„Ganztagsschulen haben höchste Wertschätzung verdient“ : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Michael Stage leitet die Serviceagentur „Ganztägig Lernen“ Sachsen-Anhalt. Im Interview erläutert er, was die Serviceagentur seit 15 Jahren für die Qualität der Ganztagsschulen leistet und welches Potenzial die Schülerbeteiligung hat.

Michael Stage
Michael Stage leitet seit 2018 die Serviceagentur © DKJS/Gunnar Marquardt

Online-Redaktion: Herr Stage, die Serviceagentur „Ganztägig Lernen“ Sachsen-Anhalt besteht nun 15 Jahre. Wie geht es dem Jubilar?

Michael Stage: Ich selbst bin seit einem Jahr in der Serviceagentur aktiv, und ich kann sagen: Es fühlt sich gut an. Ich glaube, die Serviceagentur, die sich im Laufe der Zeit thematisch und personell stark verändert hat, hat in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten eine Menge auf den Weg gebracht. Sie hat ihren Teil dazu beigetragen, dass inzwischen 111 öffentliche Schulen im Land einen Ganztag anbieten.

Viele haben den Ganztag zum Anlass genommen, Schule und Unterricht neu zu denken und ganzheitliche Entwicklungsprozesse wie Rhythmisierung, Schülerbeteiligung, eine moderne Lehr- und Lernkultur in Gang zu setzen. Sie tragen durch ihre Arbeit zu mehr Bildungsgerechtigkeit und zur besseren Vereinbarung von Familie und Beruf bei.

Schülerinnen und Schüler werden in Ganztagsschulen gut vorbereitet auf das, was die moderne Gesellschaft an Kompetenzen und Wissen benötigt. Die Kollegien und ihre Kooperationspartner haben wirklich höchste Anerkennung und Wertschätzung verdient. Daher sehe ich es auch als unsere Aufgabe, diese Leistung öffentlich sichtbar zu machen und zum „Abgucken“ zu motivieren.

Online-Redaktion: Kontakte knüpfen und Erfahrungen austauschen konnten die Schulen bei Tagungen und Kongressen. Doch von diesen haben Sie sich ein Stück weit verabschiedet. Warum?

Stage: Wir sind ein kleines Team, genau gesagt: zwei Vollzeitkräfte und eine studentische Assistenz. Unser Sachmittelbudget ist sehr überschaubar. Vor diesem Hintergrund haben wir uns gefragt, wie wir den Bedürfnissen und Wünschen der Schulen am besten gerecht werden können. Es geht, wie unser Name es schon sagt, um Service. Fachtagungen und Kongresse sind grundsätzlich eine schöne und richtige Sache, doch sie erfordern viele Ressourcen – personell wie finanziell.

Stage Team
Das Team: Mit Katrin Brennecke (l.) und Ulrike Krauße © DKJS/Gunnar Marquardt

Und sie bergen gleichzeitig ein Risiko: In Zeiten von Lehrermangel und Unterrichtsausfall können Schulen nur begrenzt Lehrkräfte freistellen, sodass oftmals nur eine Person eine Schule vertreten kann. Wir qualifizieren damit zwar einzelne Lehrkräfte, setzen aber keine schulischen Veränderungsprozesse in Gang. Wir können nie hundertprozentig sicher sein, wer von der Schule kommt, was die Motivation ist und was von dem neuen Wissen ins Kollegium getragen wird, wie dort die Akzeptanz und Bereitschaft ist und ob wir in der Schule dann tatsächlich eine Wirkung erzielen.

Online-Redaktion: Ihr neues Konzept lautet?

Stage: Wir beraten natürlich weiterhin zu den immer wiederkehrenden Themen wie Rhythmisierung, individuelle Förderung, außerschulische Partner und so weiter. Seit rund einem halben Jahr gehen wir aber noch viel stärker als früher in die Schulen, die es wünschen, und unterstützen schulische Entwicklungsprozesse. Unsere Aufgabe ist es dann, vor Ort nach einem klaren vorherigen Briefing Unterstützung zu bieten, wenn es darum geht, den Ist-Zustand festzustellen und Ziele für die künftige Entwicklung zu formulieren. Wir helfen, für eine solche Schule – wenn gewünscht – Netzwerke aufzubauen, vermitteln Kontakte zu anderen, die den Weg schon gegangen sind. Und oftmals ergeben sich im Gespräch auch neue Erkenntnisse, ein schärferes Bild von der Situation und vom Ziel, das die Schule erreichen möchte.

Online-Redaktion: Ist bei jeder Schule der gleiche Impuls angebracht?

Stage: Nein, denn die Entwicklung der Ganztagsschulen ist in den vielen Jahren natürlich höchst unterschiedlich ausgefallen. Das hängt vor allem an der Kontinuität der Schulleitung und des Kollegiums. Da gibt es Schulen, die sich enorm weiterentwickelt haben und ihre Unterstützung auch an anderen Stellen, wie etwa im Netzwerk „LiGa – Lernen im Ganztag“ suchen. Und dann gibt es auch solche, die in ihrer Entwicklung aus verschiedensten Gründen stehen geblieben sind. Bei manchen ist vielleicht schon das Leitbild veraltet. Sie wollen wir ermuntern, sich intensiv mit sich und damit auch mit der Zukunft des Ganztags zu beschäftigen. Oftmals ist das der Auftakt für einen grundsätzlichen Schul- und Teamentwicklungsprozess.

Online-Redaktion: Bundesweit bereitet der Lehrermangel Probleme. Stellt er für manche Ganztagsschulen eine Ursache für das von ihnen beschriebene Szenario des Stillstands dar?

Stage: Erst einmal freuen wir uns, dass seit diesem Jahr wieder neue Ganztagsschulen bewilligt werden. Zum anderen stellt der Lehrkräftemangel natürlich Schulen vor große Probleme, vor allem sich Zeit und Kraft zu nehmen, Veränderungen und neue Entwicklungen anzugehen. Die Priorität, die Unterrichtsversorgung zu gewährleisten, führt natürlich dazu, dass weniger Lehrerstunden für Ganztagsangebote zur Verfügung stehen.

Eigenverantwortlich Arbeiten
EVA – Eigenverantwortlich Arbeiten © DKJS/Anna Kolata

Gerade im ländlichen Bereich ist es wiederum schwierig, geeignete Kooperationspartner zu finden. Natürlich stellen externe Kooperationspartner eine große Bereicherung dar. Viele Schulen schaffen es, gemeinsam mit diesen ein vielfältiges, schülerorientiertes Ganztagsangebot bereithalten. Das ist nicht selbstverständlich und verdient Anerkennung.

Die bundesweite Tendenz, Ganztagsangebote vollständig an externe Kooperationspartner abzugeben, sehe ich dennoch mit Bedenken. Viele Schulen bestätigen uns, dass dadurch ein sehr positiver Beitrag zur Schüler-Lehrer-Beziehung auf Augenhöhe, wie sie Ganztagsangebote gerade ermöglichen, verloren geht. Lehrkräfte trifft man dann nur noch im Unterricht. Es besteht die Gefahr, dass der ursprüngliche Ganztagsgedanke, Unterricht und Angebote zu verknüpfen, verloren geht und aus einer Ganztagsschule sozusagen eine Schule mit nachmittäglichem Betreuungsangebot wird.

Online-Redaktion: Welche Zielrichtung haben die Wettbewerbe „siGn – stark im Ganztag“ und „Du bist stark im Ganztag“ in Sachsen-Anhalt?

Stage: „siGn“ war 2018 so etwas wie ein kleiner landesweiter „Schulpreis“. Die Schulen konnten sich öffentlich darstellen und fühlten sich durch die Auszeichnung wertgeschätzt. Ein Jahr später haben wir dann mit „Du bist stark im Ganztag“ insgesamt 38 Schülerinnen und Schüler ausgezeichnet, die sich um den Ganztag an ihrer Schule besonders verdient gemacht haben – etwa die Schülerin, die eine Schach-AG organisiert und leitet, weil sie selbst erfolgreich spielt. Das größte Potenzial für die Ideengebung und Umsetzung vielfältiger Ganztagsangebote liegt in den Schulen tatsächlich bei den Schülerinnen und Schülern.

Online-Redaktion: Schülerinnen und Schüler als neue Zielgruppe?

Stage: Partizipation in der Konfliktbearbeitung, wie sie zum Beispiel der Klassenrat oder die Streitschlichter-AG ermöglichen, oder die Beteiligung der Schülerinnen und Schüler bei der Pausenhof- oder Schulgebäudegestaltung schreiben viele Schulen schon länger groß auf ihre Fahnen. Ebenso sind eigenverantwortliche Lernformen immer stärker verbreitet. Da liegt es nahe, dass auch Ganztagsangebote mehr  in die Verantwortung der Schülerinnen und Schüler gegeben werden.

Wir möchten das besonders unterstützen. Wenn sich Schülerinnen und Schüler noch stärker beteiligen und sich engagieren können, liefert das zusätzliche und spannende Impulse für die Schul- und Ganztagsentwicklung. Es entsteht eine andere Kultur des Miteinanders. Daraus resultieren eine stärkere gegenseitige Wertschätzung der Akteure und mehr Identifikation mit der Schule.

Zuhörer
„Zukunft des Ganztags“: #digitalRaumAustausch © DKJS/Anna Kolata

Online-Redaktion: Blicken wir fünf Jahre voraus: Was werden die Medien 2025 über den Ganztag in Sachsen-Anhalt schreiben?

Stage: Wenn ich mir etwas wünschen darf, dann wäre das die Titelzeile „Bildungsminister begrüßt die 200. Ganztagsschule im Land“. Das wäre ein starkes Indiz dafür, dass sich Schulen trotz oder vielleicht gerade wegen der schwierigen Bedingungen um den Lehrkräftemangel auf den Weg gemacht haben und für sich ein neues Verständnis von Schule entwickelt haben. Denn die Schule des 21. Jahrhunderts ist viel mehr als nur Unterricht.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!
 

Zur Person:

Michael Stage, Jg. 1981, ist Programmleiter der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Sachsen-Anhalt in Magdeburg. Nach einer Ausbildung zum Bankkaufmann und Studium an der Otto-von-Guericke Universität in Magdeburg arbeitet er seit 2011 für die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung Sachsen-Anhalt, die Programmträgerin der Serviceagentur ist. Neben der Tätigkeit als Projektleiter für das landesweite Bildungscamp „Camp+ – Durchstarten zum Schulerfolg“ von 2012 bis 2014 war er viele Jahre für die Landesweite Koordinierungsstelle im Landes- und ESF-Programm „Schulerfolg sichern“ für die Fortbildung, Beratung und Prozessbegleitung von Schulen, Jugendhilfeträgern, regionalen Netzwerkstellen und Kommunalverwaltungen tätig. Nebenbei erwähnt: Mit 18 Jahren wurde er für die von ihm mitgegründete Jugendpartei „future!“, die sich für eine zukunftsfähige Kinder- und Jugendpolitik einsetzte, in den Magdeburger Stadtrat gewählt. Eine Wiederwahl erfolgte 2004. Von 2011 bis 2014 war er Mitglied im Vorstand der Bürgerstiftung Magdeburg.

C. Friedland, N. Krämer, F. Lau, N. Lösch, S. Ruge, M. Stage, Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (2018): Vor Ort verbinden und gestalten! Der Beitrag der regionalen Netzwerkstellen für Schulerfolg für die Bildungslandschaft in Sachsen-Anhalt. Magdeburg. (PDF, 1MB, nicht barrierefrei)

Die regionalen Serviceagenturen „Ganztägig lernen“ in den Ländern, die Austausch, Vernetzung und Fortbildung der Ganztagsschulen, unterstützen, wurden 2005/2006 im Rahmen des Programms „Ideen für mehr! Ganztägig lernen“ der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung gegründet. Alle Interviews finden Sie in der Rubrik „Ganztagsschule in den Ländern“.

Über die bildungspolitischen Ziele in den Ländern berichten die Kultusministerinnen und Kultusministern in Interviews: https://www.ganztagsschulen.org/de/2645.php. Aus den Kommunen kommen Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sowie Landrätinnen und Landräte zu Wort.

 

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