähriger autistischer Junge, deckt seelenruhig den Tisch für das Mittagessen. Diese alltägliche Tätigkeit würde man gewöhnlich nicht zum Kernbereich von Schule zählen. Doch Schule bekommt angesichts der Förderung eines geistig oder mehrfach behindertes Kindes eine ganz andere Wertigkeit. Die Klassenlehrerin rekapituliert die Anfänge von Timons Schullaufbahn: "Da hat er sich hingeschmissen und 'Nein' gebrüllt."

So sieht sie ihre Aufgabe als Lehrerin ebenfalls darin, dass auch ein Autist lernt, sich in der Gruppe wohl zu fühlen. Sie führt ihren Bildungsbegriff näher aus: "Bildung bedeutet, eine positive Form der Kommunikation zu entwickeln, die gesellschaftlich anerkannt und für alle selbstverständlich ist." Einrichtungen wie der Stephanus-Schule gelingt es, hervorragende pädagogische Leistungen als eine Selbstverständlichkeit erscheinen zu lassen. "Alles ist eben Unterricht", erklärt Sybille Esch: nicht nur der Fachunterricht, auch die Freiarbeit nach Montessori oder das Ausruhen im Snoezelenraum.

Die Basis des pädagogischen Erfolges ist die Wertschätzung jedes einzelnen Kindes, dessen Entwicklungspotenzial die Förderschule stets im Auge hat. Den Anspruch, Schule zu sein, formuliert die Schulleiterin wie folgt: "An unserer Schule wird nach dem Rahmenplan der Berliner Schule und individuellen Förderplänen unterrichtet. Das Spektrum reicht von Angeboten zur basalen Stimulation bis hin zum Fachunterricht. Besondere Fähigkeiten werden in Arbeitsgemeinschaften und Kursen gefördert, während der Unterricht bei Bedarf durch therapeutische Angebote ergänzt wird", erklärt Schulleiterin Arndt.

Vom Heim für taubstumme jüdische Kinder zur Stephanus-Schule

Schülerinnen und Schüler bei einer Aufführung
© Stephanus-Schule

Ein Blick zurück in die Annalen der Stephan-Schule spiegelt den zeitgeschichtliche Wandel und die Probleme, auf denen behinderten Kinder und Jugendlichen stießen, wider. Noch im Zweiten Weltkrieg, bis zum Jahr 1942, diente das ehemalige Hauptgebäude der Schule unter dem Namen "Israelitische Taubstummenanstalt Berlin-Weißensee" als Heim und Schule für taubstumme jüdische Kinder. An das Schicksal dieser Kinder im Nationalsozialismus erinnert  heute eine Gedenktafel.

Im Jahr 1972 wurde das Heim für Kinder mit geistiger Behinderung in der damaligen DDR eingeweiht. Schon 1973 wurde eine ganztägige Tagesstätte zur Förderung von Kindern mit geistiger Behinderung eingerichtet und im Jahr 1986 entstand eine Tagesgruppe für Kinder mit mehrfacher Behinderung. Schließlich wurde im Jahr 1990 die Stephanus-Schule eröffnet.

DDR-Fördereinrichtungen fanden sich 1990 im Bildungssystem wieder

"Seit dem Eintritt in die Bundesrepublik Deutschland ist der Bildungsanspruch aufgekommen", erinnert sich Esch. Damit fanden sich reine Fördereinrichtungen plötzlich im Bildungssystem wieder. Der damalige Schulleiter Fiedler hatte die Aufgabe übernommen, aus dem Förderzentrum eine Schule zu machen. Der Kinderdiakon besaß zwar eine gute Ausbildung, war selbst aber kein Lehrer.

Privatschulen in freier Trägerschaft bekamen aber lediglich dann eine Anerkennung, wenn sie qualifiziertes Personal beschäftigen - schließlich kommen die Mittel für das Lehrpersonal und die Sachmittel vom Land Berlin. Als in der Berliner Abendschau die Stephanus-Schule vorgestellt wurde, stand für Sybille Esch im Oktober 1990 der Entschluss fest, sich an der Schule als Sonderschullehrerin zu bewerben.

"Im ersten Jahr fiel es mir noch schwer, mit der Vielfalt an Behinderungen umzugehen. So etwas lernt man nicht an der Hochschule", erinnert sie sich. Glücklicherweise hätten ihr Kolleginnen und Kollegen mit sehr viel Erfahrung die Einarbeitung möglich gemacht. Ein sonderpädagogisches Studium von 1978 bis 1980 habe ihr einen anderen als den ihr vorbestimmten Weg als Grundschullehrerin geebnet. "Ich wollte aus den fest gefügten Strukturen der DDR ausbrechen", fügt Esch hinzu.

"In den vergangenen 20 Jahren gab es viel Wandel"

So arbeitete sie seit den 1980er Jahren als Logopädin in einem Rehabilitationszentrum: "Die wurden damals in der DDR großgeschrieben." Die Logopädinnen, Krankenschwestern und Erzieherinnen arbeiteten selbstständig in einem Team mit Ärzten und Psychologen. Sie hatten die Möglichkeit, sehr differenzierte Förderpläne für die Kinder zu entwickeln. "Das hat meine Beziehung zu ihnen gefestigt."

Gut 13 Jahre lang arbeitete Esch dann als Klassenlehrerin, bis sie zusätzlich stellvertretende Schulleiterin wurde. Mit der neuen Aufgabe habe sie sich inzwischen identifiziert und an der Schule gut Fuß gefasst: "In den vergangenen 20 Jahren gab es viel Wandel", bilanziert Esch. Theoretische Entwicklungen seien ebenso vorangekommen wie das Anfertigen von Lernprogrammen für Autisten oder das Teachprogramm für die Kinder, die nicht sprechen.

Neben der guten Zusammenarbeit mit Außeneinrichtungen sei die Arbeit mit den Eltern wie bei der Fallbesprechung eine wichtige Säule ihrer Arbeit. Für die Stephanus-Schule trifft ohne Zweifel zu: Es kommt auf jedes einzelne Kind an. 

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