Offene Ganztagsschule NRW: Faktoren des Gelingens : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Die Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Nordrhein-Westfalen und der „Demokratische Salon“ luden gemeinsam zum Fachtag „Ganztagsbildung ist Kinderrecht – Perspektiven des Rechtsanspruchs auf einen Ganztagsplatz“ ein.

Dr. Norbert Reichel (r.) 2017 mit Uwe Schulz vom Jugendministerium NRW
Dr. Norbert Reichel (r.) 2017 mit Uwe Schulz vom Jugendministerium NRW © Saskia Nielen/ISA e.V.

Mit den Veranstaltern taten sich zwei zusammen, die über Jahrzehnte die Ganztagschulentwicklung in Nordrhein-Westfalen maßgeblich begleitet und mitbestimmt haben. Auf der einen Seite die Serviceagentur „Ganztägig lernen“, die einen unverzichtbaren Beitrag bei der Beratung und Unterstützung von Ganztagsschulen leistet. Auf der anderen Seite Dr. Norbert Reichel, Ganztagsschulen bestens bekannt als „Herr Ganztag“ des nordrhein-westfälischen Schulministeriums, mit seinem „Demokratischen Salon“.

Der „Demokratische Salon“, den Reichel nach seiner Pensionierung 2019 ins Leben rief, hat sich zu einem Internetmagazin entwickelt. Reichel empfiehlt und analysiert Bücher und Studien, Veranstaltungen und Ausstellungen, er bietet Essays zu historisch-politischen Themen, oft auch im Zusammenhang von Kunst und Literatur, sowie Begegnungen mit engagierten Menschen in Politik und Gesellschaft, Wissenschaft, Kunst und Literatur. Sei es in der Dokumentation von Gesprächen und Veranstaltungen, sei es in dem einen oder anderen Gastbeitrag – immer geht es um und die Zukunft unserer freiheitlichen Demokratie.

Die Idee hinter der Veranstaltung, die von den Leiterinnen der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ am Institut für soziale Arbeit (ISA) Münster Birgit Schröder und Hiltrud Wöhrmann gemeinsam mit Dr. Reichel moderiert wurde, war unter anderem die Frage, wie die Offene Ganztagsschule, die mit Fug und Recht „als Meilenstein für die Ganztagsbildung“ bezeichnet werden darf, sich im Hinblick auf den anstehenden Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter weiterentwickeln müsse.

Die Offene Ganztagsschule in NRW sei auch als Vision einer Schule entstanden, in der Kinderrechte den Alltag bestimmen, Kinder gemeinsam lernen und gemeinsam aufwachsen, eine Schule, in der Jugendhilfe und Schule gemeinsam dafür arbeiten, dass die im 15. Kinder- und Jugendbericht geforderte Ganztagsbildung Wirklichkeit werden kann.

Gemeinsames Handeln von Jugendhilfe und Schule gut vorbereitet

Dr. Reichel, 24 Jahre lang Gruppen- und Referatsleiter im Schulministerium NRW, zuvor acht Jahre im Bonner Bundesbildungsministerium tätig, referierte zur Geschichte des Ganztags. Er erinnerte daran, dass Ganztagsgrundschulen lange keine Priorität besessen hätten. So auch in NRW. Die Landesregierung habe in den 1990er Jahren den Ganztag ausschließlich an Gesamt- und Hauptschulen gefördert. Er zeigte die Entwicklung bis zur „entscheidenden Phase“ zwischen 2003 und 2005 auf und bezeichnete das vier Milliarden Euro schwere Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ (IZBB) der Bundesregierung als wichtigen „Pull-Faktor“. Daraus hat NRW von 2003 bis 2009 insgesamt 914 Millionen Euro erhalten.

Schulbibliothek der Janosch-Grundschule Troisdorf
Schulbibliothek der Janosch-Grundschule Troisdorf © Janosch-Grundschule

„Es war der erste Faktor des Gelingens, der zweite Faktor war die Deregulierung der Finanzierung“, die den Kommunen die Einrichtung von Ganztagsplätzen erheblich erleichterte. Und er verwies auf einen weiteren wichtigen Schritt, nämlich die Kooperation von Schule und Jugendhilfe unter dem Dach der OGS. So sei es möglich gewesen, binnen weniger Jahre die vom Land angestrebte Versorgungsquote von 25 Prozent weit zu übertreffen. Er hob hervor: „Wir sind inzwischen bei etwa 355.000 Plätzen. Das sind etwas mehr als 50 Prozent. In manchen Städten haben wir eine Bedarfsdeckung von über 70 oder sogar 80 Prozent. Manche Schulen sind schon eine OGS für alle und arbeiten im Grunde wie eine gebundene Ganztagsschule.“

Mit Blick auf den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter zeigte er sich optimistisch: „Nordrhein-Westfalen ist gut auf ein gemeinsames Handeln von Jugendhilfe und Schule vorbereitet.“ Er plädierte dafür, „einige Ungleichgewichte“ zu regeln. Konkret: „Auch in Zukunft wird das nordrhein-westfälische Trägermodell gelten. Bisher ist de facto, nicht de jure, die Schulaufsicht für die Genehmigung und Aufsicht zuständig, auf der Seite der Jugendhilfe fehlt das Gegenstück. Daher plädiere ich dafür, dass die zukünftigen Offenen Ganztagsschulen auch eine Betriebserlaubnis nach § 45 SGB VIII erhalten. Bei Konflikten müssen sich dann Jugendamt und Schulaufsicht auf Augenhöhe verständigen.“

Im Mittelpunkt steht das Kind

Für die weitere Realisierung der Ganztagsschule plädierte er unter anderem für „integrierte“ Raumprogramme, die nicht nur den Ganztag, sondern auch andere Bedarfe wie Inklusion, Digitalisierung, Bewegungs-, Ruhe- und Arbeitsräume für das Personal sowie Fragen der Hygiene einbeziehen. Als Herausforderungen bezeichnete er die Bedarfsplanung sowie einen verlässlichen Personalschlüssel für den Ganztag. Qualität sei nur mit einer deutlichen Erhöhung der Finanzmittel für das Personal machbar. Dafür seien nach diversen Berechnungen etwa 4.000 EUR pro Platz erforderlich.

Das SAG-Moderatorinnen-Duo Birgit Schröder und Hiltrud Wöhrmann führte anschließend die durch die Diskussion. In vier Schlaglichtern warfen Vertreterinnen und Vertreter aus der Praxis einen Blick auf das „Zusammenspiel“ von Schule und Jugendhilfe. Den Anfang machte Christian Eberhard, Leiter der Gottfried-Kinkel-Grundschule Bonn. „Qualität im Ganztag benötigt die Kompetenzen aller“, betonte er und fügte hinzu: „Qualitätsentwicklung erfordert viel Zeit und viel multiprofessionelle Arbeit.“

An seiner Schule orientiere sich das Team an einem gemeinsamen Bildungsverständnis, analog zur sogenannten „Bildungskugel“, die das Land vor zehn Jahren unter dem Stichwort: „Kinder – Mehr Chancen von Anfang an. Grundsätze zur Bildungsförderung für Kinder von 0 bis 10 Jahren in Kitas und Schulen im Primärbereich in NRW“ veröffentlicht habe. Im Mittelpunkt stehe immer das Kind. Das gelinge aber nur, wenn alle an einem Strang zögen. Dafür schaffe man Zeit und Raum.

Neue NRW-Initiative: Familiengrundschulzentren

Für Kinder und Familien einen niedrigschwelligen Zugang zu Bildungsangeboten zu schaffen und das Zusammenwirken von Schule, Jugendhilfe, Familienbildung und sozialen Diensten zu verbessern, sind zwei Ziele der Familiengrundschulzentren, die in zwölf Kommunen des Ruhrgebiets geschaffen wurden. Katharina Fournier, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für soziale Arbeit (ISA) das Projekt Familiengrundschulzentren begleitet, zeigte sich von deren positiver Wirkung überzeugt.

Gottfried-Kinkel-Grundschule Bonn: Ganztag in der Pandemie
Gottfried-Kinkel-Grundschule Bonn: Ganztag in der Pandemie © Online-Redaktion

Die Beratung zur Übergangsgestaltung bis hin zu Beratungsangeboten zu Bildung und Erziehung, die Lotsenfunktion zu externen Bildungs- und Unterstützungsanbietern, die Weiterentwicklung der Mitwirkungsmöglichkeiten für Familien am Schulstandort und im Sozialraum stehen im Zentrum der Arbeit dieser Familiengrundschulzentren. Zu ihren Aufgaben gehören ebenso die Schaffung von Begegnungsräumen für Familien sowie die Stärkung der Bildungspartnerschaft mit Familien. 40 Offene Ganztagsgrundschulen sollen bis 2023 zu solchen Zentren ausgebaut worden sein.

Eine Frage der Haltung

In seinem Vortrag erinnerte Dirk Fiegenbaum-Scheffner, ebenfalls Mitarbeiter der Serviceagentur und ausgebildeter Lehrer, an den Schutzauftrag von Schule und Jugendhilfe. Mit dem Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter werde die Zahl der Kinder in den Ganztagsschulen steigen und somit der Schutzauftrag noch mehr Bedeutung erhalten. Fiegenbaum rückte das Thema sexualisierte Gewalt in Schulen in den Fokus. „Schulen dürfen nicht wegschauen“, forderte er. Schulische Schutzkonzepte haben daher zwei Ziele: Zum einen seien Schülerinnen und Schüler vor sexueller Gewalt im schulischen Kontext – durch Erwachsene oder durch Mitschülerinnen und Mitschüler – zu schützen. Zum anderen gehe es darum, dass Mädchen und Jungen in der Schule Hilfe finden, wenn sie im schulischen oder im privaten Umfeld sexuelle Gewalt erlebten.

„Gelingendes Aufwachsen ist eine Frage der Haltung“, hob Nicole Börner hervor. Die langjährige Mitarbeiterin im Forschungsverbund Deutsches Jugendinstitut/Technische Universität Dortmund, die sich bereits im Bildungsbericht Ganztagsschule (BiGa NRW) dem Bereich „Ganztagsschule und Familie“ gewidmet hatte, vertrat nun den Fachbereich Familie, Jugend, Schule und Sport der Stadt Kamen. Haltung beinhaltet aus ihrer Sicht einen intensiven Dialog zwischen Schule und Jugendhilfe.

Kamen hat 2018 ein „Kommunales Präventionskonzept“ verabschiedet. Die Umsetzung, die alle Belange, die Familien betreffen, erfolge „Hand in Hand“. Damit folge die Stadt dem Auftrag von Oberbürgermeisterin Elke Kappen, dass sich nicht nur Akteure aus Fachpraxis, Politik und Verwaltung vernetzen, sondern auch die Dezernate selbst zusammenarbeiten. „Wir gehen ein Büro weiter“, garantierte Nicole Börner. Auch, um eine nachhaltige Entwicklung des Ganztags voranzubringen.

„Im quantitativen Ausbau die Qualität nicht vergessen“

In einer abschließenden Diskussionsrunde, moderiert von Norbert Reichel, ging es um die Frage, wie sich der Ganztag weiterentwickeln solle. Das erörterten Marion Gebauer, Fachreferentin Offene Ganztagsschule im Paritätischen Wohlfahrtsverband, Sabine Stahl aus der Bezirksregierung Arnsberg und Lorenz Bahr, Leiter des Landesjugendamts im Landschaftsverband Rheinland. Sie gingen nochmals auf die Bedeutung der engen Zusammenarbeit zwischen Schule und Jugendhilfe ein.

Kinder beteiligen
Kinder beteiligen © Janosch-Grundschule

Sabine Stahl warf ihren Blick auf die Qualifizierung des Personals und stellte die Frage nach möglichen gemeinsamen Fortbildungen: „Wie kriegt man es hin, dass sich die Professionen nicht erst in der Schule begegnen?“ Einschränkend argumentierte sie allerdings gegen „zu viel“ Gleichmacherei: „Zwei Professionen sind auch zwei Chancen.“ Lorenz Bahr zeigte sich optimistisch: „Die OGS wird nun neu erfunden. Und die Jugendhilfe kommt mit Macht in die Schule.“ Für Nordrhein-Westfalen betonte er: „Wir können viel Erfahrung aus dem Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz in die weitere Entwicklung des Ganztags in Grundschulen einbringen.“

Marion Gebauer spielte resümierend auf das Positionspapier der Freie Wohlfahrtspflege an, wenn sie sagte, dass „gute Qualität in der OGS keine Glücksache sein dürfe“. Dem stände allerdings die heterogene Finanzlage der Kommunen entgegen. Sie hob hervor, was die Entwicklung der Ganztagsschulen von Anfang an begleitet: „Wichtig ist natürlich, den quantitativen Ausbau des Ganztags in den Blick zu nehmen. Parallel dürfen wir aber die Qualität nicht vergessen.“

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