Ganztagsschulkongress: Bilanz, Praxis und Perspektiven : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Der diesjährige Bundeskongress des Ganztagsschulverbandes GGT e. V. "Bilanz, Praxis und Perspektiven" fand im rheinischen Neuss statt. Vom 19. bis 21. November 2014 konnten sich die Teilnehmenden bei Vorträgen, Foren und Schulbesuchen auf den neuesten Stand der Ganztagsschulentwicklung bringen.

In Neuss ging es ganz schnell. Die linksrheinische Großstadt hatte 2003 die Pläne der Landesregierung, Kommunen freizustellen, ob sie ihre Grundschulen in offene Ganztagsschulen umwandeln „noch sehr verhalten“ aufgenommen, wie sich der Stellvertretende Bürgermeister Jörg Geerlings erinnert. „Das IZBB der Bundesregierung überzeugte dann aber auch die Zauderer.“ Und drei Jahre später waren alle Grundschulen der Stadt Ganztagsschulen.

„Inzwischen schreitet der Ausbau im Sekundarstufe I-Bereich voran, und mehr als 50 Prozent aller Schülerinnen und Schüler besuchen eine Ganztagsschule in unserer Stadt“, so der Bürgermeister zum Auftakt des diesjährigen Ganztagsschulkongresses. Neuss kann bei Ausbau und Schülerteilnahme auf gute Zahlen verweisen. Bundesweit wird derweil diskutiert, ob sich der Ausbau verlangsamt habe, warum die Teilnahme von Schülerinnen und Schülern mit im Bundesschnitt 32,3 Prozent so viel niedriger ist als der inzwischen erreichte Ausbaustand von über 50 Prozent Ganztagsschulen und ob nur gebundene Ganztagsschulen „wahre“ Ganztagsschulen seien.

© Bernd Steioff

„Bilanz, Praxis, Perspektiven“ wollten die rund 300 Teilnehmenden im Tagungshotel Commundo besprechen. „In Nordrhein-Westfalen sind 90 Prozent aller Grundschulen Offene Ganztagsschulen, und sämtliche neu gegründeten Sekundarschulen arbeiten ganztägig“, führte Sylvia Löhrmann, die nordrhein-westfälische Ministerin für Schule und Weiterbildung in ihrem Grußwort aus. „Bildung braucht Zeit und Raum, damit die Kinder ihre Persönlichkeiten entfalten können und um sozial gerechter zu sein. Die Ganztagsschule ist dabei nicht familienunfreundlich: Hier gibt es keinen Stress mit Hausaufgaben, was die Familien entlastet. Ganztagsschule ist auch mehr als nur aneinandergereihter Unterricht. Daher arbeiten die nordrhein-westfälischen Ganztagsschulen mit Kooperationsverträgen, um andere Angebote in die Schulen zu bringen.“

Vielfalt als Normalität im Klassenzimmer

Rolf Richter, der Vorsitzende des Ganztagsschulverbandes, verwies auf die Diskrepanz zwischen dem in Umfragen regelmäßig artikulierten Elternwunsch nach Ganztagsschulen von 70 Prozent und den Teilnahmezahlen der Schülerinnen und Schüler. Mit Bezug auf eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, die von einer „erlahmten Ausbaudynamik“ sprach, sagte er: „Der Verband sieht die Verlangsamung im Auslaufen des Ganztagsschulprogramms des Bundes begründet. Wir fordern daher ein neues Ausbausprogramm von Bund und Ländern.“ In den Schulen selbst mache sich in immer mehr Kollegien die Aussicht breit, dass „man sich dort mit der ganzen Breite der Gesellschaft auseinanderzusetzen hat“: „Ganztagslehrer müssen daher auch mehr können als Fachlehrer, und es müssen andere Professionen in die Schulen eingebunden werden. Die Kommunen und Länder müssen gesicherte Arbeitsverhältnisse für dieses außerschulische Personal organisieren.“

Podiumsdiskussion
Die Podiumsdiskussion im Hotel Commundo mit (v.l.n.r.) den Schülervertretern Dennis und Tom, Christiane Zangs, Rolf Richter, Andrea Spude, Heike Kahl und Moderatorin Cornelia Benninghoven © Ralf Augsburg

Dass „Vielfalt heute Normalität im Klassenzimmer ist“, konstatierte Dr. Jörg Dräger in seinem Hauptvortrag „Wie kommt die gute Ganztagsschule in die Fläche?“ Das Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung für den Bereich Bildung erklärte, dass demografischer Wandel, Migration, Inklusion und Elternwillen zu mehr Heterogenität in den Schulen führten, nicht zuletzt in immer mehr integrierten Schulformen. „Die Schulen haben gute Fortschritte gemacht, wie auch die Sprünge in den PISA-Studien zeigen. Sie werden der Vielfalt aber noch nicht gerecht. Insbesondere bleiben immer noch zu viele leistungsschwächere Schüler zurück.“

Die Ganztagsschule ist für den ehemaligen Wissenschaftssenator der Stadt Hamburg (2001-2008) einer von drei Lösungsansätzen, der Herausforderung zu begegnen: „Ganztagsschulen müssen ausgebaut werden. Guter Unterricht, eine kooperative Schulkultur, die soziale Unterstützung der Kinder und Jugendlichen und die Öffnung der Schule nach außen zeichnen diese guten Ganztagsschulen aus. Zweitens müssen wir die Inklusion als Motor für eine neue Lernkultur nutzen, die insgesamt mehr individuell fördert. Und drittens benötigen wir eine Aus- und Weiterbildungsoffensive für die Lehrkräfte, damit diese besser in die Lage versetzt werden, individuell zu fördern.“ Es brauche auch eine Verständigung über bundesweite Standards für Ganztagsschulen.

„Über Qualität reden, nicht über Öffnungszeiten“

Die anschließende Podiumsdiskussion drehte sich um Stand und Perspektiven aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Andrea Spude, stellvertretende Vorsitzende des Bundeselternrats, konnte für Bremen feststellen, dass dort zum Beispiel bereits verbindliche Standards existierten. In diesem Bundesland sei der Bedarf nach Ganztagsplätzen höher als das Angebot. „Die offene Ganztagsschule halte ich für einen guten Türöffner für gebundene Ganztagsschulen“, meinte Andrea Spude. „Die Eltern wollen erstmal reinschnuppern und sich nicht sofort festlegen.“

Den Elternwillen hielt Dr. Christiane Zangs, Beigeordnete für Schule und Kultur in Neuss und  Vorsitzende des Fachausschusses Schule und Bildung beim Städtetag NRW, für entscheidend beim Ausbau des Ganztags. Auch in Neuss wüssten die Eltern das flexible Angebot zu schätzen. Und es sei absehbar, dass sich die Ganztagsschule immer weiter durchsetze: „Wir haben hier in Neuss ein großes Neubaugebiet. Dort gibt es eine hohe Erwartungshaltung der Eltern an die Ganztagsschule.“ Für bedenklich hält Christiane Zangs die „Qualität nach Kassenlage“: Finanzkräftige Städte wie Neuss könnten ihre Ganztagsschulen besser ausstatten als andere Kommunen. „Der Städtetag findet es auch skandalös, wenn außerschulisches Personal nur mit 400 Euro-Jobs beschäftigt wird, und kontraproduktiv, dass es immer nur jährliche Zuweisungen des Landes gibt.“

© Bernd Steioff

Dr. Norbert Reichel, Leiter des Referats „Ganztagsangebote in der Schule“ im nordrhein-westfälischen Schulministerium, beschrieb die Situation in seinem Bundesland als „gut, auch wenn noch nicht alles Gold ist, was glänzt“. Der Bildungsbericht Ganztagsschule NRW habe in diesem Jahr beispielsweise gezeigt, dass die Beteiligung von Schülerinnen und Schülern „oft noch bei Null“ liege. Ganztagsschulen müssten aber die Schülerschaft und die Eltern „mitnehmen“, um ein adäquates Angebot machen zu können. Das Angebot sollte vor Ort selbst von der Schule entschieden werden. Grundsätzlich forderte Reichel: „Wir müssen aufhören, die offenen gegen die gebundenen Ganztagsschulen auszuspielen. Die Zivilgesellschaft muss über Qualität reden, nicht nur über Öffnungszeiten. Was wir brauchen, ist eine Mischung aus freiwilligen und verpflichtenden Angeboten im Ganztag.“

Dr. Heike Kahl, Geschäftsführerin der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, sah die Neuen Medien und die Ermöglichung der Teilhabe aller Kinder als „die größten Herausforderungen für die Schulen“. Kooperationsqualität gelinge nicht durch additive Angebote: „Hier gibt es noch eine Menge bei der Verzahnung zu tun.“

Kooperation braucht Gesprächszeiten und gemeinsamen Fortbildungen

In Nordrhein-Westfalen ist die Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe eine Voraussetzung für die Genehmigung von offenen Ganztagsschulen im Primarbereich. Auch der Ganztagsnachmittag wird überwiegend von außerschulischen Partnern gestaltet. In seinem Vortrag lotete Prof. Karsten Speck von der Universität Oldenburg aus, inwieweit die erforderliche „Multiprofessionelle Kooperation an Ganztagsschulen“ aus Sicht der Forschung verwirklicht ist und welche Faktoren ihr Gelingen befördern können.

Karsten Speck und Rolf Richter
Karsten Speck während seines Vortrags über Kooperation, zusammen mit Moderator Rolf Richter (r.), dem Vorsitzenden des Ganztagsschulverbandes © Ralf Augsburg

„Als einen Erfolg der Kooperation kann man die deutliche Öffnung der Schulen verbuchen“, so der Erziehungswissenschaftler. „In vielen Schulen funktionieren die Kooperationen durch das hohe Engagement der Beteiligten mit erstaunlich wenig Konflikten. Es gibt spannende Modelle, die eine breite Angebotspalette und einen anderen Blick auf die Schülerinnen und Schüler ermöglichen“, führte Speck weiter aus. „Allerdings fehlt es laut den Beteiligten an Gesprächszeiten und gemeinsamen Fortbildungen.“

Er berichtete von seinem früheren Forschungsprojekt "Professionelle Kooperation von unterschiedlichen Berufskulturen an Ganztagsschulen" (ProKoop), das von 2008 bis 2010 an Ganztagsschulen durchgeführt wurde: „Damals haben wir kaum richtige Kooperationen gefunden, bei denen Schule und außerschulische Partner gemeinsam Angebote konzipierten und durchführten.“ Damit Kooperationen gelängen, müssten die Partner ihre Ziele und Erwartungen gemeinsam klären, die Zusammenarbeit konzeptionell verankern und strukturell absichern. Das bedeute auch, sich immer gegenseitig zu informieren, zu beteiligen und zu unterstützen. „Nicht zuletzt ist es auch wichtig, die Erfolge der Partner anzuerkennen und die Aktivitäten auszuwerten und weiterzuentwickeln“, so der Wissenschaftler zum Abschluss des Kongresses.

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