Münchner Ganztagsbildungskongress: „Gemeinsam Schule leben“ : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Bereits zum vierten Mal fand der Münchner Ganztagsbildungskongress statt, auch diesmal wieder mit einem vielfältigen Programm aus Vorträgen, Workshops und Schulhospitationen unter dem Motto „Ganztagsbildung gemeinsam gestalten“.

Bereits zum 4. Mal fand vom 10. bis 12. März 2015 in der Alten Kongresshalle in München der Münchner Ganztagsbildungskongress statt, diesmal mit einer Premiere. Erstmals wurde der Münchner Schulpreis verliehen.

Der Münchner Stadtschulrat Rainer Schweppe begrüßte die rund 650 Besucherinnen und Besucher: „Uns ist es wichtig, auf dieser Veranstaltung zu zeigen, dass Ganztagsschule nicht alleine geht. Daher präsentieren sich hier das Referat für Kultur, für Soziales und für Bildung gemeinsam.“ Für eine ganzheitliche Bildung brauche man neben Lehrkräften auch Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, Erzieherinnen und Erzieher, die Jugendhilfe, die Kulturpädagogik und den Sport. Für München sei die Frage der Raumressourcen die derzeit drängendste. Der Stadtrat habe daher im November die Weichen gestellt, dass bis 2020 alle Ganztagsschulen die entsprechenden Räume erhalten sollen, die sie benötigen. Alexandra Brumann, die Leiterin des Schulamtes München, erklärte: „In München gibt es inzwischen neunmal so viele Ganztagsklassen wie noch 2010, und bei den Mittelschulen ist die Versorgung mit Ganztagsplätzen flächendeckend.“

„Für das Leben lernen“

Im ersten Impulsvortrag „Lernort Zukunft – Bildung im Wandel“ konfrontierte Roger Spindler von der Schule für Gestaltung in Bern das Auditorium in der Kongresshalle mit der Tatsache, wie sehr Internet und interaktive Medien bereits heute die Kinder und Jugendlichen bei der Aneignung von Wissen beeinflussen – und welche Konsequenzen die Schulen daraus ziehen müssen: „Den Lernort Zukunft müssen drei Kategorien prägen: Kreativität, Virtualität und Flexibilität.“

Stadtschulrat Rainer Schweppe während des Presserundgangs
Stadtschulrat Rainer Schweppe © Tamas Magyar / Münchner Serviceagentur für Ganztagsbildung

Der Spruch „Für das Leben lernen“ gewinne in einer „zunehmend individualisierten Patchwork-Gesellschaft“ an Bedeutung, und die Schule müsse mit Lernangeboten darauf reagieren. Die Digitalisierung des Lernens berge die Gefahr, dass „bulimisches Lernen“ verstärkt werde. Manche Wissenschaftler würden empfehlen, erst ab dem 12. Lebensjahr Computer ins Lernen einzuführen. Aber die Realität sei, dass sich die Schülerinnen und Schüler bereits auf Plattformen wie „edX“ oder „iversity“  bewegten. „Und ich rate Ihnen allen, sich diese Seiten auch anzuschauen“, meinte der Schweizer.

Ganztagsschule als „Kulturbruch“

Prof. Marlies Krainz-Dürr, Rektorin der Pädagogischen Hochschule Kärnten und selbst eine bekannte Schulentwicklungsforscherin, fasste in ihrem Vortrag Forschungsergebnisse zur Ganztagsschule zusammen und eröffnete auch die österreichische Perspektive auf das Thema. „Wir bewundern Deutschland für den Ganztagsschulausbau, aber noch mehr für die umfassende Begleitforschung zum Thema Ganztag“, erklärte die Erziehungswissenschaftlerin. Österreich sei demgegenüber noch schwach in der ganztägigen Bildung aufgestellt. Im Mai 2014 habe der Bildungsexperte Bernd Schilcher unter der ketzerischen Überschrift „Glückliches Österreich kassiere – und schlafe ruhig weiter“ unter anderem kritisiert, Österreich würde bei den Ganztagsschulen eine Reform verhindern, die noch kaum und dazu lustlos begonnen habe. „Deutschland schneidet in allen drei PISA-Kompetenzbereichen deutlich besser ab als vor zehn Jahren. Wir hingegen rühren uns nicht vom Fleck und grundeln weiter im schwachen Durchschnitt“, so Schilcher.

Marlies Krainz-Dürr betonte, dass in einer Ganztagsschule die Lehrerinnen und Lehrer viel stärker für die Lernergebnisse in der Verantwortung stehen als in einer Halbtagsschule, „wo man darauf vertraut, dass zu Hause gelernt wird“. Insofern stelle die Ganztagsschule einen „ bedeutenden Kulturbruch“ dar. „Wenn ich an der PH Kärnten Lehramtsstudenten frage, was sie sich wünschen, höre ich oft: 'Ich wünsche mir, dass die Klasse ruhig ist und mir zuhört und ich in Ruhe unterrichten kann.'“ Mit den Erfordernissen modernen Lehrens und Lehrens habe das nichts zu tun.

Wie eine Lehrerbefragung von Ulrike Popp im Jahr 2012 gezeigt habe, sind Lehrkräfte heutzutage weniger als ungestörte Wissensvermittler, sondern mehr als Berater und Partner der Kinder und Jugendlichen gefragt. „Man werde als Mensch sichtbar und gefordert“, zitierte sie eine Lehrerin. Die Lehrkräfte müssten ständig fragen, wie die Kinder eigentlich lernen, sie müssten dies reflektieren, diagnostizieren und evaluieren. Dabei werde das aus Großbritannien bekannte System der „Schüler als kritischen Freunde“ virulent, bei dem Schülerinnen und Schüler als Experten für die eigene Lebenswelt in die Schulforschung einbezogen würden.

„Bildung hängt von Beziehungen und Bindungen ab“

Gruppenfoto mit u.a. zwei Schülervertretern
© Tamas Magyar / Münchner Serviceagentur für Ganztagsbildung

Die Psychologin Prof. Fabienne Becker-Stoll hielt in ihrem Eröffnungsvortrag „Beziehungsqualität und Bildung“ des zweiten Kongresstages „die Autonomieförderung in den Schulen noch für steigerungsfähig“. Die Direktorin des Staatsinstituts für Frühpädagogik in München stellte Studien vor, die den Zusammenhang zwischen der Beziehungsqualität und der Leistung und Leistungsmotivation nachweisen. „Der Ertrag früher Bildungsprozesse hängt entscheidend von den Beziehungs- und Bindungsprozessen ab.“ Eine Studie aus den USA von 2012 zeige, dass belastete Schüler-Lehrer-Beziehungen die Wahrscheinlichkeit von Schulversagen erhöhen. Konflikte mit Lehrkräften führten zu einem Absacken der Leistungen, selbst bei guten Schülerinnen und Schülern.

Prof. Ulrich Deinet schließlich forderte in seinem Beitrag „Die Jugendarbeit erweitert eine bisher eher schulorientierte Bildungslandschaft“, stärker außerschulische Lernorte einzubeziehen. „Die Schulen müssen sich öffnen und den Sozialraum einbeziehen“, so der Sozialwissenschaftler der Fachhochschule Düsseldorf. Die Kinder- und Jugendhilfe müsse sich offensiv in diese Bildungsarbeit einklinken und in die Gremien der Bildungslandschaften drängen, um mitgestalten zu können. „Sie muss ihre Kernkompetenzen von Partizipation und Demokratiebildung einbringen“, so der Wissenschaftler.

Kinder und Jugendliche eigneten sich ihre Umwelt immer in der für sie passenden Weise an und widmeten Orte in ihrer Bedeutung um. Schulen können an diese Art des informellen Lernens andocken und eine interessante Form des Lernens entwickeln, die die motorischen Fähigkeiten der Kinder nutzt und mit Anerkennung verbunden ist. „Die Formulierung von der Ganztagsbildung geht da schon in die richtige Richtung“, so Deinet.

Schulpreis für Ganztagsgrundschule Berg am Laim

Am Nachmittag des ersten Veranstaltungstages zeichneten Bürgermeisterin Christine Strobl und Stadtschulrat Rainer Schweppe die drei Siegerschulen des Münchner Schulpreises in einer Zeremonie aus, die mit zu öffnenden Umschlägen, Laudatio, Dankesreden und Überreichung einer Plakette an eine „Oscar“-Verleihung erinnerte. Rainer Schweppe erklärte noch einmal, warum der Schulpreis in erster Linie ins Leben gerufen worden war: „Wir wollen die Leistungen der Schulen wertschätzen und für andere Schulen sichtbar machen. Ich hoffe auch auf die Beispielhaftigkeit für andere Münchner Schulen und Schulen aus der Region.“

Rainer Schweppe, Bürgermeisterin Christine Strobl und die Preisträger auf der Bühne
Bürgermeisterin Christine Strobl (r.) überreicht den Münchner Schulpreis an die Grundschule Berg am Laim © Tamas Magyar / Münchner Serviceagentur für Ganztagsbildung

16 Schulen hatten sich für den Preis beworben. Die 15-köpfige Jury, der Vertreterinnen und Vertreter des Münchner Stadtrats sowie Expertinnen und Experten aus Bildung und Wissenschaft angehörten, nominierten nach Durchsicht der Bewerbungsunterlagen sieben Schulen. Sie orientierten sich dabei an sieben definierten Qualitätsbereichen. Die Jury besuchte ab September die 16 Schulen für jeweils einen Tag, um sich auch vor Ort ein Bild zu machen. Schließlich wählten die Mitglieder drei Schulen für die Hauptpreise, 10.000 und 8.000 Euro aus.

Der Hauptpreis mit einem Preisgeld von in Höhe von 12.000 Euro ging an die Grundschule Berg am Laim, eine der wenigen Grundschulen in München, die Unterricht in gebundenen Ganztagsklassen eingerichtet haben. Seit 2009 setzt die Schule auf rhythmisierten Ganztagsunterricht und pflegt in verschiedenen Kooperationen zusätzliche Betreuungsformen beispielsweise in Tagesheim, Hort und Mittagsbetreuung. 530 von 564 Kindern werden hier ganztägig betreut. Seit dem Schuljahr 2013/14 bietet die Schule in allen Jahrgangsstufen gebundenen Ganztagsunterricht an.

Bürgermeisterin Strobl lobte in ihrer Laudatio die hervorragende Qualität des Unterrichts und die individuelle Förderung sowie die Bildungspartnerschaft mit den Eltern. „Eine wertschätzende, vertrauensvolle Beziehungskultur zwischen Kindern, Lehrkräften, Hauspersonal und Schulleitung ermöglicht es, sich gemeinsame Ziele zu setzen und pädagogisch und methodisch einvernehmlich zu handeln“, führte die Bürgermeisterin aus.

Bewährtes Kongresskonzept

Zum bewährten Konzept der Kongressveranstalterin, der Münchner Serviceagentur für Ganztagsbildung gehören die Mischung aus wissenschaftlichen Vorträgen und praxisorientierten Workshops sowie „Bildungsreisen“ durch München am dritten Tag, um Best-Practice-Beispiele vor Ort zu besichtigen. In einer „Planungswerkstatt" entwickelten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer lokale Bildungslandschaften weiter. Im „Forum der Möglichkeiten" gab es „Lightning Talks": Hier wurden in kurzen Vorträgen gelingende Koproduktionen zwischen unterschiedlichen Bildungsakteurinnen und -akteuren gezeigt und zum Austausch und zur Diskussion eingeladen.

Der Themenschwerpunkt der Kongress-Ausstellung war in diesem Jahr die Bewegung: Vor Ort konnten die Teilnehmenden Geräte in Augenschein nehmen, mit denen sich das Konzept einer „Bewegten Schule“ besser verwirklichen lässt. So zum Beispiel die Bewegungskiste, eine Sammlung von Spiel- und Bewegungsgeräten mit hohem Aufforderungscharakter, oder das neuartige Kasten- und Stangensystem „Kju:b“, mit dem sich schnell vielfältige und spannende Parkour-Landschaften zum Klettern und Balancieren aufbauen lassen.

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