Auf der Suche nach dem Büchergeist : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Ob Lesescouts, Autorenbegegnungen, Leselatte oder Leselust - Initiativen zur Leseförderung gibt es reichlich. Doch für das Vorlesen und Beschäftigung mit Literatur benötigt man Zeit, die in Halbtagsschulen nicht immer vorhanden ist. An Ganztagsschulen können diese Aktivitäten regulär in den Schultag integriert werden.

"Man hatte sie [,Die Jungfrau von Orleans'] vor- und rückwärts gelesen, Szenen auswendig gelernt, geschichtliche Erläuterungen geliefert, Poetik an ihr getrieben und Grammatik, ihre Verse in Prosa übertragen und die Prosa zurück in Verse. Für alle, die beim ersten Lesen Schmelz und Schimmer auf diesen Versen gespürt hatten, waren sie längst erblindet."

Die Art Deutschunterricht, die Professor Unrat in Heinrich Manns gleichnamigen Roman gibt, würde wohl noch den lesehungrigsten Schülern die Lust an der Lektüre austreiben. Doch  Deutschlehrerinnen und -lehrer sind heutzutage nicht allein gefordert, Literatur im Unterricht möglichst interessant aufzubreiten. Sie stehen zunehmend vor einem grundlegenderen Problem: Die Kinder und Jugendlichen überhaupt erst mal zum Lesen zu bewegen.

"Zu viele Kinder haben eine gestörte Beziehung zum Medium Buch", berichtet Dr. Christian Klug aus eigener Erfahrung. "Für diese ist ein Büchereibesuch eine exotische Veranstaltung, und sie müssen kulturelle Hürden überwinden."

Klug ist Deutschlehrer am Hamburger Gymnasium Klosterschule, einer teilweise gebundenen Ganztagsschule. Leseförderung ist auch an seiner Schule "unbedingt notwendig". Die Defizite im Lesen beschränkten sich ja nicht auf den Deutschunterricht: "Auch in Mathematik macht es sich bemerkbar, wenn Schüler die Aufgabenstellung nicht verstehen", erklärt der Pädagoge.

Anleitung beim Vorlesen

Seit zwei Jahren steuert die Klosterschule mit zwei Pflichtstunden am Nachmittag pro Woche in den Jahrgangstufen fünf und sechs gegen. Wobei sich die "Pflicht" auf die Anwesenheit beschränken soll. Denn an sich sind die begleitenden Kurse, die für Kleingruppen von etwa zehn Schülerinnen und Schüler gegeben werden, laut Klug am Lesevergnügen orientiert. Unter anderem lesen hier Lehrerinnen und Lehrer den Kindern vor, was Klug zufolge schon "sehr gute Ergebnisse" gebracht hat: "Die Kinder haben Spaß, was man auch an den steigenden Ausleihzahlen in der Lesekiste sieht. Die Vorstellungsbildung und die psychischen Reaktionen der Kinder müssen wir dabei teilweise anleiten. Wie einige andere Maßnahmen in der Leseförderung zielt auch das Vorlesen darauf, das nacherleben zu lassen, was die Lesesozialisationsforschung als 'Lesehöhle' bezeichnet hat: Eine intime Lesesituation, in der es um die sehr persönlichen Lesereaktionen des Kindes geht und in der es eine entschiedene und wohlwollende Zuwendung erwachsener Bezugspersonen zum Kind gibt."

Doch der Einfluss von Lehrern ist laut des Deutschlehrers, der das Kursprogramm für die Leseförderung mit konzipiert hat, naturgemäß begrenzt. Das Elternhaus sei hauptverantwortlich, aber "brutale Schicksale der sozialen Herkunft", wie Klug formuliert, machten es vielen Kindern unmöglich, sich für Bücher zu interessieren oder überhaupt mit diesen in Berührung zu kommen.

Klug erläutert: "Lern- und Entwicklungsmöglich­keiten vieler Kinder sind allein durch sozialen Stile und Zielorientierungen ihrer Her­kunft stark beschränkt. Brutal ist dieses Schicksal insofern, als es kaum alternative Lebenswege zulässt. Guter Wille allein reicht nicht. Schüler lernen nicht zu lesen, da es in ihrer sozialen Gruppe keinen erkennbaren Sinn macht. Nachdenken macht keinen Sinn, Reflektieren macht keinen Sinn, Sensibilität und Phantasie verraten Schwäche. Unsere schulischen Bemühungen ergeben für viele unserer Schüler - in ihr soziales Bezugssystem übersetzt - ein bloßes Geräusch: Ohne Verbindlichkeit, ohne Sinn, ohne Gratifikation. Deshalb ist eine rein kognitiv ansetzende Leseförderung von vornherein zum Scheitern verurteilt. Leseförderung kann nur gelingen, wenn sie zugleich Erziehung zu sozialen Werten, Verhaltensweisen und Orientierungen auf andere wird. Hierfür bieten Ganztagsschulen qualitativ ganz andere Chancen als herkömmliche Halbtagsschulen."

Die im Stadtteil St. Georg liegende Klosterschule spricht derzeit mit der Kinderbibliothek Hamburg über eine noch engere Kooperation als bisher. Durch den Zuzug der Kinderbibliothek in die Nähe der Schule bietet sich dies geradezu an. Klug ist wichtig, dass seine Schülerinnen und Schüler erst einmal eigene, "durchaus auch spielerische" Schritte in der Bücherei machen, und erhofft sich eine "gewisse Grundorientierung und ein niederschwelliges Angebot" durch die Kinderbibliothek. Ein möglichst breites Angebot an Büchern sollte das Interesse der Kinder am Gedruckten weiter wecken.

Mit Luca Leseratte auf Entdeckungsreise

Die Kinderbibiliothek der Stadtbibliothek Brilon
Die Kinderbibiliothek der Stadtbibliothek Brilon

In Brilon ist die Zusammenarbeit zwischen Schulen und der Stadtbibliothek geradezu institutionalisiert. Deren Leiterin Ute Hachmann macht dem Schulträger Angebote zur Zusammenarbeit mit dem Ziel Lesespaß. "Diese Kooperationen sind eine sehr große Chance, auch Kinder aus bildungsferneren Schichten zu erreichen", so Frau Hachmann.

Neben kindgerechter Einrichtung und Angebot ist Phantasie gefragt, um die Kinder fürs Lesen zu begeistern. Nach enger Absprache mit Schulleitung und Lehrerinnen - "anders geht es nicht" - besuchen die Schülerinnen und Schüler einmal in der Woche für eineinhalb Stunden die Bibliothek, oder Vorleser aus der Bibliothek kommen in die Schulen. Bei einer "Piratenentdeckungsreise" entdecken Kinder der 2. Klasse spielerisch ihre Bibliothek. Dritt- und Viertklässler können den "Bibliotheksführerschein" machen: Anhand eines detektivischen Aufgabenheftes gehen die Kinder mit der Figur Luca Leseratte auf die Suche nach dem "Büchergeist" und lösen in einem Fragenheft Aufgaben zur Nutzung und Orientierung der Bibliothek. Haben sie alle Fragen richtig beantwortet, bekommen sie den Bibliotheksführerschein. Bei jedem Besuch in der Bibliothek gibt es einen Stempel. Ist der Führerschein voll, erhalten die Kinder eine Überraschung von der Bibliothek.

Wie entsteht ein Buch?

Eine Verbindung zwischen Literatur und Internet ergibt sich durch das "Antolin"-Portal des Schroedel-Verlags, das die Stadtbibliothek den Kindern anbietet. "Für diejenigen, die zu Hause keinen Internet-Zugang besitzen, reservieren wir Computer", berichtet die Bibliotheksleiterin. Bei "Antolin" müssen die Kinder Fragen zu Büchern beantworten, wofür sie Punkte auf einem Konto sammeln. Die vorgestellten Bücher können sie mit Hilfe des Wappentiers, einem kleinen Raben, in der Bibliothek finden. Ute Hachmann: "Demnächst wollen wir den Kindern, die eine bestimmte Punktzahl erreicht haben, einen 'Lese-Oscar' verleihen."

Einmal im Monat wird die Bibliothek künftig das Projekt "Wie entsteht ein Buch?" anbieten. Dort beschäftigen sich die Schülerinnen und Schüler mit verschiedenen Schriftarten, wie zum Beispiel Hieroglyphen oder Geheimschriften, schöpfen Papier und bedrucken es selbst. Näher können Kinder dem Faszinosum Buch kaum kommen.

Aber zu guter Literatur gehört natürlich auch eine Autorin oder ein Autor. Der Friedrich-Bödecker-Kreis hat es sich zur Aufgabe gemacht, eine Autorenbegegnung mit Schulklassen zu organisieren. Der bereits 1954 gegründete Verein nennt sich nach dem niedersächsischen Pädagogen, der sich für neue Formen der Literaturvermittlung an Schulen einsetzte. Jährlich vermittelt der Bödecker-Kreis 6.000 Lesungen und erreicht etwa 240.000 Kinder und Jugendliche. "Wie ein Musiker touren die Autoren durch die Kindergärten, Schulen und Jugendtreffs", erzählt Marcus Weber, der Projektleiter des Friedrich-Bödecker-Landesverbands Rheinland-Pfalz. "Die Autorenbegegnungen hinterlassen bei den Kindern einen nachhaltigen Eindruck, und in der Nachbearbeitung höre ich nur Positives."

Fächerübergreifendes Arbeiten mit Autoren

Doch die Nachfrage übersteigt das Angebot bei weitem. "Im vergangenen Jahr haben wir in Rheinland-Pfalz 70 Lesetage organisiert - bei etwa 2.500 Schulen, Bibliotheken und anderen Einrichtungen. Ein Bruchteil dessen, was möglich wäre", bedauert Weber. "Wenn eine Schule ein zweites Mal eine Autorenbegegnung durch uns organisieren lassen möchte, ist das kaum machbar - es gibt so viele andere Schulen, die auf der Warteliste stehen."

Die Lesung mit anschließendem Gespräch umfasst in der Regel zwei Schulstunden, in Grundschulen eine Stunde. Im Unterricht werden in der Vorbereitung das vorgestellte Buch ganz oder auszugsweise gelesen, Informationen über ein Thema oder die Autorin beziehungsweise den Autor gesammelt und Fragen an diese überlegt. Fächerübergreifendes Arbeiten, das in Ganztagsschulen leichter möglich ist, bietet sich dabei an. In der Nachbearbeitung können die Lektüre fortgesetzt und Berichte oder Aufsätze über die Lesung oder zum Thema verfasst werden.

Aber auch Marcus Weber betont, dass der "Vorbildcharakter der Eltern sehr ausschlaggebend ist. Wenn die Eltern nicht lesen, nur ferngesehen wird und es keine Bücher zu Hause gibt, woher sollen die Kinder dann wissen, wie man liest? Es heißt ja: Je früher man mit dem Lesen anfängt, desto besser. Statt dessen muss man heute sagen: Es ist wichtig, dass überhaupt gelesen wird. Mir gefällt die Symbolik in den Niederlanden: Dort wird jedem Neugeborenen im Krankenhaus ein Plastikbuch geschenkt."

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