Zauberformel für den Ganztag: Gemeinsam und Qualität : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Zwei Tage lang ging es beim Online-Fachtag „Qualität im Ganztag: Kinder außerunterrichtlich begleiten“ in Freiburg im Breisgau um vielfältige Perspektiven auf Bildung und Betreuung – unter bundesweiter Beteiligung.

Gespräch Lehrerzimmer
Ein gemeinsames Bildungsverständnis entwickeln © Britta Hüning

Gemeinsam und Qualität: Zwei Worte machten die Runde und waren zwei Tage lang beim bundesweiten Online-Fachtag „Qualität im Ganztag: Kinder außerunterrichtlich begleiten“ akustisch und optisch nahezu permanent präsent. Sie prägten Vorträge, Diskussionen und viele der insgesamt 22 Workshops. Vermutlich verließen alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Veranstaltung, die mit großem Engagement von der Stadt Freiburg gemeinsam mit der Evangelischen Hochschule Freiburg und der impulse-Akademie Freiburg organisiert worden war, im sicheren Gefühl: Allein und ohne Qualität gelingt es eben nicht, Kinder außerunterrichtlich erfolgreich zu begleiten.

Spannend war deshalb allein schon die Diskussion, die sich rund um den Vortrag von Renate Holub-Gögelein, stellvertretende Amtsleiterin und Abteilungsleiterin im Amt für Schule und Bildung der Stadt Freiburg, ergab. Sie selbst formulierte bei ihrer Präsentation der städtischen Schulkindbetreuung (SKB) die Frage: „Warum benutzen wir eigentlich den Begriff Ganztagsbetreuung, wenn es in Wahrheit doch um ein gemeinsames Bildungsverständnis aller am Ganztag Beteiligten geht? Wir in Freiburg diskutieren darüber.“ 

Im Chatroom meldete sich umgehend Manja Plehn, Professorin für Pädagogik der Kindheit an der SRH Fachhochschule für Gesundheit Gera, zu Wort und plädierte: „Der Begriff Bildung sollte in einer neuen Wortkreation auf jeden Fall vorkommen.“ Die ausgebildete Diplom-Sozialarbeiterin, die neben ihren Tätigkeiten an Hochschulen – zuletzt bis 2018 an der Evangelischen Hochschule Freiburg – in Grundschulen in Kindertageseinrichtungen, Schulkindbetreuungen und Ganztagsschulen gearbeitet hat, wusste sie sehr genau, wovon sie sprach.

Ganzheitliches Bildungsverständnis

In zwölf von insgesamt 30 Grundschulen ist die Stadt Freiburg derzeit Träger der Ganztagsangebote, die am frühen Morgen sowie nach dem Unterricht platziert sind. Doch das Nebeneinander von Unterricht und Schulkindbetreuung auf dem Papier ist ein Miteinander in der Realität. In die zweijährige Konzeptionsentwicklung, aus der die „Pädagogische Konzeption Schulkindbetreuung der Stadt Freiburg“ hervorging, waren alle eingebunden: Schule, Jugendhilfe, Horte, freie Träger. 

Ihr Leitmotiv lautete: „Der Weg zum Ganztag beschreibt einen Veränderungsprozess hin zu einer Haltung, die ein ganzheitliches Bildungsverständnis in Schule und außerunterrichtlicher Begleitung umsetzt, das auf die Bedarfe und Bedürfnisse von Kindern, Jugendlichen und Eltern eingeht.“ Die Beteiligten gingen der Frage nach, was es braucht, um eine gute Qualität im Ganztag zu garantieren. Das Ergebnis: Kooperation auf allen Ebenen, Zeit und Raum für den kontinuierlichen Gedankenaustausch („zur Weiterentwicklung unserer Angebote aus Sicht der Kinder“), klare Strukturen in der Verwaltung und den Schulen. 

Betreuer und Schüler mit Gehhilfe in der Schule
© Britta Hüning

Die Stadt Freiburg lässt sich den Ganztag einiges kosten: Das städtische Ganztagsteam im Amt für Schule und Bildung umfasst zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Zu ihren Aufgaben zählt auch die Steuerung der Ganztagsbetreuung durch freie Träger über alle Schularten hinweg. 282 Beschäftigte sichern die Betreuung an insgesamt 18 Freiburger Schulen. Erzieherinnen und Erzieher werden von der Stadt finanziert.

„Kinder brauchen ein Kontrastprogramm zum Unterricht“

Schnell war auch der Kindheitspädagoge Bastian Walther vom Berliner Institut für Demokratische Entwicklung und Soziale Integration (DESI), das sich in der wissenschaftlichen Evaluation und Praxisbegleitung einen Namen gemacht hat, beim Stichwort Qualität angelangt. Er bedauerte in seinem Vortrag „Ganztag aus der Perspektive von Kindern im Grundschulalter“ eine Forschungslücke: nämlich die Frage, wie denn Kinder die Qualität ihres Ganztags beurteilen. 

Ergebnisse einer Studie, die er dazu jüngst mit Iris Nentwig-Gesemann und Florian Fried vom DESI – Iris Nentwig-Gesemann ist seit 2019 Professorin für Pädagogik an der Universität Bozen –veröffentlicht hat, stellte er auf dem Fachtag vor: Kinder wollen an der Gestaltung ihres Lebensortes beteiligt werden, und sie wünschen sich pädagogische Fachkräfte, die jenseits des Unterrichts anders als Lehrkräfte agieren. „Kinder brauchen ein Kontrastprogramm zum Unterricht, das ihnen als Erweiterung der Bandbreite ihrer Erfahrungen dienen kann“, so Bastian Walther. Sie möchten unbeobachtete Rückzugsorte, sozusagen als Ersatz für die frühere „Draußenkindheit“. Die Verschulung der Freizeit habe eben auch zu einem Verlust ihrer Aktionsräume geführt. 

Zugleich wies er auf einen Rollenkonflikt von Erzieherinnen und Erziehern hin: „Sie müssen die Hausaufgaben begleiten, obwohl sie wissen, dass diese bei den Kindern nach dem Unterricht nicht die allergrößte Begeisterung auslösen.“ Aber häufig sei das an der Schule so vorgesehen und auch viele Eltern erwarteten, dass Hausaufgaben in der Schule erledigt werden. Walther appellierte an das Publikum: „Setzen Sie eine forschende Brille auf: Was wollen und brauchen die Kinder, die uns anvertraut werden.“ 

Die Diplom-Psychologin und Ganztagsexpertin Oggi Enderlein dürfte bei diesen Worten glänzende Augen bekommen haben. Setzt sie sich doch seit gefühlten Ewigkeiten für die Belange der Großen Kinder ein und plädiert dafür, deren Lebensumwelt altersgerechter zu gestalten. Erfreut stellte sie in ihrem Workshop „Schule wird Lebenswelt: den Lebensthemen der großen Kinder im guten Ganztag Raum geben“ fest: „Dieser Kongress zeigt, dass immer mehr Erwachsene diese Haltung unterstützen.“ 

Sie empfahl den Teilnehmenden ihres Workshops, den Ganztag zu nutzen, um den Kindern die Realisierung ihrer „Lebensthemen“ zu ermöglichen. Diese Lebensthemen seien unter anderem „selber groß sein“, mit Gleichaltrigen zusammen sein, eigenständig die Welt entdecken und mit ihren Elementen spielen, etwas tun, was man sich selbst ausgedacht hat (darunter auch schon einmal etwas „Verbotenes“) und Gefühle ausleben.

Aus der Praxis: Adolf-Reichwein-Bildungshaus

Lehrerinnen mit Schülerinnen und Schülern
© Britta Hüning

Um all diese schon erwähnten Ziele zu erreichen, bedarf es einer engen Kooperation und guter Kommunikation zwischen allen Beteiligten, sprich auch mit den Eltern. Das bestätigten für das Adolf-Reichwein-Bildungshaus in Freiburg (ARB) die Leiterin des Ganztags Inés Günther und Konrektorin Anke Hecker-Natt. 

Regelmäßige und fest eingeplante Besprechungszeiten für die Klassenteams geben der Kommunikation (auch über einen schuleigenen Messenger) eine feste Struktur. Aktuelles kommt unmittelbar „auf den Tisch“, wenn sich die pädagogischen Fachkräfte zum Ende der fünften Unterrichtsstunde im Klassenzimmer einfinden. Dieser „Übergabetermin“ vor dem Gang in die Mensa erforderte anfangs durchaus ein wenig Überzeugungsarbeit. Nicht jede Lehrerin konnte auf Anhieb „hurra“ schreien und gab gerne Minuten der Stoffvermittlung ab. „Inzwischen aber wissen alle, wie wertvoll diese gemeinsamen Minuten sind“, garantierten die Referentinnen.

„Gemeinsam“ steht auch über den viermal pro Woche terminierten Lernzeiten der Kinder. Je eine Lehrkraft und eine Fachkraft des Ganztags begleiten die Klassen, die häufig mit einer Parallelklasse als Partnerklasse zusammen sind. Der individuellen Entfaltung dient der 90-minütige Klassennachmittag. Was in dieser Zeit geschieht, ob gebastelt oder gespielt wird oder ob kleine Ausflüge stattfinden, entscheiden Kinder und Erwachsene zusammen. Sicher ist, der Nachmittag schweißt die Gemeinschaft zusammen. 

85 Prozent der Schülerinnen und Schüler im Adolf-Reichwein-Bildungshaus, das eine Grundschule und ein Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung vereint, nutzen regelmäßig die Ganztagsangebote. Was eine Teilnehmerin zu der Frage brachte: „Fühlen sich die Kinder, die nicht für den Ganztag angemeldet sind, da nicht benachteiligt?“ Klare Antwort der Referentinnen: „Ja. Doch wir versuchen unser Angebot so hochwertig zu gestalten, dass möglichst alle es nutzen.“

Auch eine Frage der Fachkräfte

Als eine besondere „Ehre“ werteten es die Veranstalter, dass ihr Kongress zur ersten öffentlichen Tagung wurde, bei der der jüngst beschlossene Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder präsentiert wurde. Marion Binder, Leiterin des Referats „Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern“ im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend war die Freude über den Beschluss anzumerken. „Unser ganzes Ministerium und die Ministerin sind glücklich, dass die Betreuungslücke zwischen Kita und Grundschule nun geschlossen werden kann.“ Dass es dabei noch einige Hürden wie zum Beispiel die Gewinnung von Fachkräften zu überspringen gilt, verhehlte sie nicht. Folglich plädierte sie: „Wir müssen die Jahre bis 2026 nutzen.“

Britta Hüning
© Britta Hüning

Man könnte ein Buch mit den spannenden Inhalten der Workshops dieses interdisziplinären Fachtags füllen. Sei es der Workshop zu den Qualitätsstandards der Stadt Freiburg, die Holger Renner als Pädagogischer Fachberater für Schulkindbetreuung im Amt für Schule und Bildung, vorstellte, die Workshops zu Medien, Kinderrechten Kooperation und Raumgestaltung, die Referentinnen und Referenten der Evangelischen Hochschule Freiburg einbrachten, oder eben die Frage der Qualifizierung von Fachkräften für den Ganztag, die Sozialpädagogin Ulrike Glöckner aus den Erfahrungen der impulse Akademie thematisierte – die Perspektiven auf Bildung und Betreuung waren so vielfältig, wie es die „Qualität im Ganztag“ erfordert.

Die Schaffung eines guten Ganztags auf der Grundlage eines integrierten Bildungsverständnisses erörterte Ludger Pesch, Professor für Kindheitspädagogik an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin und gleichzeitig Direktor des Pestalozzi-Fröbel-Hauses, das seit über 100 Jahren Erzieherinnen und Erzieher ausbildet und inzwischen auch Trägereinrichtung für die Ganztagsbetreuung an sieben Grundschulen und zwei Sekundarschulen ist. Auch er erinnerte daran, bei der Qualitätsentwicklung stets die Perspektive der Kinder zu berücksichtigen.

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