„Grundhandwerkszeug“ für den Ganztag : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Die Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Schleswig-Holstein bietet seit 2010 flächendeckend Qualifizierungskurse für den Ganztag an – in Kooperation mit Volkshochschulen. Kürzlich wurde die 1.000 Absolventin feierlich verabschiedet.
Von Haus aus war Birgit Henschke einmal Einzelhandelskauffrau. Doch vor mehr als drei Jahrzehnten entschloss sich die heute vierfache Mutter, ihre berufliche Zukunft bei der Arbeiterwohlfahrt zu suchen. Im Offenen Ganztag findet sie ihre Erfüllung in der beruflichen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, aktuell an der Klaus-Groth-Grund- und Gemeinschaftsschule in Heide. Kürzlich durfte sie sich über eine kleine Auszeichnung freuen. Sie wurde als 1000. Absolventin des Zertifikatskurses „Qualifizierung für pädagogisch Mitarbeitende an Ganztagsschulen“ geehrt. Der Kursus wird von der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Schleswig-Holstein angeboten.
Willkommen und gebraucht
Der Leiter der Serviceagentur Ricardo Grams betont: „Für eine erfolgreiche Umsetzung von ganztägiger Bildung und die Förderung gleichwertiger Bildungschancen ist einschlägig qualifiziertes Fachpersonal von entscheidender Bedeutung. Die Ausbildung und der Einsatz von pädagogischen Fachkräften wie staatlich anerkannten Erzieherinnen und Erzieher müssen ein vorrangiges Ziel bleiben, denn in der kurzen Zeit des Zertifikatskurses können wir Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern die notwendige Qualifikation einer ausgebildeten Fachkraft nicht vermitteln.“
Grams verweist auf den bevorstehenden Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter ab 1. August 2026 und den hohen Fachkräftebedarf: Dafür sei es wichtig, „diejenigen Menschen im Blick zu behalten, die eine berufliche Veränderung anstreben und sich für die Tätigkeit im Ganztag qualifizieren möchten“, gleichzeitig aber auch diejenigen, „die bereits seit vielen Jahren ohne einschlägige Ausbildung in Ganztagsschulen arbeiten“. Diese seien in den Schulen willkommen, gewollt und würden gebraucht, entweder als ergänzende Fachkräfte oder für geeignete Aufgaben.
Er wies auf die Notwendigkeit hin, eine Verständigung darüber zu erreichen, welche Aufgaben angemessen und welche Qualifikationen erforderlich seien. Schließlich meinte er: „Die Durchführung der verschiedenen Aufgaben muss sich an den unterschiedlichen Kompetenzen und fachlichen Expertisen ausrichten. Dies trägt dazu bei, die Qualität zu sichern und die Entgrenzung von Aufgabenbereichen zu vermeiden.“
Die Teilnehmenden: „Viel gelernt“
Offensichtlich hat die Serviceagentur wieder einmal den Puls der Zeit gespürt. 1000 Zertifizierungen in knapp sechs Jahren sprechen eine deutliche Sprache. Stimmen von Teilnehmenden dokumentieren dies. „Früher war ich fix und fertig nach der Arbeit. Dann kam Modul 3 mit der Konfliktmoderation. Da habe ich gelernt, dass nicht ich alle Lösungen finden muss. Ich kann jetzt Kindern helfen, ihre eigenen Lösungen zu finden“, gab etwa Barbara Leithäuser zu Protokoll. Sie arbeitet als pädagogische Mitarbeiterin der OGS „Zauberhut“ der Gustav-Peters-Schule Eutin im Kreis Ostholstein.
Ihre Kollegin Nora Gehlhaar betreut Kinder bei den Hausaufgaben in der Schulkindbetreuung der Paul-Klee-Grundschule Lübeck. Sie freut sich: „Wenn ich von jemandem gefragt werde, warum ich etwas so oder so mache, habe ich darauf jetzt fachliche Antworten.“ Julia Menzel, pädagogische Mitarbeiterin in der OGS der Brüder-Grimm-Schule Rellingen im Kreis Pinneberg fügt hinzu: „Durch die Module habe ich gelernt, welch großen Einfluss die verschiedenen Lebenswelten auf das Verhalten der Kinder haben. Ich stelle mich nun mit mehr Empathie als Gesprächspartnerin zur Verfügung.“
Kooperation mit Volkshochschulen
Die Geschichte des Zertifikatskursus reicht bis ins Jahr 2010 zurück. Die Kooperation mit außerschulischen Partnern wird in Schleswig-Holstein zu den wesentlichen Gelingensbedingungen insbesondere Offener Ganztagsschulen gezählt. Damit verbunden arbeitet eine ausgesprochen hohe Anzahl an außerschulischem Personal in den Schulen – sowohl pädagogisch ausgebildetes Personal als auch berufs- und lebenserfahrene Menschen, die sich für die Tätigkeit im Ganztag entschieden haben.
Ricardo Grams ist überzeugt: „Umso bedeutsamer war und ist die Qualifizierung des Personals, was sich regelmäßig in den Rückmeldungen an die Serviceagentur widerspiegelt. Um dem großen Bedarf an Qualifizierung in unserem Flächenland zu begegnen und Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger mit ‚Grundhandwerkzeug’ fit zu machen, wurde 2010 eine erste Qualifizierung entwickelt. Die Idee: Ein Modellprojekt gemeinsam mit den Volkshochschulen im Land umzusetzen und damit Veranstaltungen an verschiedenen Standorten im Land anbieten zu können.“
So bestand zum einen die Chance, ungleich mehr Personen als bisher für den Ganztag zu qualifizieren, zum anderen konnte die Qualifizierung zugleich den Austausch der pädagogisch Mitarbeitenden in der Region fördern. Angebote der Volkshochschulen erreichen aufgrund ihrer regionalen Verteilung im Land erfahrungsgemäß eine außerordentlich große Zielgruppe. Zudem verfügen die Volkshochschulen sowohl über räumliche Möglichkeiten vor Ort als auch über geeignete Verwaltungsstrukturen für die organisatorische Abwicklung.
Kursus mit 63 Unterrichtseinheiten
Die ersten Qualifizierungskurse wurden in Kooperation mit dem Landesverband der Volkshochschulen Schleswig-Holsteins e.V. (LV VHS) durchgeführt. Für die Pilotphase waren die VHS-Standorte Neumünster, Halstenbek und Dithmarschen ausgewählt worden, die im Hinblick auf Größe und Region unterschiedliche Rahmenbedingungen erfüllen. Der Pilot war ein voller Erfolg. Deshalb wurde die Qualifizierung ab 2016 zu einem Zertifikatskurs weiterentwickelt, der flächendeckend im Land angeboten wird.
Er besteht aus fünf Modulen mit insgesamt 63 Unterrichtseinheiten à 45 Minuten. Ein Zusatzmodul „Heterogenität & Inklusion“ mit weiteren 14 Unterrichtseinheiten wurde 2018 entwickelt. 2020 wurden als Reaktion auf die Pandemie alle Module des Zertifikatskurses überarbeitet. Seit April 2021 gibt es bei Bedarf sowohl Präsenz- als auch Online-Formate.
Der Zertifikatskurs richtet sich an pädagogische Mitarbeitende schleswig-holsteinischer Ganztagsschulen und Schulen mit Betreuungsangeboten in der Primarstufe sowie an Personen, die sich unmittelbar auf den Einsatz an einer dieser Schulen vorbereiten. Ohne Fleiß kein Preis, lautet auch im hohen Norden die Devise. Deshalb ist die Teilnahme an den Modulen „Arbeitsfeld Ganztagsschule“, „Kommunikation & Gesprächsführung“, „Kommunikation & Konfliktlösung“, „Pädagogik & Lernen“ sowie an einer abschließenden Präsentation verbindlich.
Im Zertifikatskurs erwerben die Teilnehmenden fachliches und methodisches Know-how zur effektiven und effizienten Gestaltung ihrer Arbeit im Ganztag. Sie entwickeln Kompetenzen, die zur Zusammenarbeit aller an einer Ganztagsschule tätigen Fachkräfte beiträgt. Darüber hinaus setzen sie sich mit einer Grundhaltung auseinander, die geprägt ist von systemisch-ganzheitlichem Denken und Handeln und dem ressourcenorientierten Blick auf Kinder und Jugendliche.
Über die Landesgrenzen hinaus bekannt
Dass das Angebot der Serviceagentur nicht nur im eigenen Land auf Aufmerksamkeit stößt, unterstrich im April 2023 die Einladung zum Ganztagskongress „Gelingensbedingungen für guten Ganztag“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) und des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) in Berlin.
Im Fachforum „Qualifikationen für den Ganztag für Lehr- und Fachkräfte“ präsentierten Ricardo Grams und Ildikó Kanalas-Kahler dort den Zertifikatskurs. Sie stießen während ihrer Darstellung und in zahlreichen Gesprächen am Rande des Kongresses auf sehr großes Interesse. Eine Teilnehmende meinte damals im Gespräch mit www.ganztagsschulen.org: „Das könnte ein Vorbild für alle Bundesländer darstellen und einen wesentlichen Beitrag zur Qualitätssicherung leisten.“
Entsprechend fiel auch die Würdigung der 1000. Absolventin durch das Land Schleswig-Holstein aus. Dr. Gabriele Romig, Leiterin der Abteilung „Bildungspolitische Querschnittsaufgaben, Lehrkräftenachwuchs, Lehrkräftepersonalverwaltung“ im Bildungsministerium des Landes Schleswig-Holstein, nahm an der Ehrung teil. Sie dankte den Absolventinnen und Absolventen für ihre Arbeit mit Kindern in den Ganztagsschulen und Betreuungsangeboten und wünschte ihnen „trotz vieler Herausforderungen weiterhin viel Freude an ihrer Arbeit.“
Legt man das Resümee der Teilnehmenden zugrunde, dürfte ihr Wunsch für viele in Erfüllung gehen. „Vor dieser Fortbildung empfand ich manchmal das ständige Erklären, die vielen Fragen und die teilweise Unruhe als sehr störend. Nach der Fortbildung sehe ich vieles anders. Ich verstehe die Kinder viel mehr. Ich habe gelernt, die Kinder anders wahrzunehmen. Ich lasse jetzt jedem Kind viel mehr Raum, den es braucht, um sich zu finden.“ Auf den Punkt brachte es die Mitarbeiterin einer OGS: „Mir bringt die Arbeit jetzt viel mehr Spaß, weil ich vieles lockerer sehe und nicht alles persönlich nehme.“
Kategorien: Ganztag vor Ort - Ganztagsschule in den Ländern
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