Herbstakademie "ganz!individuell": Ganztagsschule inklusiv : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Die 9. Herbstakademie der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ NRW am 21. und 22. Oktober in Neuss stellte unter dem Motto „ganz! individuell“ die inklusive Schulentwicklung in den Fokus.

„Die Menge und Ungleichheit der Kinder erleichterten meinen Gang.“ Den Satz aus dem Stanser Brief (1799) von Johann Heinrich Pestalozzi, müsse man „sich auf der Zunge zergehen lassen“, so der emeritierte Erziehungswissenschaftler der Universität Hamburg Prof. Hans Wocken, Mitglied des Expertenkreises „Inklusive Bildung“ der Deutschen UNESCO-Kommission am zweiten Tag der Herbstakademie. Pestalozzi hatte, nahezu auf sich allein gestellt, 1798 80 Kinder in einer Armenanstalt im schweizerischen Stans betreut, erzogen und unterrichtet. „Und da fragte keiner nach Klassengrößen, Ressourcen und Personalschlüssel“, so Wocken.

Unter der Überschrift „ganz!individuell“ widmete sich die diesjährige Herbstakademie der Serviceagentur „Ganztägig lernen“, zu der 120 Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach Neuss gekommen waren, dem Thema Inklusion. In Impulsforen stellten Expertinnen und Experten auf dem Gebiet der inklusiven Ganztagsschule ihre Erfahrungen vor, die in Workshops weiter bearbeitet wurden. Alle wichtigen Aspekte waren vertreten: von den notwendigen personellen Ressourcen über „Teamentwicklung und Multiprofessionalität“, „Regeln und Kommunikation im inklusiven Ganztag“, die Partizipation von Kindern und Eltern bis zu inklusiven Raumkonzepten.

Paradigmenwechsel erforderlich

Mit Prof. Wocken hat Serviceagentur einen vehementen Fürsprecher der Inklusion gewonnen. „Bei Inklusion geht es nicht nur um Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen, sondern um alle Kinder. Es geht schlichtweg um Chancengleichheit.“ Nach 100 Jahren sei „der Traum der homogenen Jahrgangsklasse ausgeträumt“. Wocken sieht in der Heterogenität keinen Zustand, den das Schulsystem auszugleichen habe, sondern wie Pestalozzi eine Ressource: „Hier wird jede Schülerin und jeder Schüler als Individuum gesehen, als Bereicherung.“

Inklusion sei keine Ergänzung, sondern Alternative zum derzeitigen Schulsystem. Eine „Sonderschulpflicht“, also die Zuweisung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf zu einer Förderschule, sei jetzt verfassungswidrig. Jede Schule müsse nun alle Kinder aufnehmen. Die Abstimmung der Eltern mit den Füßen habe bereits begonnen: „In Bremen und Hamburg wählen rund 70 Prozent der Eltern von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der Sekundarstufe I allgemeinbildende Schulen.“

Wocken forderte: „Die Schule muss sich anpassen!“ Das Lernen voneinander, Partner- und Gruppenarbeit seien wichtige Elemente. Ein Paradigmenwechsel sei auch in der Leistungsfeststellung notwendig. „Wir haben Alternativen wie Portfolios und Lerntagebücher“, so der Erziehungswissenschaftler. Allerdings stoße man auch auf den Widerstand der Eltern, die in jeder Umfrage mehrheitlich Noten und Sitzenbleiben wünschen.

Die Inklusion sei unterfinanziert, warnte Hans Wocken, und werde so möglicherweise „gegen die Wand gefahren“: „Wir brauchen ein Zweilehrersystem. Daneben sind Fortbildungen zu den wichtigsten Maßnahmen wie Teamteaching notwendig.“ Ziel einer inklusiven Bildung müsse sein, dass 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf die Regelschule besuchen.

Schule muss sich den Schülerinnen und Schülern anpassen

Wie sieht es in der Praxis aus? Schulleiter Walter Hövel stellte unter dem Motto „Inklusive Schulentwicklung: Gelingensbedingungen und Entwicklungsschwerpunkte“ seine Grundschule Harmonie in Eitorf (Rhein-Sieg-Kreis) vor, die vor 20 Jahren mit dem Bezug eines neuen Gebäudes auch einen pädagogischen „Neustart“ hingelegt hatte. „Wir haben uns damals die Fragen gestellt, ob Schule so schwierig ist, weil sie in der Schule stattfindet, ob der Unterricht am Lernen hindert.“ Das Pädagogikverständnis, von dem das Kollegium sich leiten ließ, fasste Hövel so zusammen: „Wir haben immer alle Kinder aufgenommen, wenn wir in der Lage waren, das zu leisten. Wir wollen dahin, dass sich die Schule den Schülerinnen und Schülern anpasst, nicht umgekehrt.“

Die Maßnahmen waren einschneidend: Fachstunden, Noten und Schulbücher wurden abgeschafft, Wochenpläne gibt es auch keine. Stattdessen beginnt der Tag mit einem Morgenkreis, in dem jedes Kind mitteilt, was es sich vorgenommen hat, am Tag zu lernen, wie es das erreichen und mit wem es gegebenenfalls zusammenarbeiten will. „Am Anfang sind die Kinder schüchtern, aber schnell sprühen sie vor Ideen. Die Kinder wissen exakt, was sie lernen müssen, was die Mitschüler lernen und gelernt haben“, hat der Schulleiter beobachtet. Manchmal müsse man eingreifen und mit den Kindern ihren Lernplan besprechen. Aber alles in allem lernten die Schülerinnen und Schüler von selbst, ihren Tag zu gestalten.

Alle 14 Tage gibt es eine „Kinder-Universität“: Drei Tage lang halten die Schülerinnen und Schüler „Vorlesungen“ zu bestimmten Themen. Zu jedem Thema finde das Kind im Schulhaus Lektüre: „Wir haben 5.000 Bücher über unser Gebäude verteilt“, berichtete der Pädagoge. Es gibt weiterhin Hausaufgaben. „Wir haben Hausaufgaben nicht pauschal für Blödsinn erklärt, sondern fragen nach, wie zu Hause gelernt wird. Wir reden immer wieder mit den Kindern und ihren Eltern über das Üben daheim. Wir müssen allerdings manche Eltern auch bremsen und sie regelrecht bitten, dass sie ihre Kinder auch mal spielen lassen“, schilderte Hövel.

Idee zur Ganztagsschule durch englische Partnerschule

Ziel einer jeden Lerneinheit ist die Präsentation des Gelernten. Die Leistungsbeurteilung erfolgt durch Beurteilungsbögen und die Selbsteinschätzung der Schülerinnen und Schüler. Von den weiterführenden Schulen erhalte man die Rückmeldung, dass die Kinder der Grundschule Harmonie als selbstständig und wissbegierig wahrgenommen werden.

Seit dem Schuljahr 2007/2008 ist an der Grundschule die „Feste Langzeit in einer Gruppe“ (FLieG) als Form des Ganztags eingerichtet. In der „Langzeit“-Gruppe treffen sich Kinder aus einer oder zwei Klassen, die bis 15 Uhr oder 17 Uhr in der Schule bleiben. Die Schülerinnen und Schüler lernen am Vormittag und am Nachmittag gemeinsam mit der Klassenlehrerin oder dem Klassenlehrer. Zusätzlich ist eine Betreuerin mit in der Gruppe. Die Kinder haben die Möglichkeit, an ihren Projekten und Inhalten weiterzuarbeiten sowie Angebote – von Lehrkräften, Betreuerinnen und Eltern – auszuwählen.

Die Grundschule Harmonie ist auch „Europaschule in Nordrhein-Westfalen“. Den Anschub, Ganztagsschule zu werden, gab der Austausch mit der englischen Partnerschule. „Bei unseren Besuchen dort fiel uns auf, dass die englischen Kolleginnen und Kollegen um 16 Uhr weniger erschöpft waren als wir um 13 Uhr“, erinnerte sich Hövel. „Wir haben herausgefunden, dass dies mit der Tagesrhythmisierung zusammenhängt und damit, wie an der Schule gelernt wird. Auf einer Konferenz haben wir beschlossen, dass auch alle Lehrkräfte am Nachmittag dableiben – jeder für zwei Tage in der Woche.“

Jedes Kind wird gefragt

Die Kinder empfinden den Nachmittag als freier und leichter, was auch daran liege, dass andere Professionen die Angebote unterbreiten. „Die Kinder mögen das. Ich denke, dass die Schülerinnen und Schüler höchstens in der Hälfte der Zeit Lehrerinnen und Lehrern begegnen sollten. Dabei ist es bei uns auf dem platten Land ein Riesenproblem, außerschulische Kräfte für den Nachmittag zu finden“, erklärte der Schulleiter. „Wir haben das durch den Einsatz vieler Eltern lösen können.“

An der Grundschule lernen derzeit 140 Schülerinnen und Schüler. Über jedes einzelne Kind besprechen sich die Lehrkräfte und die außerschulischen Pädagogen. „Wobei bleibt das Kind gern, wo reagiert es mit der größten Ablehnung? Warum weicht es aus?“, nennt Walter Hövel beispielhafte Fragen, für die man Lösungen finden müsse. „Das ist der Weg zur Inklusion“, zeigte sich der Rektor überzeugt.

Ausblick: Frühjahrsakademie und Schulnetz Inklusion

Hans-Peter Bergmann vom Institut für soziale Arbeit (ISA) in Münster, an dem die Serviceagentur „Ganztägig lernen“ angesiedelt ist, gab zum Schluss einen Ausblick: „Wir wollen eine Frühjahrsakademie zum Thema Inklusion anbieten und ein Netz von Beispiel-Schulen zu diesem Thema aufbauen.“ Das nordrhein-westfälische Schulministerium und das Jugendministerium haben die Arbeit der Serviceagentur auch für die nächsten vier Jahre gesichert.

Kategorien: Service - Kurzmeldungen

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