9. Ganztagsschulkongress: Rollentausch : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Schule aus Sicht von Menschen mit Behinderung zu erleben, war das Ziel des Workshops des SV Bildungswerks beim 9. Ganztagsschulkongress.

Zwei Stunden lang schlüpften die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieses Workshops in die Rolle von Menschen mit Behinderung. Sie setzten Kopfhörer auf, verbanden sich die Augen und tauschten den Seminarstuhl gegen einen Rollstuhl. Nach diesem Wechsel des Blickwinkels nahmen sie an dem Workshop teil, entwickelten gemeinsam ein Gespür dafür, welche Barrieren in Schulen existieren.

In kleinen Arbeitsgruppen malten sie ihre „Albtraumschule“. Die von ihnen zusammengetragene Liste der Dinge, die verändert werden müssen, um Inklusion tatsächlich zu ermöglichen, war lang. Treppen, enge Toilettenräume und Stuhlreihen, fehlende Gebärdensprache oder Informationen, die den für Gehörlose nicht wahrnehmbaren Schulgong ersetzen, waren nur einige der im Selbstversuch gesammelten Punkte. Damian Breu, der gemeinsam mit Lucy Demers und Raisa Spiller den Workshop moderierte, ist selbst hörgeschädigt. Lediglich auf einem Ohr ist ihm ein Rest an Hörvermögen geblieben. Er machte im Gespräch mit www.ganztagsschulen.org deutlich, dass es ihm an diesem Tag um mehr als nur um bauliche Veränderungen ging: „Die Haltung in den Köpfen der Menschen muss sich gegenüber Menschen mit Behinderung ändern.“

Die Gruppe wuchs zusammen

Er selbst besucht das Gisela-Gymnasium in München. Dort macht er in diesem Schuljahr sein Abitur. Damian lobt seine Schule: „Sie tut sehr viel für Inklusion“. Er hat auch schon andere Erfahrungen sammeln müssen. Die Privatschule, die er zuvor besucht hatte, behielt er, was den Umgang mit Menschen mit Behinderung angeht, in weniger guter Erinnerung. „Da war ich Außenseiter“, erinnert er sich. Vorwürfe will er seinen Mitschülerinnen und -schülern dennoch nicht machen. Denn er hat gelernt und erfahren: „Die Einstellung zu Menschen mit Behinderung kann sich nur durch eigenes Erfahren ändern.“ Auch in der jetzigen Schule, die er seit dem zehnten Schuljahr besucht, herrschte nicht gleich eitel Sonnenschein. Der etwa 18 Schülerinnen und Schüler großen Integrationsklasse gehörten insgesamt fünf Jugendliche mit Hörschädigung an. Damian erinnert sich: „Zunächst lebten die beiden Gruppen ziemlich nebeneinander her.“ Erst eine gemeinsame Studienfahrt veränderte die Situation. „Plötzlich kamen die Schüler ohne Behinderung auf uns zu und fragten, was wir denn brauchen. Sie interessierten sich für uns.“ Der Wandel, der eintrat, war verblüffend. Plötzlich wuchs die Klasse zu einer Gruppe zusammen. Den Gehörlosen wird plötzlich „auf die Schulter getippt, wenn jemand mit ihnen sprechen will. Man schaut sich ins Gesicht, damit die Gehörlosen vom Mund ablesen können.“

Verständnis und Kommunikation

Damian Breu
© DKJS / Piero Chiussi

Damian ist überzeugt, dass sich grundlegend nur etwa ändern wird, wenn es gelingt, in der Gesellschaft Vorurteile und Ängste abzubauen. Dabei ermuntert er auch die Eltern von Kindern mit Behinderung: „Die Akzeptanz fängt schon in der Erziehung an“, ist er überzeugt. Er erinnert sich daran, dass seine Mutter ihm nie das Gefühl gegeben habe, behindert zu sein. „Du kannst das“, sagte sie mit großer Selbstverständlichkeit. Doch diese Selbstverständlichkeit wird nicht überall gelebt. „Viele Menschen ohne Behinderung glauben etwa nicht, dass Menschen mit Behinderung Musik hören können“, sagt Damian und muss schmunzeln. Er selbst hat 15.000 Songs gespeichert – für den Eigenbedarf. Um sie abzuhören, benötigt er große Boxen. In Gebärdensprache zeigt er, wie er die Laustärke bei den Hausaufgaben aufdreht. „Ist nötig“, erklärt er, und meint: „Dann aber spüre ich den Bass in meinem Körper.“ Auch dass er leidenschaftlicher Tänzer ist, verwundert viele, die von seiner Behinderung wissen. Er findet sein Tanzen normal. Immer wieder wirbt er gemeinsam mit seinen Mitstreiterinnen vom SV-Bildungswerk für Verständnis und Kommunikation. Im Saal ist zu spüren – ihre Botschaft kommt an. Auch jene, dass Mitleid fehl am Platze ist. „Und trotzdem können Sie einen Blinden fragen, ob sie ihn über die Straße begleiten dürfen“, betont er, mahnt aber zugleich: „Nehmen Sie es dem so Angesprochenen nicht übel, wenn er dankend ablehnt.“

Ein wertvoller interaktiver Workshop

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an diesem intensiven Workshop nehmen wertvolle am eigenen Leib gesammelte Erfahrungen mit. Manche sind „extrem emotional“, andere äußeren, dass sie „auch Angst gespürt haben, weil sie auf einmal nicht sehen konnten, was um mich herum geschieht.“ Schon am Montag möchte Barbara Lichte das Erlebte in ihrer Verwaltung einbringen. Sie gehört dem Team der Bildungsholdung Duisburg an und meint nun: „Der Workshop hat dazu beigetragen, dass ich beim Aufbau einer Sekundarschule in unserer Stadt die Interessen von Menschen mit Behinderung stärker bei der aktuellen Raumplanung berücksichtigen werde.“ Aber ihr „Kompliment“ ging noch ein Stück weiter. In Richtung der engagierten Schülerinnen und Schüler fügte sie hinzu: „Ihr seid eine Bereicherung für diesen Ganztagsschulkongress.“

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