Kann der Ganztag alles? : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

„Ganztag kann alles.“ Der Feststellung fügte der Ganztagsschulverband Hessen im Titel seiner Fachtagung am 15. März 2017 in Wiesbaden nur noch die Frage „Wie kann das gelingen?“ an.

„Ganztag kann alles.“ Guido Seelmann-Eggebert, langjähriger Vorsitzender des Ganztagsschulverbandes Hessen, räumt gleich bei seiner Begrüßung ein, dass er das Motto der diesjährigen Fachtagung als „eine provokante These“ versteht. Die aber auch einer weitverbreiteten Vorstellung entspricht: Viele und umfassende Wünsche werden von vielen Seiten an die Ganztagsschule gerichtet, um nicht zu sagen: auf sie projiziert.

Plenum
Aula der Hermann-Ehlers-Schule © Redaktion www.ganztagsschulen.org

An diesem Morgen bewegt das Thema Ganztagsschule denn auch 260 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus ganz Hessen und aus allen Schulformen, nach Wiesbaden in die Hermann-Ehlers-Schule zu kommen. Vielen Interessierten mussten Absagen erteilt werden; die Aula ist übervoll. Mit dabei sind der hessische Kultusminister Prof. Alexander Lorz, der als erster Minister eine Tagung des Verbandes besucht, und auch Landtagsfraktionen sowie der Landeselternrat.

Nach Grußworten, einem Fachvortrag von Prof. Natalie Fischer zur Frage „Was ist eine gute Ganztagsschule?“, rund 20 Workshops und einer Podiumsdiskussion zum „Pakt für den Nachmittag“ öffneten am Nachmittag zudem Wiesbadener Schulen ihre Türen für die Besucherinnen und Besucher: neben der Herrmann-Ehlers-Schule das Gymnasium Mosbacher Berg und die Blücherschule.

Veränderungen brauchen Zeit

„Ganztagsschule kann vielleicht alles – aber nicht alles auf einmal und nicht alleine“, nahm Kultusminister Prof. Alexander Lorz das Tagungsthema sofort auf. Er bat darum, dem in der Öffentlichkeit verbreiteten Eindruck entgegenzutreten, „dass mit Einführung einer Ganztagsschule wie mit einem Federstrich alle Probleme gelöst werden.“ Auch zu der „Mission“ des Ganztagsschulverbandes, auf die flächendeckende Einführung gebundener Ganztagsschulen zu drängen, positionierte sich Lorz klar.

Das Land hat bisher allen Anträgen von Schulen auf Einführung des gebundenen Ganztags entsprochen und werde das auch weiter tun. Jedoch: „Es braucht seine Zeit, bis sich Veränderungen durchsetzen. Ich halte nichts davon, von oben etwas zu oktroyieren. Der Ganztagsschulidee würde es nicht guttun, wenn wir sie mit der Brechstange einführen, gegen den Willen von Eltern und Schulen. Wir setzen auf die Freiwilligkeit – bei den Schulen, bei den Schulträgern und bei den Eltern.“

Ein vielversprechender Weg, Erfahrungen zu sammeln und die Akzeptanz der Ganztagsschule zu erhöhen, seien teilgebundene Modelle, wie sie zum Beispiel die Blücherschule eingeführt habe. Auch der „Pakt für den Nachmittag“, das Landesprogramm, in dem Land und Schulträger gemeinsam Verantwortung für die Ganztagsangebote übernehmen und an dem inzwischen 16 Schulträger mit 122 Schulen beteiligt sind, ermögliche über das additive Modell hinaus die schrittweise Einführung eines gebundenen oder teilgebundenen Ganztags.

Schloss-Schule Gräfenhausen: Ganztagsschule verändert Mentalitäten

Die Dynamik des Ausbaus machte Stadträtin Rose-Lore Scholz für die Stadt Wiesbaden deutlich: „Vor zehn Jahren gab es einige wenige Betreuungsplätze an Grundschulen, die durch Eltern und Fördervereine ermöglicht wurden. Aktuell sind es 3.700 durch das Schulamt zur Verfügung gestellte Ganztagsschulplätze, was einer Quote von 60 Prozent entspricht. Die Quote soll auf 75 Prozent steigen.“ Für das Dezernat für Schule, Kultur und Integration ist die Ganztagsschule ein „Türöffner für Bildung“. Inzwischen gebe es an sämtlichen 36 Grundschulen der Landeshauptstadt Ganztagsangebote.

Dass sich in Hessen beim Ganztagsschulausbau eine Menge bewegt und Instrumente wie der „Pakt für den Nachmittag“ ein Schritt in die richtige Richtung gewesen sind, bestätigte zum Beispiel Gerhard Kraft, der Schulleiter der Schloss-Schule Gräfenhausen, einer rhythmisierten Ganztagsgrundschule im Landkreis Darmstadt-Dieburg, an der im sogenannten „Weiterstädter Modell“ dank des finanziellen Engagements der Stadt Weiterstadt alle Schülerinnen und Schüler bis 14.30 Uhr lernen können. In der Podiumsdiskussion berichtete Kraft von seinen Beobachtungen: „Der Pakt hilft, auch die Mentalitäten von Grundschullehrkräften zu verändern, die sich bisher nicht für den Nachmittag zuständig sahen.“

Lernzeiten für Chancengleichheit

Dies scheint auch parteiübergreifender Konsens in der Politik zu sein. Der Fraktionsvorsitzende und bildungspolitische Sprecher der GRÜNEN im hessischen Landtag, Mathias Wagner, sieht einen erfolgversprechenden Weg, weiter Ganztagsschulen auszubauen, darin, durch gute Beispiele die Eltern zu überzeugen und an konkreten Beispielen zu zeigen, dass „in einer Ganztagsschule der Unterricht nicht den ganzen Tag dauert, wie man noch immer zu hören bekommt“.

Christina Gloyr und Corinna Reinhard
Christina Gloyr und Corinna Reinhard stellen die Blücherschule vor © Redaktion www.ganztagsschulen.org

Für den bildungspolitischen Sprecher der SPD-Fraktion, Christoph Degen, wird die Akzeptanz dadurch erhöht, dass „bei einer Ganztagsschule der Schulschluss auch wirklich Feierabend für die Kinder bedeutet“. Aufgaben müssten in der Schule erledigt werden, nicht weiter als Hausaufgaben oder Nachhilfe nach Hause verlagert werden. Schulleiter Kraft unterstützte dies: „Gerade die Lernzeiten können helfen, das Ziel der Chancengleichheit anzusteuern.“

Prof. Natalie Fischer von der Universität Kassel, die in einem Vortrag Erkenntnisse der bundesweiten „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen – StEG“ vorstellte, führte in der Diskussion als Beispiel, wie Ganztagsschulen Kinder und Jugendliche besser fördern könnten, Programme wie „Schülern helfen Schülern“ an. Reiner Pilz von Landeselternbeirat und Tibor Handke vom „Aktionsbündnis Schulkindbetreuung“ sahen vor allem bei der räumlichen Situation der Schulen Handlungsbedarf. „Gerade bei den Räumen müssen in der täglichen Arbeit Kompromisse gemacht werden, die zu denken geben“, so Handke. Aus dem Plenum wurde die Einrichtung von Lehrerarbeitsplätzen als ein Schwerpunkt genannt.

Blücherschule: Entschleunigter Tagesablauf

Trotz gelungener Umbaumaßnahmen gibt es an der Blücherschule in Wiesbaden, einer Europaschule und Musikalischen Grundschule, ebenfalls Raumprobleme, wovon sich am Nachmittag eine Besuchergruppe vor Ort überzeugen konnte. Aus diesem Grund werden auch alle Flure, Ecken und Nischen in dem schönen Bau von 1897 genutzt. Die Blücherschule ist seit 2009 offene Ganztagsschule und hat vor zwei Jahren den Weg zur teilgebundenen Ganztagsschule eingeschlagen.

Nachdem im Schuljahr 2015/2016 zunächst vier von sechs Klassen als Ganztagsklassen arbeiteten, sind es im aktuellen Schuljahr vier von fünf Ganztagsklassen. Und im kommenden Schuljahr werden auf Grund der Nachfrage ausschließlich Ganztagsklassen gebildet werden. „Alle Eltern haben gesehen, wie gut der gebundene Ganztag funktioniert, und sich für dieses Modell entschieden. Nur vier Eltern wollten noch die Halbtagsklasse. Zwei Kinder wurden dann tatsächlich an der Nachbarschule angemeldet“, berichtete Schulleiterin Monika Frickhofen.

Der Schultag dauert in der Blücherschule für alle Kinder an drei Tagen der Woche verbindlich von 8 bis 16 Uhr, an zwei Tagen bis 14 Uhr. Zusätzliche Angebote gibt es montags bis donnerstags bis 17 Uhr und freitags bis 16 Uhr. Die Schule hat den Tag in Blöcken organisiert, wobei ein Unterrichtsblock auch am Nachmittag liegt, während es am Vormittag auch längere Erholungs- und Spielphasen gibt. „Mit Arbeitsgemeinschaften haben wir Freizeitangebote wie Sport, Musik und Kunst in die Schule geholt“, so die Rektorin.

Schülerinnen und Schüler der Design-AG
© Blücherschule – Europaschule und Ganztagsgrundschule in Wiesbaden

„Nach dem Mittagessen, das bei uns frisch gekocht wird, der anschließenden ‚Kinderzeit’, in der die Schülerinnen und Schüler spielen, sich ausruhen und entspannen können, sowie der Lernzeit mit der Wochenplanarbeit sind die Kinder noch fit“, erläuterte Lehrerin Christina Gloyr. Dieser entschleunigte Tagesablauf kommt nicht nur den Schülerinnen und Schülern, sondern auch den Lehrerinnen und Lehrern zugute. Hausaufgaben gibt es nicht mehr, und auch „wir arbeiten so gut wie nicht mehr zuhause“, so Christina Gloyr.

Soziales Lernen und Lernentwicklungsgespräche

Für den Ganztag sind die Lernumgebungen verändert worden. In den Klassenräumen ist auch Platz zum Lesen, Hinlegen, Basteln und Bauen. Zwei Klassen teilen sich jeweils einen Differenzierungsraum. Zur Differenzierung können aber auch die Flure als Räume mitgenutzt werden. Rollbare Tische ermöglichen ein schnelles und flexibles Umbauen für neue Lernsituationen.

Als wertvoll hätten sich drei Entscheidungen erwiesen: Die Schule hat „Soziales Lernen“ als eigene Lernform, in der Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen mit den Kindern arbeiten, eingeführt. Anstelle von Zwischenzeugnissen gibt es halbjährliche Lerngespräche mit den Schülerinnen und Schülern in Anwesenheit der Eltern, in denen sich die Kinder selbst einschätzen und in denen jeweils gemeinsame Lernzielvereinbarungen getroffen werden. Die dritte Veränderung ist eine viertelstündige informelle Dienstbesprechung zu Beginn jedes Tages, „auf der kurz und knapp Informationen weitergegeben und ausgetauscht werden können“, so Monika Frickhofen. „Das spart letztlich sogar Zeit bei unseren Konferenzen.“

Mit einem Rundgang durch das Schulgebäude endet die Fachtagung. Was der Ganztag alles kann, sei dahingestellt. Aber die Blücherschule zeigt, wie er hilft, einen Rahmen zu schaffen, „innerhalb dessen die Schülerinnen und Schüler sich bestmöglich entfalten können“, wie es sich die Ganztagsgrundschule und alle Anwesenden von ihrer Arbeit erhoffen.

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