Auch der Ganztag beschäftigt die didacta 2016 : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Rund 100.000 Besucherinnen und Besucher lockte die Bildungsmesse didacta 2016 nach Köln, zu Themen wie Inklusion, digitale Medien, Umgang von Schule und Kita mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen und Ganztagsschule.

Prof. Wassilios E. Fthenakis, Präsident des Didacta Verband e. V., kam am Ende der diesjährigen Messe, an der sich mehr als 800 Aussteller und Unternehmen beteiligten, zu dem Schluss:

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Eröffnung der didacta mit Henriette Reker (Oberbürgermeisterin der Stadt Köln) © Kölnmesse

„Der Informationsbedarf der Fach- und Lehrkräfte ist hoch, bedingt auch durch das ständig wachsende Aufgabenspektrum. So haben wir uns in diesem Jahr intensiv mit den Auswirkungen der Flüchtlingskrise auf das deutsche Bildungssystem beschäftigt – das Thema mit der höchsten politischen Brisanz und dem größten Handlungsdruck in den Bildungseinrichtungen.“

Allerdings kritisierten manche Pädagoginnen und Pädagogen gegenüber www.ganztagsschulen.org: „Wenn wir erleben, wie viele Schulen sich inzwischen auf den Weg zum Ganztag gemacht haben, sollten die Veranstalter in Erwägung ziehen, diesem für uns wichtigen Aspekt einen noch breiteren Raum und mehr Beachtung zu schenken. Denn vieles von dem, was hier und heute diskutiert wird, lässt sich nur im Ganztagsbetrieb zufriedenstellend umsetzen.“

Ein Preis für das Engagement im Ganztag

Nun, die Transferleistung zum Ganztag fehlte in der Tat mitunter. Doch es wurden einige wichtige Akzente gesetzt. Einen von besonderer Bedeutung stellte die Verleihung des Cornelsen Stiftungspreises Zukunft Schule dar. Geehrt wurden in diesem Jahr Lehrkräfte und Schulen, die sich durch besonders innovative Konzepte zur pädagogischen Gestaltung der Ganztagsschule ausgezeichnet haben. Mit 12.000 Euro fördert die Stiftung jährlich neue Herangehensweisen an Brennpunktthemen von Schule.

Der Preis resultiert aus der Motivation der Stiftung, Lehrkräften mehr Wertschätzung angedeihen zu lassen. Das Votum fällt der Jury nach eigenem Bekunden Jahr für Jahr schwer. Das war auch dieses Mal so. Doch am Ende fiel die Wahl auf Patrick Rodeck, Lehrer und Erprobungsstufenkoordinator im Gymnasium Essen Nord-Ost. 75 Prozent der Schülerinnen und Schüler dieser Schule stammen aus Familien mit Migrationshintergrund.

Aufmerksamkeitstraining als Förderung

Wie wohl an allen Schulen verzeichnen auch Patrick Rodeck und seine Kollegen zunehmende Aufmerksamkeits- und Konzentrationsprobleme bei Kindern und Jugendlichen. Dem begegnen sie mit der Etablierung eines „Aufmerksamkeitstrainings“  in Klasse 5. Es ersetzt den klassischen Förderunterricht in Mathematik, Englisch und Deutsch, wie er zuvor an dem Ganztagsgymnasium üblich war. Zwei Stunden pro Woche treffen sich die Schülerinnen und Schüler zum Training in fest ritualisierter Struktur. Nach der persönlichen Begrüßung jedes einzelnen Kindes („mit Augenkontakt“) stehen Yoga und ausgefeilte Aufmerksamskeitsübungen auf der Tagesordnung. Die gemeinsame Meditation beendet den Unterricht. Eine Note gibt es nicht.

Die positive Wirkung des Trainings ist wissenschaftlich belegt. Denn das 2013 eingeführte Projekt wurde und wird von der Universität Duisburg-Essen evaluiert. Patrick Rodeck erläutert die Überzeugung der Schule:

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© Koelnmesse

„Wir sind sicher, dass insbesondere in Klasse 5 das Problem häufig nicht die Fachinhalte darstellen, sondern die mangelnde Fähigkeit, sich zu konzentrieren. Darum möchten wir die Schülerinnen und Schüler frühzeitig dazu befähigen, sich konzentriert auf Inhalte, aber auch Mitmenschen einlassen zu können.“ Natürlich könne die Idee auch an Halbtagsschulen umgesetzt werden, doch an Ganztagsschulen gelinge dies aufgrund des größeren Zeitfensters deutlich leichter.

Platz 2 im diesjährigen Wettbewerb ging an die Schulleiterin der Staatlichen Regelschule „Geratal“ in Geraberg (Thüringen), Marion Tröster. Die Jury lobte ein „schülerorientiert gestaltetes und klug rhythmisiertes Ganztagskonzept“ in der Sekundarstufen-Schule im ländlichen Raum. Den dritten Preis erhielt Lehrer Michael Betz, der an der Kurt-Tucholsky-Gesamtschule Minden (Nordrhein-Westfalen), seit 2012 die außerunterrichtliche Lernförderung durch Peer-Learning im „Lernpatenprojekt“ koordiniert. „Lernpaten“ aus der Sekundarstufe II unterstützen Schülerinnen und Schüler, insbesondere Kinder mit Migrationshintergrund, aus den Jahrgängen 5 bis 7.

Peer-Tutoring in Übungs- und Lernzeiten

Ein spannendes Forschungsvorhaben hatten tags zuvor Dr. Jasmin Decristan und Désirée Theis vorgestellt. Im Rahmen der „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen“, die seit Januar 2016 in eine neue Phase gestartet ist, wollen die beiden Wissenschaftlerinnen des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in Kooperation mit der Universität Kassel die Gelingensbedingungen individueller Förderung durch Peer-Tutoring in Übungs- und Lernzeiten unter die Lupe nehmen.

„Die Ganztagsschule bietet den idealen Raum, um Inhalte durch Übungen und eigenverantwortliches Lernen zu vertiefen. Doch oft nutzen Ganztagsschulen dieses Potenzial, zusätzliche Lerngelegenheiten zu schaffen, nicht aus“, erläuterte Dr. Jasmin Decristan zu Beginn der Veranstaltung. Es ginge, so betonten die Wissenschaftlerinnen, insbesondere darum, „Anregungen für die Entwicklung der gerade erst aufgenommenen Forschungsarbeit aus der Praxis zu erhalten.“

Ziele ihres Vorhabens sind, die Gelingensbedingungen sowie die Wirkungen – etwa die Zufriedenheit aller Beteiligten - von Übungs- und Lernzeiten durch Peer-Tutoring zu ermitteln. Fünf bis sechs (offene) Ganztagsschulen – jeweils in den Jahrgangsstufen 5 und 6 - sollen an der Forschungsarbeit beteiligt werden.

Individualisierung besonders wichtig

Die Anregung, sich an der Diskussion und damit im Weitesten auch an der Gestaltung dieses Forschungsvorhabens zu beteiligen, nahmen die anwesenden Pädagoginnen gerne auf. Zwei Schwerpunkte zeichneten sich ab: 1. Wie sollten die „Peers“ - die Gleichaltrigengruppen - zusammengestellt sein, damit sie erfolgreich und für alle zufriedenstellend funktionieren? 2. Welche Rolle spielt für die Lernzeiten die Anpassung der Übungen an die individuellen Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler, und wie kann diese Anpassung bei der Zusammensetzung der Peergruppen berücksichtigt werden?

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© Redaktion www.ganztagsschulen.org

Schnell herrschte bei der Beantwortung der ersten Frage Einigkeit. Tandems ja, „aber bitte nicht nur solche, die nach dem Kriterium Gut trifft auf Schlechter zusammengesetzt werden“, fasste eine Lehrerin zusammen: „Jedes Mitglied in einer solchen Übungsgruppe soll das Gefühl haben, dass es etwas zum Erfolg beitragen kann.“ Welche Schülerinnen und Schüler beim Lernen gut zusammenpassen, müssen nach Einschätzung der Anwesenden die Pädagoginnen und Pädagogen entscheiden. Da dies aber Anfang der 5. Klasse angesichts der kurzen Kennenlernphase schwierig ist, solle mit der Peer-Gruppenbildung eventuell erst im zweiten Halbjahr der 5. Klasse begonnen werden.

Als schwieriger, aber ausschlaggebend für den Lernerfolg, schätzte die Runde ein, die Übungen trotz Gruppen den individuellen Bedürfnissen anzupassen. Kommentar einer Pädagogin: „Die Inhalte der Übungen und vor allem das Vorhandensein entsprechender Materialien sind entscheidend.“ Und sie fügte hinzu: „Peer-Tutoring und individuelles Lernen müssen ohne Lehrkraft funktionieren.“

Harmonische Politikerrunde „Was macht gute Schule aus?“

Selten erlebte Harmonie dokumentierten Vertreterinnen und Vertreter der im Düsseldorfer Landtag vertretenen Parteien bei ihrer Diskussionsrunde im Forum Bildung zum Thema „Was macht gute Schule aus?“. Neben dem Umgang mit Flüchtlingskindern, allgemeinen Fragen der Inklusion und der Digitalisierung erörterten Sigrid Beer (Bündnis 90/Die Grünen), Renate Hendricks (SPD) und Klaus Kaiser (CDU) die Frage, in wieweit Lehrerinnen und Lehrer möglicherweise zu stark belastet seien und wie der Ausbau des Ganztags in NRW voranschreiten solle.

Abgesehen von Detailfragen präsentierten sie sich dabei so einträchtig, dass Moderator Prof. Dr. Markus Ritter (Ruhr-Universität Bochum) zwischenzeitlich einwarf: „Das wird mir jetzt fast zu kuschelig.“ Aber auch er zeigte sich zufrieden damit, dass die Diskutierenden versicherten: „Wir würden ein schlechtes Bild abgeben, wenn wir uns bei der Flüchtlingsfrage politisch zerlegen würden.“ Auch der Blick auf den Ganztag fiel übereinstimmend zufrieden aus. Den Hinweis von Renate Hendricks und Sigrid Beer als Vertreterinnen der Landesregierung, dass keine Schule, die den Antrag auf Ganztag stelle, eine Absage erhalte, bestätigte auch Klaus Kaiser.

Gemeinsam zeigte man sich zudem überzeugt davon, dass die weitere Ganztagsschulentwicklung im Lande durch die vielen aktuellen Themen und Herausforderungen nicht in den Hintergrund gedrängt werde. Im Gegenteil: Sigrid Beer ermutigte speziell Schulen der Sekundarstufe I und hier insbesondere auch die Gymnasien, den Weg zum Ganztag zu gehen.

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