Von Hausaufgaben zu Lernzeiten: ein langer Prozess : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Der veränderte Umgang mit Hausaufgaben und die Frage, wie diese in den Unterricht von Ganztagsschulen integriert werden können, standen im Mittelpunkt des 4. Transferforums „Von Hausaufgaben zu individuellen Lernzeiten“ am 16. April in Düsseldorf.

Am Ende der von rund 160 Vertreterinnen und Vertretern aus Ganztagsschulen, Bildungsverwaltung und Wissenschaft besuchten Veranstaltung stand ein klares Votum: Bis auf wenige Ausnahmen plädierten alle Anwesenden im Düsseldorfer Malkasten auf eine entsprechende Frage des Moderators Armin Himmelrath dafür, Hausaufgaben in Ganztagsschulen in ihrer bisherigen Form nicht nur zu überdenken, sondern abzuschaffen. Alternativen Konzepten wie individuelle Lern- oder Betreuungszeiten für „Schulaufgaben“ gehöre die Zukunft. Dass dieser Prozess seine Zeit benötigt, betonte die nordrhein-westfälische Schulministerin Sylvia Löhrmann: „Auf Knopfdruck und durch einen Erlass den Wandel herbeizuführen, klappt nicht“, betonte sie. Um die Hausaufgabenkultur zu verändern, bedürfe es vielmehr „systematischer Entwicklungslinien“ und großer Überzeugungsarbeit sowohl in den Kollegien als auch bei den Eltern.

Die Grüße der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Prof. Dr. Johanna Wanka, übermittelte der Leiter der Unterabteilung Berufliche Bildung im Bundesministerium für Bildung und Forschung, Thomas Sondermann. Er hob hervor, dass Bund und Länder im Rahmen ihrer Zuständigkeiten massiv in die Weiterentwicklung des Bildungswesens investieren. Dazu gehören aktuell etwa die Förderung der Bündnisse für Bildung, in denen Vereine, Verbände und Zivilgesellschaft unter dem Motto „Kultur macht stark“ außerunterrichtliche Bildungsangebote schaffen, aber auch das Begleitprogramm „Ideen für mehr! Ganztägig lernen“ und die Forschung zu Ganztagsschulen. „Worum es uns heute geht, ist, die Forschungserkenntnisse so schnell wie möglich in die Praxis zu überführen.“ Als Beispiel für den Transfer stellte er die neue, vom BMBF geförderte  Broschüre „Ganztag ohne Hausaufgaben!?“ vor und dankte besonders den Serviceagenturen „Ganztägig lernen“ für ihre engagierte Arbeit.

Die Geschäftsführerin der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS), Dr. Heike Kahl, pflichtete dem bei. „Wir wissen schon sehr viel über die Wirkung und Folgen von Hausaufgaben. Doch wir dürfen uns nichts vormachen, der Transfer in möglichst viele Schulen ist ein langer Weg“, erklärte sie. Dass sich ein langer Atem lohnt, begründete sie mit dem Hinweis auf die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen der Kinder. „Nicht alle erhalten zu Hause die Unterstützung, die sie benötigen. Mit Phasen des selbstständigen Lernens, die von Pädagogen betreut werden, bekommen an Ganztagsschulen alle die Chance, individuell gefördert zu werden – unabhängig von den Möglichkeiten ihrer Eltern“, meinte sie. 

Schon vor 40 Jahren belegt eine Studie die geringe Wirkung von Hausaufgaben

In ihrem Impulsreferat erinnerte die Akademische Rätin am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Tübingen, Dr. Britta Kohler, an die immer noch existente Einstellung zu Hausaufgaben: „Sie gehören für viele in unserem Schulsystem zur Schule wie die Tafel zum Unterricht; unhinterfragbar, schon immer da gewesen, auch zukünftig vorhanden. Eine Ganztagsschule kann aber mit integrierten Übungsphasen (Lernzeiten) kreative und selbstständige Formen des Übens möglich machen und diese sinnvoll und individuell auf Schülerinnen und Schüler zuschneiden.“ Sie verwies auf unterschiedlichste Studien, die belegten, dass Hausaufgaben im Mittel nur eine geringe Wirkung auf den Leistungszuwachs haben. Diese Erkenntnis sei nicht neu. Kohler erinnerte an die erste bekannte Untersuchung aus Deutschland zur Frage der Leistungssteigernden Wirkung von Hausaufgaben von Bernhard Wittmann vor mehr als 40 Jahren. Damals hätten je drei Klassen des 3. und 7. Schuljahres nach einem Vortest vier Monate lang keine Hausaufgaben im Rechnen oder Rechtschreiben erhalten. Wer keine Hausaufgaben im Rechnen hatte, hatte welche im Rechtschreiben und umgekehrt. Alle Lehrkräfte hielten Hausaufgaben für nützlich und notwendig. Weder die Lernenden noch die Eltern wurden über die Untersuchung informiert. Das Ergebnis habe überrascht: Es gab keine signifikanten Unterschiede im Leistungszuwachs.

Dr. Britta Kohler: Strukturelle Probleme der Offenen Ganztagsgrundschulen

Nach Ansicht von Britta Kohler könnten Lernzeiten vielfältige Funktionen übernehmen, welche zuvor geklärt werden sollten. „Zu nennen wären hier dann einerseits Übung, Festigung und Vertiefung, also Funktionen, die mit traditionellen Hausaufgaben in Verbindung gebracht werden, aber auch individuelle Unterstützung und Förderung sowie die Ermöglichung eines interessanten Lernens“, meinte sie. Darüber hinaus könnten Lernzeiten eine gute Gelegenheit bieten, um gemeinsam über selbst reguliertes Lernen nachzudenken und die Schülerinnen und Schüler darin zu unterstützen, ihr Lernen zunehmend selbst zu organisieren.

Teilnehmerinnen
© Deutsche Kinder- und Jugendstiftung

Mit Blick auf die Offenen Ganztagsschulen (OGS) machte sie deutlich, dass im Rahmen der Hausaufgabenbetreuung viele Probleme strukturell bedingt seien und folglich auch nicht innerhalb gegebener Strukturen gelöst werden könnten. Schwierig sei die Hausaufgabenbetreuung an einer Offenen Ganztagsschule unter anderem, weil verschiedene Personengruppen mit unterschiedlichen Erwartungen daran beteiligt seien und weil die OGS für die einen eine Ganztagsschule und für die anderen eine Halbtagsschule sei, folglich also unterschiedliche Rhythmen und Bedürfnisse gleichzeitig existierten. Die Lösung des Hausaufgabenproblems könnten daher nur der gebundene Ganztag oder eine hausaufgabenfreie Schule bieten.

Grundschule Comeniusstraße Braunschweig: Lernzeiten seit mehr als fünf Jahren

In zehn Fachforen beschäftigten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer anschließend unter anderem mit konkreten Beispielen von Schulen, die die Hausaufgaben abgeschafft haben. Eine von ihnen ist die für den Deutschen Schulpreis nominierte Grundschule Comeniusstraße in Braunschweig. Jahrelang habe es an der von rund 400 Schülerinnen und Schülern besuchten Schule eine Auseinandersetzung über die Hausaufgaben gegeben, berichteten Schulleiterin Brigitte Rössing und Ute Wasserbauer vom Gemeinschaftshaus Brunsviga e.V., das in enger Kooperation mit der Schule als Jugendhilfeträger den Ganztag gestaltet. Seit mehr als fünf Jahren existiert das Ganztagsangebot. Rückblickend auf den ursprünglichen Tagesrhythmus meinten Rössing und Wasserbauer: „Der Ablauf mit morgens Unterricht, dann Mittagessen, Hausaufgaben und schließlich Arbeitsgemeinschaften war uns allen viel zu hektisch.“

Vor knapp drei Jahren entschied man sich für die Einführung von Lernzeiten, die für zwei der vier Flurgemeinschaften – jeweils bestehend aus Klassen der ersten bis vierten Jahrgangsstufe – am frühen Morgen, für die beiden übrigen zwischen 10 und 11.30 Uhr liegen. Der Gedanke, dank Lernzeiten auf Hausaufgaben verzichten zu können, breitete sich seit ihrer Einführung langsam aus. In den 90-minütigen Lernzeiten arbeiten die Schülerinnen und Schüler primär an Lernangeboten der Fächer Deutsch und Mathematik. Auch Aufgaben aus anderen Fachbereichen, die die Kinder selbst gesteuert, eigenverantwortlich und selbstständig erarbeiten können, sind Bestandteile der Lernangebote. Die Schüler tauschen sich aus, beraten und helfen sich gegenseitig. Aus dem Kreis der Kinder wird zu jedem Aufgabenfeld ein Klassenkamerad als Experte und Ansprechpartner bestimmt. An ihn, eine Lehrkraft oder Erzieherin können sich die Schüler bei Fragen wenden. In einem Lerntagebuch werden die Lernfortschritte dokumentiert.

Viel Überzeugungsarbeit erforderlich

Brigitte Rössing und Ute Wasserbauer machen keinen Hehl daraus, dass die Einführung der Lernzeiten nicht im gesamten Kollegium auf Zustimmung stieß und stößt. „Manche fühlten sich überfordert, wenn sie den Kindern in einem ihnen fremden Fach helfen sollen, andere haben die Sorge, dass „ihr“ Fach zu kurz kommen könnte.“ Die große Mehrzahl des Teams aber sei inzwischen vom Konzept überzeugt. Unter anderem gelang dies durch einen gemeinsamen Studientag. An ihm wurde der Umgang mit dem Fach und den Aufgaben des anderen trainiert. Zugleich wurde verabredet, dass fachfremde Kollegen in eine neue Aufgabenstellung genauso eingeführt werden wie die Schülerinnen und Schüler. „Trotzdem gibt es einige wenige, die sich dem Konzept Lernzeit nicht anschließen können. Dann macht eine weitere Zusammenarbeit keinen Sinn. Ich sehe es als großen Vorteil unseres Berufs an, dass sich solche Kollegen an einer anderen Schule mit einem für sie stimmigen Konzept bewerben können“, sagte Brigitte Rössing. Zufrieden zog sie ein positives Fazit: „Wir haben erkannt, dass das individuelle Arbeiten in diesen Lernzeiten Hausaufgaben einfach überflüssig macht.“ Sie wurden deshalb mit Beginn dieses Schuljahres abgeschafft.

Schritt für Schritt zum individuellen Lernen

Den Stufenweisen Prozess von für alle Schüler gleichen und zuhause zu erledigenden Hausaufgaben bis hin zum individuellen Arbeiten, bei dem die Schüler selbst entscheiden, was sie in der Lern- oder Studienzeit lernen, verdeutlichte Jutta Vogel vom Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM) in ihrem Workshop. Dabei machte sie deutlich, dass es sich nicht um einen radikalen Wandel, sondern um die schrittweise Veränderung der Hausaufgabenkultur handeln solle. Schritt zwei könne bedeuten, dass die Lehrkraft differenzierte Aufgaben erteilt, die zu Hause erledigt werden, Schritt drei, dass alle Schülerinnen und Schüler die gleiche Aufgabe erhielten, diese aber in einem Hausaufgabenzimmer oder einer Arbeitsstunde bearbeiteten. Ein weiterer Zwischenschritt könne dann die Auswahl einer Aufgabe aus einem differenzierten Angebot durch die Schüler sein, die diese dann im Rahmen einer Arbeitsstunde erledigten.

Sie machten den Teilnehmerinnen und Teilnehmern an ihrem Fachforum Mut, darauf zu vertrauen, dass Lernende sehr wohl wesentliche Entscheidungen darüber, ob, was, wann, wo, mit wem und wie sie lernen, gravierend und folgenreich beeinflussen könnten. Kommentar einer Lehrerin: „Ich bin ein wenig skeptisch gewesen, ob Hausaufgaben abgeschafft werden sollen. Nach diesem Tag und diesem Workshop werde ich versuchen, mein Kollegium und die Eltern von einer Einbettung der Hausaufgaben in den Rhythmus unserer Ganztagsschule zu überzeugen.“ Ein Kollege stimmte am Ende des Transferforums, das von der DKJS im Rahmen des bundesweiten Ganztagsschulprogramms „Ideen für mehr! Ganztägig lernen.“ veranstaltet, vom BMBF und dem Europäischen Sozialfonds finanziert wird, zu: „Man kann nicht alles, was andere Schulen anders machen, 1:1 übernehmen. Die Abkehr von Hausaufgaben ist ein schwieriger Prozess, aber der richtige Weg. Dafür habe ich hier und heute wertvolle Anregungen erhalten.“

Kategorien: Service - Tipps

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