Qualitätszeit statt Verweilzeit – Ganztag in Brandenburg : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

"Qualitätszeit" im Ganztag durch professionelle Kooperation, Verbindung von Ganztagsangebot und Unterricht sowie Zuverlässigkeit ist das Ziel in Brandenburg. Bildungsminister Günter Baaske spricht im Interview über aktuelle Entwicklungen.

Online-Redaktion: Herr Minister, Brandenburg gehörte bundesweit zu den ersten Ländern, in denen Ganztagsschulen ausgebaut wurden. Wie sehen Sie den derzeitigen Stand, und wie entwickelt sich der Ausbau in den verschiedenen Schularten?

Günter Baaske: Ich freue mich, dass sich die Zahl der Schulen mit ganztägigen Angeboten im Land Brandenburg sehr positiv entwickelt hat. Nach einer stürmischen Dynamik in den Jahren bis zum Schuljahr 2010/11 hat sich die Entwicklung naheliegender Weise etwas abgeflacht. Inzwischen haben wir mit über 480 öffentlich getragenen Schulen mit ganztägigen Angeboten ein solides quantitatives Niveau erreicht. Der Weg zum Ganztag ist richtig, darum haben wir den weiteren Ausbau im Koalitionsvertrag fest vereinbart, und es kommen jährlich weitere Schulen dazu.

Auch bei einer Betrachtung nach Schulformen ist das Ergebnis für Brandenburg sehenswert: An öffentlichen Schulen nutzen mehr als 38 Prozent der Schülerinnen und Schüler der Primarstufe, mehr als 67 Prozent an Oberschulen und mehr als 73 Prozent an Gesamtschulen ganztägige Angebote. Insgesamt sind das fast 44 Prozent der Schülerinnen und Schüler der Schulen in öffentlicher Trägerschaft. Das ist bundesweit ein sehr hoher Wert.

Online-Redaktion: Was erwarten Eltern in Brandenburg von Ganztagsschulen?

Günter Baaske: Für Eltern sind ganztägige Angebote sehr wichtig. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie spielt dabei eine wichtige Rolle. Im Vordergrund steht aber zumeist der Wunsch, dass ihre Kinder auch außerhalb der regulären Unterrichtszeit eine gute Betreuung erfahren. Das geht von einem guten Mittagsessen über Hausaufgabenbegleitung bis zu ergänzenden Angeboten im kulturellen und sportlichen Bereich. Viele Eltern wollen, dass ihre Kinder mit den Schulkameraden gute gemeinsame, aber auch angeleitete verlässliche Betreuungszeit verbringen.

Aus fachlicher Sicht betone ich, dass die professionelle Abstimmung zwischen Lehrkräften und den Personen, die ganztägige Angebote an der Schule organisieren, eine besondere Bedeutung für die Qualität der Angebote hat. Natürlich muss der Hort an der Schule sich zu der pädagogischen Grundausrichtung im Schulprogramm positiv verhalten. Darauf achten viele Eltern – und das ist gut so. Es geht ihnen nicht um „Verweilzeit“, sondern um „Qualitätszeit“. Unstrittig ist leider auch, dass dies nicht immer gelingt.

Online-Redaktion: Wie steht das Land zur Frage offener oder gebundener Ganztagsschulen? Welche Bedeutung haben die Schulhorte?

Baaske: Auf der Fachebene führen wir seit Jahren eine Diskussion um die Qualität ganztägiger Angebote. Dabei werden die verschiedenen Organisationsformen, insbesondere die gebundene und die offene Form, schon gern mal als Alternativen auch im Hinblick auf die Qualität der Angebote gesehen. Ich bin von diesem Schwarz-Weiß-Bild nicht überzeugt. Alles was wir bisher wissen – und das Land Brandenburg hat sich 2014 und 2015 zwei größere Befragungen von Schulen zum Ganztag geleistet –, deutet darauf hin, dass es schwer ist, eindeutige formale Merkmale für eine gute oder eine weniger gute Ganztagsform zu finden. An dem Thema Qualität wollen und werden wir weiter arbeiten. Aber die Organisationsform des Ganztages allein wird uns dabei wohl wenig helfen.

Anders ist es mit dem Merkmal „Hort“. In der Primarstufe findet in Brandenburg der Ganztag immer in Kooperation mit dem jeweiligen Hort statt. Verlässliche Halbtagsschulen – das ist die gebundene Form des Ganztags an Grundschulen im Land Brandenburg - unterbreiten ihr Angebot in Verbindung mit den Horten, die in der Regel von freien Trägern betrieben werden. Das gilt ebenso für Grundschulen mit offenen Ganztagsangeboten, die ganztägige Angebote der Schule, der Horte und anderer Kooperationspartner unterbreiten.

Mehr als 60 Prozent der Kinder im Grundschulalter der 1. bis 6. Klasse besuchen in Brandenburg einen Hort – unabhängig davon, ob dieser im Rahmen eines Ganztagsangebots mit der Schule kooperiert. Die Kooperation von Grundschule und Hort – unabhängig von Ganztag – wird im Gemeinsamen Orientierungsrahmen für die Bildung in Hort und Grundschule, kurz GOrBiK, beschrieben.

Online-Redaktion: Aktuell liegen für Brandenburg und Berlin gemeinsame neue Rahmenlehrpläne vor. Bieten sie auch Anknüpfungspunkte für Ganztagsangebote?

Baaske: Ja, natürlich bietet der neue Rahmenlehrplan für die Jahrgangsstufen 1 bis 10 vielfältige Anknüpfungspunkte für ganztägige Angebote. Er wird zum Schuljahr 2017/18 unterrichtswirksam. Sie werden nicht den "Ganztag"-Begriff finden, aber nehmen Sie den Teil B – Fachübergreifende Kompetenzentwicklung, dann können Sie beinahe jede Teilüberschrift nehmen und auf ganztägige Angebote hin untersetzen.

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Regine Hildebrandt-Gesamtschule in Birkenwerder © Wolf-Emanuel Linsenhoff

Ob Sie Sprachbildung oder Medienbildung nehmen, Berufs- und Studienorientierung, Demokratiebildung oder kulturelle Bildung, um nur einige beliebige übergreifende Themen auszuwählen: Wo, wenn nicht in ganztägigen Angeboten, wäre der richtige Platz, sich damit über den Unterricht hinaus auseinanderzusetzen? Das ist eine Einladung an alle Beteiligten, die Kooperation zwischen Lehrkräften und dem Personal in Ganztagsangeboten jenseits vom Auswendiglernen europäischer Hauptstädte oder des Dreisatzes als Hausaufgabe zum Unterricht zu vertiefen.

Ich habe die Bedeutung dieser Kooperation bereits angesprochen. Sie ist von enormer Bedeutung auch im Hinblick darauf, dass Schülerinnen und Schüler mit sehr unterschiedlichen Kompetenzen die Schule besuchen: Im Ganztag können andere Kompetenzen aufgerufen und entwickelt werden – das ist für sie eine große Chance.

Online-Redaktion: Wie wichtig sind Kooperationen mit außerschulischen Partnern, zum Beispiel mit der Jugendhilfe?

Baaske: Das ist natürlich wichtig. Wir wissen aus vielen Zusammenhängen um die außerordentlich große Bedeutung der Kooperation mit Externen für die Schülerinnen und Schüler, aber auch für die Lehrkräfte. Der „fremde“ Blick auf die Schule, auf die Art zu unterrichten, aber auch auf den einzelnen Schüler trägt dazu bei, sich von einseitigen Zuschreibungen lösen zu können und die Schülerinnen und Schüler eher in ihrer Gesamtpersönlichkeit zu sehen.

Hinweise dazu geben zum Beispiel auch die „Konzeptionellen Grundlagen für einen Nationalen Bildungsbericht – Non-formale und informelle Bildung im Kindes- und Jugendalter“. Darin wird konstatiert, dass „in den frühen Bildungs- und Sozialisationsphasen der Heranwachsenden gerade die Formen, Orte und Modalitäten der non-formalen und informellen Bildung von besonderer Bedeutung sind, da in dieser Altersphase entwicklungsbedingt das Zusammenspiel von informeller, non-formaler und formaler Bildung noch weitaus enger miteinander verwoben sind“.

Nicht zuletzt stellen die außerschulischen Partner einen zusätzlichen, geschützten Erfahrungsraum und Ort non-formaler Bildung bereit, an dem Kinder partizipativ in der Gruppe der Gleichaltrigen Lernerfahrungen in „Ernstsituationen“ sammeln können. Das ist eine wertvolle Ergänzung zum Unterrichtsangebot von Schulen. Im Vergleich dazu erscheint die rein praktische Frage, dass die außerschulischen Partner auch Betreuungszeit absichern, schon beinahe banal – und ist es aus familienpolitischer Sicht natürlich keineswegs.

Online-Redaktion: Welche Unterstützungssysteme bietet das Land für die Qualitätsentwicklung der Ganztagsschulen an?

Baaske: Um ein für die praktische Arbeit in den Schulen besonders wichtiges Element zuerst zu nennen: Der Erfahrungsaustausch zwischen den Schulen ist erfreulicherweise oft sehr rege. Die Qualitätsentwicklung wird auch durch das LISUM, unser Landesinstitut für Schule und Medien, und sein Angebot von jährlichen Fachtagungen unterstützt.

Käthe-Kollwitz-Gesamtschule Mühlenbecker Land
Käthe-Kollwitz-Gesamtschule Mühlenbecker Land © Käthe-Kollwitz-Gesamtschule Mühlenbecker Land

Das Beratungs- und Unterstützungssystem Schule und Schulaufsicht, kurz: BUSS, ist mit seinen Beraterinnen und Beratern in den Regionen unterwegs. Konsultationsstandorte im Ganztag, die wir vor längerer Zeit etabliert haben, will ich gerne wieder stärker unterstützen. Und wir alle partizipieren daran, dass die umfangreichen Ergebnisse der bundesweiten Vernetzung im Programm „Ganztägig lernen“ gut sortiert im Internet abrufbar sind.

Online-Redaktion: Gibt es Schwerpunkte, die Ihnen für die Zukunft besonders wichtig sind?

Baaske: Bei Ganztagsschulen sind wir quantitativ und qualitativ gut aufgestellt, aber manches lässt sich natürlich immer verbessern. Einige Stichworte sind schon angeklungen: Interprofessionelle Kooperation an der einzelnen Schule, thematische Verschränkung der Angebote zwischen Unterricht und Ganztag und organisatorische Zuverlässigkeit sind aus meiner Sicht auch unabhängig von formalen Festlegungen zur Organisation wichtige Zielsetzungen für die nächsten Jahre.

Wenn wir den Schulen dabei immer mehr Selbständigkeit in organisatorischen Fragen zutrauen, ist es zugleich wichtig, deutlich zu machen, dass ihre interne Organisation solide sein muss. Die Ressourcen, die wir für den Ganztag einsetzen, sollten nicht zur Manövriermasse werden, die im Zweifel dazu dienen, den Kernunterricht abzusichern.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Seit 2009 haben auf www.ganztagsschulen.org regelmäßig Bildungsministerinnen und Bildungsminister in Interviews die Entwicklungen beim Ausbau der Ganztagsangebote in ihrem Land erläutert. Alle Interviews finden Sie in der Rubrik „Bildungpolitik: Interviews“.

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