Ganztagskongress 2024: „Mut und Motivation“ : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Berlin, Berlin – wir fahren nach Berlin. Der zweite Ganztagskongress des BMBF und des BMFSFJ „Ganztag multiprofessionell gestalten“ fand mit 480 engagierten Beteiligten am bundesweiten Ganztagsausbau erneut großen Zuspruch.
Wenn es eines zusätzlichen Impulses bedurfte, so lieferte ihn gleich eingangs Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani. Denn er zeigte beim Ganztagskongress 2024 „Ganztag multiprofessionell gestalten“ in Berlin auf, wie sehr sich die Aufgaben der Schule in Ganztagsschulen verändert haben.
Der Bildungssoziologe von der Technischen Universität Dortmund betonte in seiner „Keynote: Bildungsgerechtigkeit im Ganztag durch Multidimensionalität erreichen“ deren neue Rolle: „Früher hat sich die Schule auf die Unterstützung der Familien verlassen. Heute müssen sich Familien auf die Schulen und den Ganztag verlassen können.“
Er verdeutlichte anschaulich den Wandel: „Die Gesellschaft hat sich extrem pluralisiert. Das neue Normal ist divers.“ Diese führe in Kombination mit dem um ein Vielfaches gestiegenen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund zu einer „Superdiversität“ an unseren Schulen. „Schule befindet sich in einem Transformationsprozess, der alleine durch Lehrkräfte nicht begleitbar ist. Wir brauchen also den Ganztag mit Zeit und Multifunktionalität“, betonte er.
Gemeinsame Ziele für den Lern- und Lebensort Schule
Es stelle sich daher die Frage, wie Institutionen aufgestellt sein müssten, damit sie dieser Aufgabe gerecht werden. Eine Antwort ist die gemeinsame Arbeit mit und für die Kinder und Jugendlichen in multiprofessionellen Teams. El-Mafaalani: „Alles, was in der Gesellschaft positiv ist, muss im Ganztag erlebbar sein.“
Eine besondere Herausforderung sind für ihn Kinder, die „in struktureller Knappheit aufwachsen“. Sie entwickelten oft ein rein funktionelles Verhältnis zur Schule mit einem „Management des Mangels“. Was Pädagoginnen und Pädagogen wissen müssen: „Sie kommen oft bereits beschämt in die Grundschule.“ Zugespitzt fügte er hinzu: „Kinder verhalten sich dann wie Insolvenzverwalter und treffen auf Schulen, die auch strukturellen Mangel verwalten.“ Er nannte beispielhaft die Talentscouts in Nordrhein-Westfalen, die sich dieser Problematik bewusst sind. Wenn sie die Schülerinnen und Schüler beim ersten Kontakt fragten, worauf sie stolz sind, bekämen sie darauf erstmal oft kaum Antworten, so der Soziologe.
Einen Ganztag mit vielen Kooperationspartnern sieht er als eine Antwort auf die Herausforderungen. Dafür bedürfe es einer guten und systematischen Arbeit in multiprofessionellen Teams. Es gelte gemeinsame Ziele für den Lern- und Lebensort Schule zu entwickeln, gemeinsamer Strukturen und einer Arbeit auf Augenhöhe.
Den Ganztag gemeinsam entwickeln
Damit unterstrich er bereits das Kernthema des zweitägigen Kongresses „Ganztag multiprofessionell gestalten“, der erneut gemeinsam vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) ausgerichtet wurde. In ihren Begrüßungsreden hatten Jana Borkamp, Leiterin der Abteilung Kinder und Jugend im BMFSFJ, und Dr. Johanna Börsch-Supan, Leiterin der Abteilung „Allgemeine und berufliche Bildung; Lebensbegleitendes Lernen“ im BMBF ihre Gemeinsamkeiten betont.
„Das Thema Ganztag können wir nur zusammen stemmen. Gemeinsam ringen wir um Konzepte“, betonte Jana Borkamp und versicherte: „Durch das Ganztagsförderungsgesetz haben wir einen guten Drive und eine gute Grundlage dafür.“ Dr. Johanna Börsch-Supan hob hervor: „Wir wissen, dass Zusammenarbeit auf allen Ebenen wichtig ist.“ Die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz zur Qualität im Ganztag bezeichnete sie in diesem Zusammenhang als „wichtige Leitplanken“.
Solche Leitplanken sind auch wichtig, weil für die Bildung die Länder zuständig sind und der Ganztagsausbau unterschiedlich weit vorangeschritten ist. In einer „Länderausstellung“, in der 15 Länder ihren aktuellen Ausbaustand und die landesspezifischen Schwerpunkte vorstellten, konnten sich die Besucherinnen und Besucher ein Bild von Gemeinsamkeiten und Unterschieden machen. Manche meinten: „Wenn man das liest, sieht man, dass wir doch schon etwas bewegt haben.“
„Zuständigkeit“ für alle Kinder und Jugendlichen
Am Abend war die Stunde der „starken Frauen“, wie Moderatorin Inge Michels, die durch den Kongress führte, die Podiumsrunde von vier Ministerinnen vorstellte: Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger, Bundesfamilienministerin Lisa Paus, die amtierende Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK) und saarländische Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot sowie die amtierende Vorsitzende der Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) und Bremer Bildungssenatorin Sascha Karolin Aulepp. Sowohl die Zusammenarbeit der Bundesministerien als auch das Zusammenwirken von KMK und JFMK sind durch das neue Investitionsprogramm Ganztagsausbau beinahe Neuland.
Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger hob zugleich die Zusammenarbeit mit der KMK hervor: „Die Empfehlungen der KMK stellen eine gute, vom Kindeswohl ausgehende Leitlinie für die Qualität im Ganztag dar“, sagte sie. Mit Blick auf die multiprofessionelle Zusammenarbeit ging sie auch auf die Ebene der Ministerien ein: „Wir müssen Räume der Zusammenarbeit definieren, ein gemeinsames Bildungsverständnis auch über Ressortgrenzen hinweg, und gegenseitiges Verständnis entwickeln. Bundesfamilienministerin Lisa Paus sieht das bereits auf einem guten Weg: „Die Arbeitsebenen unserer Ministerien arbeiten zusammen und erstmals in der Geschichte haben im Oktober die KMK und die JFMK gemeinsam getagt.“
Die Präsidentin der KMK und saarländische Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot betonte mit Blick auf die neben ihr sitzende Bremer Bildungssenatorin: „Wir sind als Ministerinnen beide für alle Kinder und Jugendlichen zuständig, nicht nur für Schulkinder. Und die Bedürfnisse eines Kindes ändern sich nicht, nur weil es von der Kita in die Grundschule wechselt.“ JFMK-Vorsitzende und Bildungssenatorin Sascha Karolin Aulepp weitete den Blick noch: „Ganztag ist nicht nur schulischer Ganztag. Kinder und Jugendliche erfahren Bildung auch im Verein oder wenn sie beispielsweise musizieren.“ Es gehe darum, Kooperationen für eine bessere Zukunft der jungen Menschen unabhängig von ihrer Herkunft zu entwickeln. Bundesbildungsministerin Stark-Watzinger erinnerte an die zivilgesellschaftlichen Akteure: „Sie werden ebenfalls in Schulen aktiv und gehören zu den multiprofessionellen Teams.“
Gemeinsame Ziele definieren
In den insgesamt 18 Fachforen vertieften die rund 250 Teilnehmenden – zu denen sich noch 230 online Zugeschaltete gesellten – das Thema des Kongresses „Ganztag multiprofessionell gestalten“ aus unterschiedlichsten Perspektiven. Gelingensbedingungen wurden erarbeitet, Praxisbeispiele und wissenschaftliche Erkenntnisse vorgestellt und diskutiert. Exemplarisch seien einige der Foren genannt:
Moderiert von Dr. Judith Adamczyk (AWO) nahmen sich Claudia Linsel (Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband), Alexandra Hepp (DRK) und Liane Muth (Deutscher Caritasverband) als Vertreterinnen jener Verbände, die bundesweit zu den größten Trägern von Ganztagsangeboten gehören, der Frage multiprofessioneller Team- und Leitungsarbeit an. Die Kooperationen seien noch zu wenig verbindlich geregelt und in gemeinsamen Zielen abgestimmt, war ihre These. Aus der Praxis wurde das bestätigt.
Berinice Gehrmann vom „Hort Feldmäuse“ in Potsdam: „In den ersten Jahren scheiterte die Kooperation mit der Schule schon an der Festlegung der Ziele.“ Sie ermunterte die Zuhörenden, sich Zeit für die Entwicklung eines gemeinsamen Bildungsverständnisses zu geben und nach Bindegliedern zu suchen: „Bei uns war es das Thema Integration.“ Dem konnte Schulleiter Stephan Wahner von der Carl-Humann-Grundschule in Berlin zustimmen: „Solche Entwicklungsprozesse sind schwierig. Helfen können dabei klare Teamstrukturen.“ Die gemeinsame Definition von Zielen, Rollen und Aufgaben erleichterten das Arbeiten. Beim Aufbau des Ganztags seien immer auch Kreativität und Motivation gefragt. Und, wie Wahner ergänzte: „Die gemeinsame Fortbildung ist wichtig.“
Sich gemeinsam fortbilden
Das bestätigte Prof. Dr. Marianne Schüpbach von der Freien Universität Berlin. Sie hat 2023 den „1. Berliner Pädagog:innen-Tag“ organisiert, dem im Juni 2024 der zweite folgen wird. An ihm nahmen künftige Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher teil. Ein Ziel lautete, mehr Verständnis für andere Professionen zu entwickeln. Die Bildungsforscherin: „Das ist ein erster Schritt, solange es keinen gemeinsamen Bildungsgang gibt.“ Denn aus ihrer Sicht sollten die Professionen nicht erst in der Praxis aufeinandertreffen.
Berlin hat gemeinsam mit der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ ein Netzwerk dieser Professionen aufgebaut. Aus dem Publikum kam die Anregung, die Gleichwertigkeit der Tätigkeiten anzustreben und keine Ressourcen zu verschenken, wenn beispielsweise Erzieherinnen in der Hausaufgabenbetreuung eingesetzt würden, wofür sie gar nicht ausgebildet seien.
Bremen ist bereits weiter: Dort gibt es seit 2012 eine Fortbildungsreihe der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ zur Arbeit in multiprofessionellen Teams. Entstanden ist sie in Kooperation mit der Universität Bremen und allen Ausbildungseinrichtungen für Studierende und Auszubildende der sozialen Arbeit. In drei Modulen können jährlich 70 Teilnehmende – auch durch Hospitationen im Ganztag – Einblicke in die Arbeit der anderen gewinnen. „Und das vor dem Berufseinstieg“, hob Angelika Wunsch, die Leiterin der Serviceagentur hervor.
Das gegenseitige Verständnis und damit die Akzeptanz stiegen. Das führe auch zu einer besseren Kommunikationskultur. „Wenn wir Teamplayer wollen, müssen wir auch Teamplayer ausbilden“, betonte Wunsch zum Abschluss des Forums „Multiprofessionalität in Studium, Ausbildung und Qualifizierung“. Zuvor hatte Prof. Dr. Gunther Graßhoff von der Universität Hildesheim bedauert: „Der Ganztag spielt in keinem Ausbildungsgang eine wesentliche Rolle.“ Für die notwendigen Nachqualifizierungen, auch für „pädagogische Laien“, sei eine Strategie erforderlich.
Auch die Selbstwirksamkeit der Erwachsenen stärken
Ein eindrucksvolles Praxisbeispiel lieferte Gaby Plachy, die ehemalige Schulleiterin der Havelmüller-Grundschule Berlin, im Forum „Gelingensbedingungen multiprofessioneller Kooperation in inklusiven Ganztagsschulen“. Nach jahrelanger Vorbereitung ging vor knapp drei Jahren das neue Konzept von Arbeit in vier Lernhäusern an den Start. Schülerinnen und Schüler werden von einem identischen Team sechs Jahre lang durchgängig begleitet. Täglich stehen zwei Projektstunden auf dem Stundenplan, die von Lehrkräften und Erzieherinnen gemeinsam konzipiert und durchgeführt werden.
Geleitet werden die pädagogischen Teams grundsätzlich von einer Lehrkraft, einer Erzieherin oder einem Erzieher. Plachy: „Die Überlegung aller, was sie den Kindern in den Projekten anbieten können, ergibt einen Strauß an Möglichkeiten für die Kinder und erhöht nicht nur deren Selbstwirksamkeit, sondern auch die der Erwachsenen.“ Eine Teilnehmende begrüßte ausdrücklich, dass die wissenschaftliche Begleitung auch die Bedeutung der Beziehungen im Erwachsenteam untersucht. Prof. Dr. Marianne Schüpbach und Kathrin Thomann werden in Kürze erste Ergebnisse der vorstellen.
Mehr Mut und Motivation
Gaby Plachy hatte Rollen- und Zielklarheit sowie eine gute Organisation als Erfolgsfaktoren multiprofessioneller Zusammenarbeit definiert. Doch wie sieht das aus der Perspektive der Träger von Ganztagsangeboten aus? Dies war Thema der Podiumsdiskussion „Zusammenarbeit in Praxis und Kommune“. Daniela Schneckenburger vom Deutschen Städtetag ging dabei auf die veränderte, jedoch oft immer noch unterschätzte Rolle der Kommunen als Schulträger ein, wie sie schon die Ministerinnenrunde am Vorabend hervorgehoben hatte. Pointiert formulierte sie: „Kommunen verstehen sich nicht nur als Hausmeister. Sie sehen sich auch als Mittler zwischen Schule und Kinder- und Jugendhilfe.“
Rebecca Kutz vom AWO Landesverband knüpfte unmittelbar an: „Beim Thema Kooperation von Schule und Jugendhilfe sind wir noch nicht am Ende des Weges angekommen. Für die Kommunikation müssen Räume geschaffen werden, denn Kooperation funktioniert nicht, wenn man sich nicht trifft.“ Doreen Siebernik von der GEW mahnte die „Augenhöhe“ an, die es „nicht umsonst“ gebe. Dafür brauche es Zeit- und Raumressourcen für den Austausch: „Sonst hilft nur die intrinsische Motivation“. Die Zielgruppe des Ganztags rückte schließlich der Vorsitzende der Bundesschülerkonferenz Florian Fabricius nachdrücklich in den Vordergrund: „Die Partizipation von Schülerinnen und Schülern ist wichtig für deren Wohlfühlen an einem Ort, an dem sie sich den ganzen Tag aufhalten“.
Prof. Dr. Sybille Stöbbe-Blossey von der Universität Duisburg Essen und Tobias Klag, stellvertretender Abteilungsleiter im Ministerium für Bildung Rheinland Pfalz, blieb es vorbehalten, in „Tagungsbeobachtungen zum Abschluss“ die zwei Tage des Ganztagskongresse zu resümieren. Sybille Stöbbe-Blossey faszinierten besonders der umfassende Blick auf den Ganztag und der Optimismus. Erfreut stelle sie fest: „Es hat mich überrascht, wie nach vorne geschaut und nach praktischen realistischen Lösungen gesucht wird.“ Tobias Klag bilanzierte: „Ich nehme mehr Mut und Motivation mit, sehe eher das Verbindende als das Trennende. Der Rechtsanspruch ist ein guter Motor für die Weiterentwicklung des Ganztags. Ein Highlight des Kongresses war der intensive Austausch.“
Kategorien: Ganztag vor Ort - Ganztagsschule in den Ländern
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