"Mehrwert Ganztagsschule: Vom Nebeneinander zum Miteinander“ : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Im oberfränkischen Forchheim fand der 4. Bayerische Ganztagsschulkongress statt. Prof. Sibylle Rahm von der Otto-Friedrich-Universität Bamberg stellte dort die Ergebnisse der Studie „Erwartungen an die Ganztagsschule“ vor.

Die Studie „Erwartungen an die Ganztagsschule“ wurden 2011 durchgeführt. An der Studie waren auch das Bamberger Zentrum für Lehrerbildung und FOrsprung e.V., der Träger- und Förderverein der Bildungsregion Forchheim, beteiligt. Die Erhebungen fanden in den drei bayerischen Landkreisen Bad Tölz-Wolfratshausen, Forchheim und Traunstein statt, die bereits 2009 an einer Befragung von Lehrkräften zum Thema „Arbeitsplatz Ganztagsschule“ beteiligt waren. Befragt wurden Familien, Lehrkräfte und Mitglieder der Schulverwaltung.

Online-Redaktion: Frau Prof. Rahm, was war Auslöser Ihrer Studie?

Sibylle Rahm: Wir sind 2006 auf die Aktivitäten in der Region Forchheim aufmerksam geworden, wo auf Initiative von Eltern, Lehrkräften und Schulverwaltung ein erweitertes Bildungsangebot unterbreitet und dafür das Halbtags- auf ein Ganztagsschulsystem umgestellt werden sollte. Uns interessierten die Anliegen und Erwartungen der verschiedenen beteiligten Gruppen bei diesem Prozess.

Online-Redaktion: Auf dem 4. Bayerischen Ganztagsschulkongress im März haben Sie die Ergebnisse präsentiert. Was ist Ihnen besonders wichtig?

Rahm: Wir haben sehr heterogene Bedürfnisse gefunden und auch große Bedenken gegen die Einführung der Ganztagsschule auf Seiten der Eltern, die es zu berücksichtigen gilt. Bei den Lehrerinnen und Lehrern gibt es unterschiedliche Meinungsbilder in Bezug auf die Organisationsform der Ganztagsschule: Während sich die Gesamtheit aller befragten Lehrkräfte mit etwas mehr als der Hälfte für die offene Ganztagsschule ausspricht, geben die im Ganztag selbst eingesetzten Lehrerinnen und Lehrer eher der gebundenen Ganztagsschule den Vorzug.

Befragt nach ihren Einschätzungen zu den Zielsetzungen der Ganztagsschule, geht es den Lehrerinnen und Lehrern primär um qualitative Aspekte im Bereich Betreuung, Fürsorge, Soziales auf der einen und im Hinblick auf Lehren und Lernen auf der anderen Seite. Aus den stark divergierenden Antworten ergibt sich die Frage, ob die Ganztagsschule in ihren Zielsetzungen bereits in der Lehrerschaft „angekommen“ ist oder ob nicht noch, was die Ergebnisse nahelegen, erheblicher Diskussions- und Informationsbedarf herrscht.

Online-Redaktion: Würden die Ergebnisse in Großstädten möglicherweise anders ausfallen?

Rahm: Das ist gut möglich, aber Spekulation. In den drei ländlichen Kreisen unserer Befragung herrscht auf jeden Fall auch Skepsis gegenüber der Ganztagsschule. Aber nicht nur das. Ein großes Problem sind die Informationsdefizite. Zum Beispiel haben die Lehrerinnen und Lehrer auf Fragen, ob es an der Schule ein Konzept für die Entwicklung der Ganztagsschule gibt, vielfach „Ich weiß nicht“ angekreuzt. Offenbar herrscht ein Mangel an Kommunikation, und man kann gar nicht davon ausgehen, dass alle Bescheid wissen und an einem Strang ziehen.

Hier geht es nicht um Lehrerschelte, sondern es ist einfach ein Fakt, dass viele Lehrkräfte nicht informiert und nicht ausreichend beteiligt sind. Das ist ein interessanter Befund, der auch die Schulleitungen und die Bildungsverwaltung interessieren dürfte. Um eine Verbesserung der Entwicklung hin zum Ganztag zu erreichen, muss schlichtweg mehr miteinander kommuniziert werden.

Online-Redaktion: Wie sehen die Positionen der Eltern aus?

Rahm: Viele Eltern haben auf die Fragebögen Kommentare geschrieben, was eigentlich nicht vorgesehen war. Diese Kommentare haben wir qualitativ ausgewertet, und ich finde sie sehr interessant. Sie vermitteln einen Eindruck davon, wie der Bildungsort Familie den Bildungsort Schule einschätzt – nämlich unter Umständen als etwas sehr Bedrohliches. Wir konnten lesen: „Ich habe nicht Kinder bekommen, damit sie mir weggenommen werden.“ Das zeugt von einer Misstrauenskultur, mit der wir uns auseinandersetzen müssen.

Online-Redaktion: In Ihrer Studie kommen Sie zu dem Ergebnis, Eltern hätten ein „überhöhtes Familienbild“. Was ist damit gemeint?

Rahm: Wir müssen die gesellschaftlichen Veränderungen zur Kenntnis nehmen: Es gibt häufig eine Berufstätigkeit beider Elternteile, wodurch ein Betreuungsbedarf entsteht. Ich meine damit das Bild, welches manche Eltern von der Familie zeichnen – als einer Gemeinschaft, in der alle zusammen sind und in der die Kinder behütet aufwachsen. Das entspricht aber nicht mehr der Regel. In unserer Studie haben wir herausgearbeitet, dass die Mütter und Väter versuchen, ihre Identität als Eltern zu definieren. Dabei greifen sie auch auf überkommene Vorstellungen von Familie zurück.

Ein Kommentar lautete beispielsweise: „Als Eltern hat man eine Verantwortung gegenüber seinen Kindern.“ Hier wird deutlich, dass sie für sich eine Normativität beanspruchen, indem sie ausführen, dass sie es sind, die die Kinder erziehen und nicht wollen, dass es ihnen eine andere Institution abnimmt. Auch die Formulierung vom „Abschieben der Kinder“ kam häufig vor. Das evoziert das Bild der Familie als „Nest“, aus dem die Kinder geworfen werden.

Online-Redaktion: Wenn diese Eltern gegen ein „Abschieben“ in die staatlichen Einrichtungen wie Ganztagsschulen sind, haben sie dann auch Alternativvorschläge, was sie sich zur Verbesserung in Sachen Betreuung und Erziehung wünschen?

Rahm: Sie wünschen sich eine Stärkung der Mütter und Väter in ihrer Erziehungsverantwortung, zum Beispiel, indem man Vorträge zum Thema Erziehung hält. Als Schultheoretikerin finde ich alle diese Kommentare, welche die Eltern unaufgefordert auf unsere Fragebögen geschrieben haben, sehr interessant, weil das ja auch auf etwas Tiefergehendes verweist. Schule und Familie verbindet historisch sowieso ein gewisses Spannungsverhältnis, gerade in ländlichen Regionen Bayerns, in denen die Kinder früher auf den Bauernhöfen mitgearbeitet haben und nur in der Winterzeit in die Schule gingen. Die Schule wurde hier als Eingriff in die familiäre Normalität wahrgenommen. Je größer die Distanz zwischen Familie und Schule, desto größer sind Misstrauen, Ablehnung, Angst und Befürchtungen. Diese historischen Erfahrungsspuren schwingen noch heute in solchen Einstellungen der Eltern, in dieser Frontstellung zur Schule mit.

Umgekehrt zeigt ein Blick in die Historie, dass Versuchsschulen Anfang des 20. Jahrhunderts, die ja auch Ganztagsschulen waren, unter maßgeblicher Beteiligung von Eltern entwickelt worden sind. Eltern arbeiteten sehr präsent in den Schulen mit. Dort gab es diese Frontstellung nicht, sondern es wurde die Idee der kooperativen Schulentwicklung gelebt. Von diesen Reforminitiativen können wir lernen, hier besteht derzeit noch Nachholbedarf.

Online-Redaktion: Lässt sich das durch mehr Information, durch bessere Kommunikation über die Arbeit in der Schule und die Möglichkeiten der Ganztagsschule erreichen?

Rahm: Auf jeden Fall! Ich denke, dass es äußerst wichtig ist, miteinander zu sprechen. Die internationale Schulentwicklungsforschung weist auch in diese Richtung. Die neuere amerikanische Literatur spricht zum Beispiel von „Bildungsbewegungen“: Bildung wird hier nicht mehr als Angebot von einer Seite an die andere definiert, sondern als gemeinsames Handeln mit den Eltern. Hier ist Schule ein Projekt, an dem alle beteiligt werden. Den Ansatz, viel miteinander zu sprechen und Ideen gemeinsam umzusetzen, finde ich sehr wichtig. In der amerikanischen Fachliteratur ist in diesem Zusammenhang zunehmend auch von „Vertrauen“ die Rede. In der Schulentwicklung gibt es eine Tendenz zur programmatischen Vorgabe bestimmter Entwicklungsschritte: Es müssen erst der Schritt, dann jener Schritt zu diesem und jenem Zeitpunkt gemacht werden. Nun entsteht aber auch das Bewusstsein, dass es dazu eben des Vertrauens, des Miteinanders bedarf, um Schule weiterzuentwickeln.

Dazu müssen die Zielvorstellungen transparent gemacht werden, die Lehrkräfte stärker an der Planung beteiligt werden. Die Bildungsverwaltung muss sich stärker als kooperativer und beratender Partner, nicht als anordnende Behörde verstehen. Und natürlich müssen die Eltern und nicht zuletzt die Schülerinnen und Schüler mehr eingebunden werden. Letztere werden leider bei der Planung von Bildungsinitiativen fast überhaupt nicht beteiligt.

Online-Redaktion: Wo sollte man denn jetzt als erstes ansetzen, um die Erkenntnisse Ihrer Studie konstruktiv für Weiterentwicklung und Akzeptanz der Ganztagsschule zu nutzen?

Rahm: Der Ganztagsschulkongress in Forchheim ist bereits eine gute Möglichkeit gewesen, diese Erkenntnisse überhaupt erst einmal zur Kenntnis zu bringen. Es waren viele Angehörige der Bildungsverwaltung und viele Lehrkräfte dort, auch Kolleginnen und Kollegen aus der Erziehungswissenschaft. Auf der Ebene kamen wir gut ins Gespräch und konnten uns austauschen.

Online-Redaktion: Was kann daraus folgen?

Rahm: Wenn wir uns die verschiedenen Statusgruppen anschauen, gibt es zur Bildungsverwaltung zu sagen, dass dort eine enge Kooperation mit den Ganztagsschulen sehr wichtig wäre. Die Verwaltung spielt eine sehr große Rolle und sollte hier Einfluss nehmen. Es könnten beispielsweise Fortbildungen unterstützt oder externe Moderatorinnen und Moderatoren in die Schulen vermittelt, die Schulen also in ihren Entwicklungsprozessen begleitet werden. Dabei sind auch die Schulleitungen aufgefordert, mit den Lehrerinnen und Lehrern gemeinsam die Schule weiterzuentwickeln. Nicht einfach den Ganztag von oben nach unten weiterzureichen oder anzuordnen, sondern mit einer Qualitätsentwicklungsgruppe oder eine Steuergruppe zu planen.

Aber den größten Akzent würde ich bei den Eltern und der Schülerschaft setzen. Wie bringt man die völlig heterogenen Elterngruppen in die Schule und kommt mit ihnen ins Gespräch? Das setzt die Öffnung der Schule zum Umfeld voraus. Die Schule muss sich gesprächsbereit zeigen, auch über Erziehungsfragen. Sie muss Möglichkeiten für Austausch, Diskussionen und auch Informationsvermittlung schaffen. Die Schülerinnen und Schülern sollten mehr Mitspracherechte bei der Entwicklung der Ganztagsschule erhalten. In Gruppendiskussionen haben wir selbst bei jüngeren Schülerinnen und Schülern ganz viele Ideen und Wünsche erfahren, die oft vollkommen unberücksichtigt bleiben.

Prof. Dr. Sibylle Rahm

Studium der Fächer Germanistik, Romanistik, Erziehungswissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; 1979 2. Staatsexamen für das Lehramt Gymnasium, 1979-1993 im bremischen Schuldienst, Promotion und Habilitation an der Universität Bremen; seit 2002 Professorin für Schulpädagogik an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg; seit 2005 Mitherausgeberin des Journals für LehrerInnenbildung und seit 2007 Leiterin des Bamberger Zentrums für Lehrerbildung.

 

 

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