Ganztagsschule für Jugendliche attraktiv gestalten : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Zu einem kurzweiligen und informativen Fachtag lud die Serviceagentur Ganztag Berlin ein. Im Mittelpunkt stand die Frage, wie Ganztagsschulen den Bedürfnissen jugendlicher Schülerinnen und Schüler gerecht werden.

Fachtag der Serviceagentur Ganztag Berlin ...
Fachtag der Serviceagentur Ganztag Berlin ... © Stephan Lüke

Manchmal benötigt es keine prominenten Namen, um gelungen in einen Fachtag zu starten. Einen wunderbaren Beleg dafür lieferte der Fachtag für weiterführende Schulen „Ausgleichen, anreichern, anschließen – Ganztagsschule für Jugendliche attraktiv gestalten“. Zu ihm hatte die Serviceagentur Ganztag Berlin in die Baptistenkirche Wedding eingeladen. Rund 50 Interessierte aus Schule, Schulverwaltung und Jugendhilfe nahmen das Angebot an. Ihr Fazit fiel nahezu einhellig aus: „Es sind genau diese Treffen, die zu einer noch stärkeren Vernetzung führen und den Austausch über unsere tägliche Arbeit ermöglichen. Davon profitieren wir alle.“

Souverän erinnerten zum Auftakt Dr. Anne Breuer und Susanne Frank von der Serviceagentur Ganztag daran, was die Jugendforschung zu den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler herausgefunden hat. Aspekte der Entwicklungspsychologie wie sie der Sozialisationsforscher Prof. Dr. Klaus Hurrelmann und die Bildungssoziologin Prof. Dr. Gudrun Quenzel in ihrem Modell „Lebensphase Jugend“ beschrieben haben, beispielweise „binden, qualifizieren, konsumieren und partizipieren“, kamen ebenso zur Sprache wie die fachliche und methodische Kompetenzentwicklung Jugendlicher in der Schule, deren Bedeutung Anne Breuer und Susanne Frank in diesem Kontext hervorhoben. Dem Ganztag käme eine besondere Rolle zu: „Er bietet die Möglichkeit, nicht nur die fachliche Qualifikation der Schülerinnen und Schüler zu stärken.“

Jugend 2024

Aktuelle Jugendstudien wie die gerade wieder erschienene Sinus Jugendstudie „Wie ticken Jugendliche“ (2024), die Studie „Was bewegt die Jugend in Deutschland?“ (2022) der Bertelsmann-Stiftung oder die regelmäßigen Shell-Jugendstudien geben Auskunft, was Kinder und Jugendliche erwarten. Übereinstimmend seien beispielsweise die Wünsche, ernstgenommen und gerecht behandelt zu werden sowie eine Bildung fürs Leben zu erhalten.

Abgerundet wurde das aktuelle Bild durch Erkenntnisse, die die Serviceagentur bei ihren Beratungen gesammelt hat: Schülerinnen und Schüler betrachten demnach Bildung und Lernen im Unterricht, in Arbeitsgemeinschaften und Kursen im ganzheitlichen Sinne. Dr. Anne Breuer wies darauf hin, dass Ganztagsschulen vor der Herausforderung stehen, die Bedürfnisse vieler Gruppen zu erfüllen – die der Schülerinnen und Schüler, die der Eltern, aber auch die der an Schule Tätigen. Mit Blick auf die Kinder und Jugendlichen griff sie dabei den Titel der Veranstaltung auf.

Schule könne die aus den unterschiedlichen Perspektiven zusammengetragenen Erwartungen ausgleichen (Aufholen und festigen wichtiger Basiskompetenzen), anreichern (Entfaltung der individuellen Potenziale und Interessen in AGs und Workshops) und anschließen (Perspektiven auf Basis der Kompetenzen, Potenziale und Interessen schaffen, zum Beispiel durch Berufsorientierung).

Wertvoller Erfahrungsaustausch

Was benötigen die Lernenden?
Was benötigen die Lernenden? © Britta Hüning

Es zeichnete die Tagung aus, dass die Teilnehmenden auch in dieser kurzen Inputphase ins Gespräch kamen. In Murmelgruppen identifizierten sie Merkmale, die den Ganztag ihrer Meinung nach für die Schülerinnen und Schüler attraktiv machen: weniger Druck, Mischung von Unterricht und Außerunterrichtlichem, Spiel- und Sportangebote, Abwechslung, eine „schöne“ Schule, Mitbestimmung oder Rückzugsräume. Doch sie hinterfragten sich auch selbstkritisch, was und wovon die Lernenden mehr benötigen. Die Antworten offenbarten Handlungsbedarf: schöne (Rückzugs)Räume, mehr Freiraum und Entspannung (besonders häufig von Lehrkräften an Gymnasien hervorgehoben), eine noch breitere Auswahl an Arbeitsgemeinschaften (angeboten von Externen und Lehrkräften) sowie eine optimalere Verpflegung mit ausreichend Zeit, gutem und bezahlbarem Essen.

Vor und nach den Workshops diskutierten die Teilnehmenden intensiv untereinander und nutzten dabei die Gelegenheit, sich über ihre unterschiedlichen Erfahrungen im Ganztagsalltag auszutauschen. Finanzierungsfragen, Teamstrukturen, besonders häufig aber auch die Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams standen dabei im Zentrum. Simone Schulte vom Ganztagsträger Mittelhof e.V. leitet den teilgebundenen Ganztag an der Gail S. Halvorsen Schule, einer Integrierten Sekundarschule in Berlin-Dahlem. Sie brachte auf den Punkt, was viele bereits erfahren haben: „Es kostet zwar Zeit. Doch es lohnt sich, mit der Schule zusammen an Schulentwicklung zu arbeiten.“

„A-112 – der Pausentalk“

Auch eindrucksvolle Beispiele, wie Projekte, die Schülerinnen und Schüler erreichen und anregen, wurden vorgestellt. Auf großes Interesse stieß dabei der Workshop der Wilma-Rudolph-Oberschule über die Schülerfirma "Wilma helps". Die Firma bietet Catering für schulische Veranstaltungen an und spendet einen Teil des Gewinns an soziale Projekte. Das Programm "Berliner Schüler Unternehmen" der Deutschen Kinder und Jugendstiftung steuert viele wichtige Informationen und Tipps bei, was beim Aufbau einer solchen Firma und der Umsetzung zu bedenken ist und wie Schulen sich mit Know-How und Ressourcen unterstützen lassen können.

In der AG „Kingfluencer“ der Integrierten Sekundarschule „Am Königstor“ in Berlin-Friedrichshain beschäftigen sich die Neunt- und Zehntklässler mit sozialen Medien. Sie berichten digital über Themen aus dem Schulalltag, aber auch über Fragen, die Jugendliche insgesamt beschäftigen. Dabei kommen verschiedene Medien wie Videos, Fotos, Blogs und verschiedene Social Media Kanäle zum Einsatz. Auch ein Podcast wurde erstellt. Die Initiative ging von den Schülerinnen und Schülern aus. Sie hatten bedauert, dass „wir zu wenig von den anderen an unserer Schule mitbekommen.“ Der Podcast „A-112 – der Pausentalk“ leistet nun Abhilfe.

Erstellt wird der Pausentalk über spannende Inhalte in einem kleinen, selbst ausgestatteten Studio. Finanziert wurden Mischpult, Mikro und alles, was eine Aufzeichnung und Ausstrahlung erfordert, Stück für Stück. Projektmittel wurden eingeworben, unter anderem über das sogenannte Jungenprogramm des Sozialpädagogischen Instituts Berlin. Johannes Späth ist Sozialpädagoge und Leiter des Ganztags der Schule. Er fasst die positive Effekte zusammen: „Die Schülerinnen und Schüler fühlen sich in ihrem Anliegen ernst genommen, wenn sie monieren, zu wenig von den anderen mitzubekommen. Sie trainieren demokratische Strukturen, wenn sie über Inhalte abstimmen, lernen sich auszudrücken und kreativ zu schreiben, erfahren wie viel aufwändiger es ist, etwas selbst zu produzieren, statt nur zu konsumieren, und steigern ihre Medienkompetenz.“

Gymnasium meets Fraunhofer

Kriterien: „anspruchsvoll, attraktiv, am Puls der Zeit"
Kriterien: „anspruchsvoll, attraktiv, am Puls der Zeit" © Britta Hüning

Wie „einfach“ Schulen Begabungen finden und fördern können, zeigte Ariane Pieper auf. Sie unterrichtet Katholische Religion und Kunst und ist am Gabriele-von-Bülow-Gymnasium in Berlin-Tegel für die begabungsfördernden Kurse verantwortlich. Der Titel eines Kurses zur faszinierenden Welt der Mikroelektronik lautet vielversprechend „Social Media und Wissenschaft“. In zweitägigen Blockveranstaltungen besuchen Wissenschaftler des Fraunhofer-Instituts für Zuverlässigkeit und Mikrointegration (IZM) einen Tag lang die Gruppe in der Schule, am zweiten Tag wechselt die Gastgeberrolle. Am Ende stehen spannende Interviews mit den Fachleuten, von Schülerinnen und Schülern geführt und technisch aufbereitet, die erfolgreich auf den Social-Media-Kanälen des Instituts veröffentlicht werden.

Seit nunmehr drei Jahren existieren die BEgabi-Kurse. Die Themenwahl orientiert sich an den Kriterien „anspruchsvoll, attraktiv, am Puls der Zeit“. Im Kurs erfahren Schülerinnen und Schüler, wie sie komplexe wissenschaftliche Themen, wie Künstliche Intelligenz, Elektromobilität, Mikroelektronik oder smarte Textilien auf eine zugängliche und verständliche Weise erklären können. Sie erlernen auch effektive Fragetechniken für Interviews, produzieren Inhalte in einem allgemeinverständlichen Videoformat für Social Media und veröffentlichen diese abschließend.

„Besonders wichtig ist uns dabei die Produktorientierung“, erläutert Ariane Pieper. Will heißen, am Ende der eigenen Arbeit steht ein Videoprodukt, das online sichtbar ist und die Selbstwirksamkeit der Schülerinnen und Schüler stärkt. Ein Vermerk auf dem Zeugnis, eine Urkunde und die Präsentation der Videos, beispielsweise am Tag der Offenen Tür, tragen ebenfalls dazu bei.

 

Die Rotierende Lesestunde

Der Erkenntnis sinkender Lesekompetenzen trägt die Refik-Veseli-Schule, eine Integrierte Sekundarschule mit gymnasialer Oberstufe in Berlin-Kreuzberg, Rechnung. Die Sprachbildungskoordinatorinnen Lisa Shekel und Alexandra Gebhardt weckten mit der Vorstellung der „Rotierenden Lesestunde“ die Aufmerksamkeit der Workshop-Teilnehmenden. „Viele Kinder und Jugendliche finden Lesen blöd – nur weil ihre Lesegeschwindigkeit zu gering ist“, weiß Alexandra Gebhardt. Sie benötigen zum Lesen einzelner Wörter so lange, dass es ihnen nicht gelingt, den Zusammenhang und die Bedeutung eines Satzes zu erfassen.

Leseförderung  in allen Fächern
Leseförderung in allen Fächern © Britta Hüning

Eine Folge: Sie drohen im textbezogenen Fachunterricht zu scheitern. Die Lesetandems der 7. und 8. Klassen versprechen Verbesserung. Sie lesen sich gegenseitig vor, machen sich auf Fehler aufmerksam und bemühen sich, die eigenen Fehler selbst zu entdecken. Gebhardt: „Dabei arbeitet das Gehirn besonders stark und scannt sozusagen einzelne Wörter.“ Die Tandems werden häufig nach dem Gesichtspunkt der Sympathie gebildet, da es nach Aussagen der Referentinnen „nichts bringt, wenn da zwei zusammensitzen, die sich nicht mögen.“ Als Lektüre stehen leicht lesbare Texte, häufig Jugendromane, zur Verfügung.

Die gemeinsame Lesezeit wandert durch alle Fächer – daher „Rotierende Lesestunde“. Gebhardt: „Leseleistung und Lesegeschwindigkeit sind für alle Fachbereiche wichtig. Da ist es nur konsequent, die Leseförderung nicht alleine im Deutschunterricht anzusiedeln.“ Die Schule hofft, dass sie die Leseleistung ihrer Schülerinnen und Schüler dadurch so steigern kann, dass der Anteil derer, die die Mindeststandards beim Lesen nicht erfüllen, deutlich sinkt.

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