Ganztagsschulkongress Hessen: (T)Räume für mehr : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Der Raum als dritter Pädagoge stand beim hessischen Ganztagsschulkongress im Mittelpunkt. Doch es ging um mehr als den Schulbau. Es ging um Freiräume im Kopf und den Mut, neue Wege zu gehen.

Kongressteilnehmende im Gespräch
Austausch am Buffet © Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Hessen

Wer Carla Viejo Casas in ihrem Hauptvortrag beim Landeskongress „Ganztagsschule – Raum für mehr!“ in Frankfurt am Main lauschte, kam nicht umhin, neidisch zu sein. Neidisch auf Schulen, die sich modernen Schulbau auf die Fahnen geschrieben haben und ihn mit dem in Kopenhagen ansässigen Rosan Bosch Studio realisiert haben. Dessen Motto lautet: „Wir entwerfen Räume für den Wandel“. Carla, die Architektin, zeichnete ein Bild von Schulen, die den unterschiedlichen Lernsituationen der Schülerinnen und Schülern gerecht werden. Weg vom alt bekannten Klassenzimmer, hin zu aufgelockerten, hellen Gebäuden und Räumen.

Zum Landeskongress hatten wieder die Serviceagentur „Ganztägig Lernen“ und das Hessische Kultusministerium eingeladen. Die Bedeutung des Raums als dritter Pädagoge stand im Mittelpunkt. Doch es ging um mehr als den Schulbau. Es ging um Freiräume im Kopf, den Mut, neue Wege zu gehen, um Raum für andere Haltungen. Rund 200 Gäste gingen am Abend inspiriert nach Hause.

Lernen in Mountain Top und Watering Hole

Sechs Schlüssel-Prinzipien liegen dem Konzept des Kopenhagener Architekturstudios zugrunde. Sie alle tragen der Überzeugung Rechnung, dass der Mensch allgemein und Kinder insbesondere von Natur aus gerne lernen. „Am besten in kreativer und die Fantasie anregender Umgebung. Denn Lernen ist inspirierend. Wir sind dafür geboren. Doch jeder lernt anders, benötigt andere Situationen“, betonte Architektin Carla.

An den von ihrem multiprofessionellen Team konzipierten Schulen existieren, je nach Notwendig- und Möglichkeiten vor Ort, sechs Typen von „Räumen“. So findet man den Mountain Top (Berggipfel) als Ort der „klassischen Einwegkommunikation“ ebenso wie die Cave (Höhle), die Kindern die Gelegenheit zur Konzentration und Ruhe bietet. Das Campfire (Lagerfeuer) dient der Gruppenarbeit. Es ist mit Möbeln ausgestattet, die individuell zugeordnet sind und nach Bedarf der Arbeit angepasst werden können.

Kongressteilnehmende während einer Lockerungsübung
Schon 20 Minuten Bewegung steigern die Hirntätigkeit deutlich © Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Hessen

An der Watering Hole (Wasserstelle) treffen sich die Schülerinnen und Schüler in zwangloser Atmosphäre zum informellen Austausch und Dialog. In den Hands-ON-Räumen (Kunsträume, Tonstudios, Labore) wird durch praktische Tätigkeit (Anfassen und Machen) gelernt. Und schließlich, aber bei weitem nicht unwichtigsten, wird an Movement-Räume (Bewegung) gedacht. Getreu der wissenschaftlichen Erkenntnis, dass die Gehirnaktivität deutlich steigt, wenn sich jemand 20 Minuten bewegt hat.

„Loslassen, Kindern vertrauen“

Carlas Botschaft: „Das funktioniert allerdings nur, wenn sich auch die Pädagogik und Organisation von Schule und Unterricht ändern. 45 Minuten abgeschlossen in einem Raum lernen, muss dann der Vergangenheit angehören.“ Die Bedenken eines Kongressteilnehmers, ob ein solch offenes Lernsetting mit der zeitweisen Auflösung der Klasse hin zu „freiem“ Lernen tatsächlich erfolgreich sein kann, konterte die Architektin: „Sie müssen auch mal loslassen, den Kindern etwas zutrauen und ihnen vertrauen. Sie wollen lernen. Es erfordert nur eine geistige Umstellung.“

Einigkeit herrschte unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern in der Skepsis, dass derartig veränderte Schulen hierzulande in aller Regel wohl ein schöner Traum bleiben werden. Cornelia Lehr, die im Hessischen Kultusministerium für den Ganztag zuständig ist, ermunterte dennoch: „Wir als Land können da wenig machen, weil das Sache des Schulträgers ist. Sprechen Sie mit ihrem Schulträger, ob Sie zum Beispiel Geld für Renovierungsmaßnahmen nicht auch für eine Umgestaltung der Räume nutzen können.“

Dass der von ihr vorgeschlagene Weg durchaus von Erfolg gekrönt sein kann, verdeutlichten im Workshop „Das Schulzentrum Gersfeld – Sich aufeinander zu bewegen“ die Schulleiter Marco Schumacher und Andreas Stengel. Sie leiten die Rhönschule Gersfeld und die benachbarte Anne-Frank-Förderschule. Gemeinsam mit der Leiterin der Otto-Lilienthal-Grundschule setzen sie sich seit 2010 dafür ein, aus den drei nebeneinanderliegenden, aber in keiner Form kooperierenden und Synergien nutzenden Schulen einen „Campus“ zu gestalten.

Mehr als eine Innensanierung

„Warum benötigt jede Schule einen Werkraum, der dann anschließend stundenlang leer steht“, fragten sie – und schafften es, auch dank der Unterstützung des Architekten Sascha Buurman, den Landkreis Fulda zu überzeugen: Die Schulen sollten nicht nur innen saniert, sondern neue Lernlandschaften nach pädagogischen Gesichtspunkten gebaut werden. Mit dem Umbau der Gesamtschule wurde begonnen. Heute existieren im Kreis angeordnete Klassenräume, deren Mitte (Cluster-)Raum für freies Lernen eröffnet.

Workshop mit Marco Schumacher und Andreas Stengel
Marco Schumacher und Andreas Stengel erläutern die Kooperation ihrer Schulen © Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Hessen

Die Schulen wachsen mehr und mehr zusammen. Gemeinsame pädagogische Tage und Fortbildungen werden Normalität. Der Austausch von Lehrerinnen und Lehrern hält ebenso Einzug wie die gemeinsame Nutzung von Mensa und Fachräumen. Marco Schumacher und Andreas Stengel strahlen: „Vorbei sind die Zeiten, in denen du schon Ärger bekamst, weil du der Nachbarschule etwas ausgeliehen hast. Heute nutzen wir die personellen und räumlichen Möglichkeiten viel optimaler.“ Noch besser wird es nach Einschätzung der beiden Referenten, wenn auch die beiden anderen Schulen „renoviert“ sind.

Freiräume nutzen

„Renoviert“ hat sich auch die Blücherschule Wiesbaden. Schulleiterin Monika Frickhofen ist überzeugt: „Es gibt nicht wirklich viele gesetzliche Vorgaben. Man muss die Möglichkeiten nutzen.“ Entsprechend hieß ihr Workshop: Freiräume nutzen. An ihrer gebundenen Ganztagsgrundschule (Profil 3) ersetzen „Unterrichtsblöcke“ die klassischen 45-Minuten-Stunden. Blöcke an Vor- und Nachmittagen werden für die Kooperation mit externen Partnern, etwa der Kunst- und Musikschule, dem BUND oder lokalen Künstlern geöffnet.

In dieser Zeit arbeiten die Externen mit den Lehrerinnen und Lehrern gemeinsam. „Das erfordert auch die Bereitschaft von Schule, auf Augenhöhe mit anderen Professionen zu agieren“, weiß die Schulleiterin. Ein Vorteil: Man kann sich noch viel intensiver jedem Kind widmen. Die Rhythmisierung macht es erforderlich, dass sich auch die Lehrkräfte 38 Stunden wöchentlich in der Schule aufhalten. Allerdings haben sie danach wirklich frei. Denn es wurden für sie Zeitblöcke geschaffen, in denen sie gemeinsam Unterricht vorbereiten, Arbeiten korrigieren, sich austauschen.

Auch die Kinder sind mit der Schule nach Unterrichtsende „fertig“ – Lernzeiten ersetzen Hausaufgaben. Und weil das Kollegium überzeugt ist, dass zum individuellen und kompetenzorientierten Unterricht nicht das Schema von Noten passt, ersetzen Gespräche mit Kinder und Eltern das Halbjahreszeugnis. Auch vom Jahreszeugnis sind Noten und Textbausteine verschwunden. Ein sehr differenzierter „Beurteilungsbogen“ wurde entwickelt. Er listet nahezu alle denkbaren Kompetenzen auf, die ein Kind erwerben kann. Monika Frickhofen ist sicher: „Wir schaffen so für Kinder wie uns viele neue Freiräume.“

Ganztagsbolzer – viel mehr als Fußball

Gemeinschaftsübung in der Mittagspause
Bewegung und Entspannung in der Mittagspause © Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Hessen

Neue Wege gehen die „Ganztagsbolzer“. Gemeinsam mit dem Amt für Schule und Bildung Kassel hat David Zabel ein Konzept entwickelt, dass den Schulbolzplatz als Lernfeld für soziale Kompetenzen nutzt. Es geht dabei nicht um Fußball im Sinne der Vereine, sondern darum, dass die Kinder selbst Regeln entwickeln, sie im anschließenden Spiel anwenden und schließlich in der Reflexionsphase das Erlebte Revue passieren lassen.

Einigermaßen gleichstarke Teams werden gegründet und spätestens, wenn eine Mannschaft klar führt, wird deren Zusammensetzung überprüft. „Von den Kindern selbst“, versichert Zabel und wünscht sich, dass sich besonders die Benachteiligten zu Wort melden. Liegen sie deutlich zurück, fordern sie Verstärkung. Zabel: „So schaffen wir Raum, soziale Gerechtigkeit zu lernen.“ Acht Schulen nutzen das Angebot bislang. Tendenz steigend.

Raum für Begegnung – die Basis für Toleranz

Im Workshop „ZwischenRäume!“, boten Dörthe Gerhardt (Richtsberg-Gesamtschule Marburg) und Kirstin Porsche (Büro für Kulturelle Bildung) die Möglichkeit, inspiriert durch den Vortrag am Morgen, selbst Hand anzulegen und – mittels eines blauen Bandes –  neue Räume im Raum zu gestalten. Diese luden zum Verweilen, zum Hineinschlüpfen, zum Hindurchtauchen und letztlich zur Reflexion neuer Sichtweisen ein. Ihr zweiter Workshop am Nachmittag „RaumForschung – ForschungsRaum“ bot Gelegenheit, alltäglich genutzte Räume spielerisch und künstlerisch zu beforschen. Durch das Experimentieren mit verschiedenen Materialien, in Bewegungen und im Dialog ließen sich neue Perspektiven auf die Wahrnehmung schulischer Räume gewinnen.

Raum für Begegnung wünscht sich Shérif W. Korodowou vom Impulsinstitut Marburg. „Interkulturelle Kompetenz in der pädagogischen Arbeit der Ganztagsschule“ war sein Workshop überschrieben. Er ist überzeugt, dass Menschen ihre Unterschiede zeigen und leben, wenn sie einen Begegnungsraum vorfinden, in dem sie sich wohl fühlen. Dies gelte gerade für Kinder.

„Das sollten Ganztagsschulen nutzen, um ein Klima von Geduld, Respekt und wertschätzendem Verhalten zu schaffen“, empfahl er. Er ist sicher: „Nicht Unterschiede zwischen Kulturen sind das Problem, sondern der Umgang mit ihnen. Gelingt der Umgang, bereichern uns die Unterschiede. Schulen bieten schon aufgrund der Schulpflicht eine perfekte Ausgangsposition zu einer toleranten Gesellschaft. Die sollten sie nutzen.“

 

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