Ganztagsschulverband: "Starke Kinder in der Ganztagsschule" : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

„Mehr als Unterricht – Starke Kinder in der Ganztagsschule“ – so das Motto, unter dem der Ganztagsschulverband seinen diesjährigen Bundeskongress ausrichtete.

Nach zwölf Jahren kehrte der Ganztagsschulverband vom 9. bis 11. November 2016 mit seinem Bundeskongress nach Essen in das Gymnasium Am Stoppenberg zurück – und machte laut Schulleiter Rüdiger Göbel der gebundenen Ganztagsschule damit ein Geschenk. „Wir feiern in diesem Jahr das 50-jährige Bestehen unserer Schule“, berichtete er zur Begrüßung der rund 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer in der Aula, „und wir freuen uns auf den Austausch mit Ihnen. Mein Kollegium schwärmt die nächsten drei Tage aus, um auch etwas für unseren Schulalltag zu lernen.“

Das Gymnasium Am Stoppenberg in Trägerschaft des Bistums Essen ist das älteste Ganztagsgymnasium Nordrhein-Westfalens und war so ein kongenialer Tagungsort für den Kongress, der in diesem Jahr unter dem Motto „Mehr als Unterricht – Starke Kinder in der Ganztagsschule“ stattfand. Die Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums zeigten beim Kongress denn auch Präsenz, halfen als Lotsen im weitläufigen Schulgebäude und unterstützten beim Abendessen in der Schulmensa. Zum Auftakt stimmte das Schulorchester das Plenum ein.

Nachhaltige Bildungsprozesse über einen ganzen Tag

In seinem Grußwort stellte Bernd Ottersbach, Dezernent beim Schulträger, fest: „Lange ist über den Widerspruch von Katholischer Kirche und Ganztagsschule diskutiert worden. Hier nicht. Wir sind und waren von Anfang an der festen Überzeugung, dass Bildungsprozesse über einen ganzen Tag nachhaltiger gestaltet werden können, und wandeln weitere Schulen zu Ganztagsschulen um. Die Schülerinnen und Schüler sollen hier eine Heimat finden, ihre Persönlichkeit entwickeln, Wissen erwerben und auch Freizeitangebote wahrnehmen.“

Kongress
© Ganztagsschulverband

Rolf Richter, der Vorsitzende des Ganztagsschulverbandes, erläuterte in seinem Grußwort das diesjährige Kongressmotto und sprach dazu die „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG)“ an, die gezeigt hat, dass die Ganztagsschule besonders der psychosozialen Förderung dient. Die Frage, ob und wie Ganztagsschulen auch die Schulleistungen fördern, betrachtete am zweiten Tag dann Prof. Heinz Günter Holtappels vom Institut für Schulentwicklungsforschung der Technischen Universität Dortmund. Der Erziehungswissenschaftler, Mitglied des StEG-Konsortiums, stellte Forschungsbefunde vor und diskutierte deren Konsequenzen für die Schulentwicklung.

„Für die offene Gesellschaft muss geworben werden“

Traditionell nimmt der Ganztagsschulkongress Bezug auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen. Die „Integration von Flüchtlingskindern – Herausforderungen und Chancen“ stand diesmal mit dem Eröffnungsvortrag im Vordergrund. Prof. Aladin El-Mafaalani von der Fachhochschule Münster, der als Politikwissenschaftler und Soziologe auch an der Ruhr-Universität Bochum geforscht hat, schlug einen weiten Bogen über die Historie und das aktuelle Weltgeschehen. Mit Blick auf die Rolle der Schule äußerte er sich deutlich: „Die Integration muss in den Schulen passieren. Keine andere Institution erreicht wie sie alle Heranwachsenden. Und wie man ohne Ganztagsschule die Integration von Flüchtlingen schaffen will, bleibt mir ein Rätsel.“

Themen wie Fremdenfeindlichkeit oder ein Rechtsruck in der Gesellschaft müssten in den Schulen diskutiert werden. Und der Diskurs könne nur dort gelingen: „Die offene Gesellschaft ist nicht selbstverständlich, es muss dafür geworben werden.“ Auch können dem Migrationsforscher zufolge frühe Förderung und Ganztagsschulen helfen, ein familiäres Dilemma aufzulösen: Gerade geflüchtete Eltern seien sehr am Bildungserfolg ihrer Kinder interessiert, denn vom gelingenden oder nicht gelingenden Aufstieg der Kinder hängt oft ab, wie sie ihre eigene Biografie bilanzieren. Zugleich wollen sie häufig, dass die Kinder so bleiben, wie sie sind. „In einer Ganztagsschule gibt es mehr Zeit, unterschiedliche Professionen und Möglichkeiten, mit den Kindern und Jugendlichen dieses Dilemma zu thematisieren“, so der Wissenschaftler.

Zur Sprachförderung meinte El-Mafaalani, dass für Schülerinnen und Schüler in der Primarstufe die sofortige Beschulung in einer Regelklasse am besten sei, auch wenn das „für die Lehrer nervig ist“. Bei älteren Schülerinnen und Schülern sei es genau umgekehrt; hier empfehle sich erst die Beschulung in Willkommensklassen. Unter anderem, weil sich Jugendliche eher schämen, etwas falsch zu machen, während jüngere Schülerinnen und Schüler viel unbefangener seien.

Plenum
© Ganztagsschulverband

Glücklich über die Gelegenheit zum Austausch

Der Kongress bot wie in jedem Jahr reichlich Gelegenheit zum Austausch. „Die Schulbesuche finde ich am besten“, verriet Susanne Emsing, Lehrerin an der Freien Ganztagsschule Milda in Thüringen. Am zweiten Tag gab es die Möglichkeit, in 16 Ganztagsschulen aller Schulformen in Essen und Umgebung zu hospitieren. Aber auch untereinander kamen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in rund 20 Workshops ins Gespräch, so zum Beispiel zu Themen wie „Qualitätsstandards für die Ganztagsschule“, das „Hessische Ganztagsschulmodell in der Bildungslandschaft Weiterstadt“, „Lernzielvereinbarungsgespräche“ und „Kooperation von Schule und Sportverein“.

Ein weiterer fester Programmpunkt des Ganztagsschulkongresses sind „Bundeslandbezogene Praktikergespräche“. Für das Land Thüringen wurde Susanne Emsing selbst zur Gastgeberin. Die Vorsitzende des Ganztagsschulverbandes Thüringen tauschte sich mit Lehrkräften und Schulleitungen aus und berichtete von ihrer eigenen Schule. „Ich bin glücklich, dass der Gesprächskreis für Thüringen zustande gekommen ist“, so die Lehrerin, „denn ich finde es bereichernd, wenn man sich austauscht.“ Seit 2011 besucht sie die Ganztagsschulkongresse und hat nach eigener Aussage immer Ideen und Anregungen für ihre Schule mitgenommen.

Lehrerinnen und Lehrer im Gespräch
© Britta Hüning

„Als Freie Schule sind wir in der glücklichen Lage, Spielräume ausschöpfen zu können, aber wir sind keine Eliteschule. Zu uns kommen Schülerinnen und Schüler aus allen Bevölkerungsschichten“, erzählte die Lehrerin. Ihre Schule zeichne besonders die enge Zusammenarbeit im Kollegium aus. „Wir sind keine Einzelkämpfer. Jeden Freitagnachmittag halten wir Teamsitzungen ab und unterrichten uns in der 'Pädagogischen Tagesschau' gegenseitig über Tagungen, die wir besucht haben, und andere Entwicklungen.“

Schulleiter Carsten Krüger hat als Vorgänger von Susanne Emsing den Ganztagsschulverband Thüringen gegründet, um in Kontakt mit anderen Ganztagsschulen zu kommen und sich gegenseitig zu bereichern. „Wir kooperieren auch mit dem Bildungszentrum Jena und der Universität Jena. Wir sind Praktikumsschule und erhalten Hospitationsanfragen.“

„Arbeit vielleicht nicht leichter, aber befriedigender“

Nach viel Austausch referierte am dritten Tag Prof. Dieter Katzenbach von der Goethe-Universität Frankfurt am Main über den „Weg zu einer inklusiven Schule“. Der Professor für Inklusive Pädagogik und Didaktik, der auch an der Weiterentwicklung der Standards für die Lehrerbildung Bildungswissenschaften der KMK beteiligt war, sieht programmatische Übereinstimmungen von inklusiver und Ganztagsbildung: „Es gibt die gerechtigkeitstheoretische Fundierung mit dem Recht auf Teilhabe und Ausgleich von Bildungsbenachteiligung, die methodische Orientierung mit dem Prinzip der Individualisierung von Lehr- und Lernarrangements sowie die ganzheitliche Sicht auf Schülerinnen und Schüler.“

Ganztag und Inklusion müssten gemeinsam gedacht werden. „Inklusion ist ein äußerst spannungsreiches Geschäft, das durch die selektive Verfasstheit des Bildungssystems verschärft wird“, so Dieter Katzenbach. „Sie kann aber der Schulentwicklung einen gewaltigen Schub geben. Und die kollegiale Zusammenarbeit macht die Arbeit vielleicht nicht leichter, aber wahrscheinlich sehr viel befriedigender.“

Solche Erfahrungen haben schon viele Ganztagsschulen mit ihren multiprofessionellen Teams gemacht. Für das Etablieren solcher Teams bietet der Ganztagsschulverband ebenfalls Unterstützung an. Der Ganztagsschulkongress, das zeigte sich auch in diesem Jahr in Essen, ist ein hervorragender Ausgangspunkt, dazu erste Kontakte zu knüpfen.

Literaturtipp:

Soeben ist das „Jahrbuch Ganztagsschule 2017“ mit dem Schwerpunktthema „Junge Geflüchtete in der Ganztagsschule. Integration gestalten – Bildung fördern – Chancen eröffnen“ erschienen.

Weitere Themen sind u. a. „Professionenvielfalt an Ganztagsschulen“, die bauliche Gestaltung der Ganztagsschule, die „Bayerische Ganztagsschulentwicklung im Überblick“ oder „Ganztagsschule in den USA“.

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