Was brauchen die „großen Kinder“ im Ganztag? : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Wenn es um Qualität im Ganztag geht, stehen die Sechs- bis Zwölfjährigen derzeit im Mittelpunkt. Was brauchen die Kinder dieser Altersgruppe, um sich in der Schule ganztags gut zu entwickeln? Eine Broschüre gibt Antworten.

Da staunten die Forscherinnen und Forscher in Kanada: Nicht im Vorschulalter ist der Bewegungsdrang am größten, sondern im Grundschulalter; also ausgerechnet in einer Zeit, in der von ihnen verlangt wird, lange still zu sitzen. Dieses Ergebnis war es der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung wert, es in ihre aktuelle Publikation aufzunehmen (S. 15). Aber vielleicht hat es die Autorin der Broschüre, die bekannte Entwicklungspsychologin Oggi Enderlein, auch nicht überrascht. Schließlich war sie es, die 2003 die „Initiative Große Kinder e. V.“ gemeinsam mit dem renommierten Bildungssoziologen Lothar Krappmann und weiteren Expertinnen und Experten ins Leben gerufen hatte, weil sie wusste, dass „große Kinder“ eben etwas anderes brauchen als die jüngeren Kinder in der Kita oder Jugendliche.

„Große Kinder“ sind für die gleichnamige Initiative, die im Land Brandenburg gegründet wurde, wo die Grundschule das erste bis sechste Schuljahr umfasst, Kinder im Alter zwischen 6 und 12 Jahren. Damit gehören sie, solange sie die Klassen 1 bis 4 der Grundschule besuchen, zu jenen Schülerinnen und Schülern, für die es ab August 2026 sukzessiv einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung geben wird. Der Titel der kompakten Broschüre bringt es auf den Punkt: „Was Grundschulkinder brauchen. Bedürfnisse und Entwicklung von Sechs- bis Zwölfjährigen als Ausgangspunkt für einen guten Ganztag.“

Bewegung, Bewegung, Bewegung

2620
© Britta Hüning

Fragen wir uns also, was große Kinder brauchen, um für ihr Aufwachsen von einem guten Ganztag profitieren zu können und in ihrer Entwicklung bestmöglich begleitet zu werden. Körperliche Aktivität ist eine der wichtigen Antworten, die sich durch das gesamte Heft zieht. Aber warum, mag sich die eine oder andere Lesende mit Kontakt zu „großen Kindern“ fragen, wollen Kinder nach der Schule am liebsten „chillen“, also ausruhen? Ist der Unterricht so anstrengend?

Das vielleicht auch, aber die Autorin gibt eine andere Erklärung. Sie weist darauf hin, dass Kinder viel Energie allein dazu benötigen, ihre Bewegungsimpulse zu unterdrücken. Es ist anstrengend, sich nicht bewegen zu dürfen. 1. Fazit: Guter Ganztag mit Blick auf die großen Kinder heißt: ganz viel Bewegung.

Wenden wir uns den Lebensthemen zu, die große Kinder umtreiben. Wir erfahren, dass große Kinder viel damit zu tun haben, sowohl ihre eigene Gefühlslage zu erforschen als auch die anderer einzuschätzen. Es geht zwischen 6 und 12 Jahren um die großen Gefühle: Ehrgeiz und Stolz, Glück und Enttäuschung, Wut, Angst, Aggression, Kränkung. An dieser Stelle erfolgt ein nachdenklicher Hinweis zu Online-Spielen: Online ließen sich, so die Autorin, Gefühle kaum oder nur grob an der Körpersprache des Gegenübers ablesen. Lehrkräfte würden immer häufiger Jugendliche erleben, die nicht gelernt hätten, körpersprachliche Signale zu entschlüsseln und angemessen zu reagieren (S. 19). 2. Fazit: Guter Ganztag heißt, großen Kindern Raum zu geben, sich ein differenziertes emotionales Repertoire erarbeiten zu können.

Beste Freundin und gute Gemeinschaft

Wer weiß dies nicht aus seiner eigenen Zeit als großes Kind: Die beste Freundin, der beste Freund sind fast lebenswichtig. Selbst wer sich nicht einer Klassengemeinschaft oder einer Gruppe zugehörig fühlt, kann dies kompensieren, solange er nur eine vertraute Gleichgesinnte als Freund oder Freundin bezeichnen kann. Idealerweise erleben große Kinder aber die Intensität einer guten Freundschaft und gleichzeitig ein Wir-Gefühl zu einer Gruppe. Das kann die Klasse sein, eine Sportmannschaft, ein musikalisches Ensemble, eine Jugendgruppe oder ein Verein.

1668
© Britta Hüning

Das Erleben von Zugehörigkeit, insbesondere zur Schul- und Klassengemeinschaft, beeinflusst die sozial-emotionale Entwicklung großer Kinder und ihre kognitive Kompetenz, wie etwa der UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland von 2021 zeigt (S. 20). 3. Fazit: Guter Ganztag heißt, Identifikationsmöglichkeiten mit Gruppen und Einzelnen nicht nur anzubieten, sondern darauf hinzuwirken, dass dies gelingt.

Mehr Aufmerksamkeit für große Kinder

Es ist der Initiative „Große Kinder e. V.“ seit ihrer Gründung konsequent gelungen, jene besondere Altersspanne in den Blick der der pädagogischen Fachlichkeit zu rücken. In den Jahren nach Veröffentlichung der ersten PISA-Ergebnisse (2000) und dem daraus resultierenden Interesse an der Bildungspolitik anderer Länder zeigte sich, dass dort die frühkindliche Bildung im Vorschulalter eine andere Bedeutung erfuhr als bei uns. Im Zuge dessen wurde nicht nur der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz eingeführt (2013), die frühkindliche Bildung erhielt überhaupt stärkere politische Aufmerksamkeit.

Verständlich also, dass die „Initiative Große Kinder e.V.“ – mit ihrem Vorsitzenden Prof. Ludger Pesch, Direktor des Pestalozzi-Fröbel-Hauses Berlin, der Erziehungswissenschaftlerin Karen Dohle, die im Brandenburger Bildungsministerium für Ganztagsangebote zuständig ist, und dem Experten für Kinderrechte und Kinderschutz Prof. Jörg Maywald – es sich zur Aufgabe gemacht hat, auf die alterstypischen Lebensbedürfnisse der älteren Kinder ab sechs Jahren aufmerksam zu machen.

Die Initiative bringt wissenschaftliche und praktische Impulse in die Gestaltung des Rechtsanspruchs auf Ganztag in der Grundschule ein, zuletzt mit dem Buch der drei Genannten „Ganztag im besten Interesse der Kinder. Kinderrechte für Große Kinder verwirklichen“. Vor diesem Hintergrund ist auch die aktuelle Broschüre zu verstehen, die Antworten auf die Frage gibt, was große Kinder in der Grundschule brauchen.

„Demokratie wächst mit den Kindern“

3071
© Britta Hüning

Von dem Bedürfnis der großen Kinder nach Identifikation mit einer Gemeinschaft ist es nicht weit zum Erfassen der Prinzipien, Normen, Regeln und Werte unseres demokratischen Zusammenlebens. Dazu ein Zitat: „Um zu lernen, wie man mit anderen Menschen richtig umgeht, brauchen Kinder den Kontakt zu ihresgleichen. Untereinander klären sie so wichtige Fragen wie: Was ist fair – was ist gemein? Was ist Spaß – was geht zu weit? Was ist Vertrauen – was Verrat? Was ist Ehre – was Beleidigung? Wie benimmt man sich anständig? Worin unterscheiden sich die Regeln bei Lehrer:innen, Erzieher:innen, in den Familien?“ (S. 23).

Kirsten Schweder vom Netzwerk Kinderrechte zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention wird in diesem Zusammenhang mit dem Satz zitiert „Demokratie ist nicht selbstverständlich, sie wächst mit den Kindern“. 3. Fazit: Guter Ganztag heißt: Alle Erwachsenen im Ganztag brauchen das Bewusstsein, dass Kinder sich an ihnen ein Vorbild nehmen, welche Verhaltensweisen im demokratischen Miteinander gewünscht, erwartet und wertgeschätzt werden – und welche nicht.

Kinder wollen und brauchen im Ganztag gute Beziehungen

Mit der Altersspanne der großen Kinder hängen entscheidende Wachstumsprozesse und damit auch Risikofaktoren zusammen. Es geht um körperliche Entwicklung, kognitive Entwicklung und um die Entwicklung der Ich-Identität. (S. 37). Für einen Teil der Grundschulkinder sieht es diesbezüglich – zumal nach Corona – nicht gut aus. Das Zusammentragen der Belastungsfaktoren, die aktuell die Entwicklung von rund 30 Prozent der großen Kinder beeinträchtigen, zeichnet ein eher bedrückendes Bild. Es gibt Hinweise darauf, dass gesellschaftliche, umweltbezogene und politische Krisen komplexe Auswirkungen auf die Gesundheit und Entwicklung von Kindern und Jugendlichen haben (S. 33ff.).

Kann ein guter Ganztag hier gegensteuern? Durchaus. Als Basis für Wohlbefinden und Resilienz haben sich unter anderem folgende Grunderfahrungen herauskristallisiert: das Erleben von Kompetenz, Selbstwirksamkeit, Autonomie, Partizipation und Bestätigung sowie das Gefühl, in einer Gemeinschaft anerkannt und akzeptiert zu sein. Guter Ganztag kann dies ermöglichen und geht damit weit über das Bereitstellen von Lernmöglichkeiten und kognitive Bildungserfahrungen hinaus.

3365
© Britta Hüning

Stellt sich die Frage, woran große Kinder selbst merken, dass es ihnen im Ganztag gut geht. Darauf geben Zehnjährige im Rahmen einer Studie Antworten (S. 38): „Ich kann in der Schule mitentscheiden, meine Lehrer kümmern sich um mich, die Lehrer hören mir zu und nehmen mich ernst.“ Auch eine weitere Studie, die sich den Kinderperspektiven auf Ganztag in der Grundschule widmete, hebt auf das Potenzial des Ganztags ab. Ihr Resümee: Die Ergebnisse spiegeln genau die Grundbedürfnisse und Lebensthemen der „Großen Kinder“ wider. Auch wenn vielfach in solchen und anderen Studien Wünsche an Lehrpersonen formuliert werden, sind für Kinder auch jene Akteurinnen und Akteure relevant, die keine ausgebildeten „Kinderprofis“ (S. 43) sind. Davon hat guter Ganztag – ungeachtet des Fachkräftemangels – immer noch viele.

Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (2022): Was Grundschulkinder brauchen. Bedürfnisse und Entwicklung von Sechs- bis Zwölfjährigen als Ausgangspunkt für einen guten Ganztag. Autorin: Oggi Enderlein, Redaktion: Carla Klatte, Sylvia Mihan, Anne Stienen. Berlin: DKJS.

Die Broschüre basiert teilweise auf dem Themenheft „Schule ist meine Welt. Ganztagsschule aus Sicht der Kinder“, die die Autorin im Programm „Ideen für mehr! Ganztägig lernen“ erarbeitet hat.

Weitere aktuelle Publikationen der „Initiative Große Kinder“:

Ludger Pesch, Karen Dohle, Jörg Maywald (Hg.) (2023: Ganztag im besten Interesse der Kinder. Kinderrechte für Große Kinder verwirklichen. Freiburg: Herder Verlag.

Jörg Maywald (2024): Kinderrechte und Kinderschutz im Ganztag. Kinder beteiligen, fördern, schützen. Freiburg: Herder Verlag.

Die Übernahme von Artikeln und Interviews - auch auszugsweise und/oder bei Nennung der Quelle - ist nur nach Zustimmung der Online-Redaktion erlaubt. Wir bitten um folgende Zitierweise: Autor/in: Artikelüberschrift. Datum. In: https://www.ganztagsschulen.org/xxx. Datum des Zugriffs: 00.00.0000