Ganztagsschule und verändertes Lernen : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Individuelles Lernen, Umgang mit Heterogenität, kollegiale Hospitation sowie die pädagogischen Beziehungen standen im Mittelpunkt der Landesfachtagung „Veränderte Kindheit, verändertes Lernen – veränderte Schule?“ am 13. September 2013 in Frankfurt.

Die Erwartungshaltung an Prof. Dr. Joachim Bauer, Oberarzt am Universitätsklinikum Freiburg, war groß. Passender hätte die Wahl des Hauptredners für die von der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Hessen veranstaltete Tagung nicht sein können. Hatte doch jüngst ein Artikel in einer renommierten deutschen Wochenzeitung die Rolle einiger „Neurobiologen“ in der Diskussion um das deutsche Schulsystem äußerst kritisch hinterfragt. Bauer mahnte in seinem inspirierenden, unterhaltsamen und anspruchsvollen Vortrag die eigene Zunft: „Wir können zwar etwas zur Weiterentwicklung von Schule beitragen, sicher aber nicht die Pädagogik neu erfinden.“ 

Bauers These: „Keine (Lern-)Motivation ohne Beziehung.“ Er verglich Pädagogen und Ärzte: Beide Professionen benötigten eine hohe Fachkompetenz, daneben aber eben auch Beziehungskompetenz. Lehrerinnen und Lehrern rief er zu: „Ohne die Beziehung bekommen sie den Wissenstransfer nicht hin. Dann fehlt sozusagen der Infusionsschlauch.“ Sprache und Körpersprache seien dabei so entscheidend wie das Vertrauen, das Pädagogen, aber auch Eltern den Kindern und Jugendlichen entgegenbringen. 

Zuschauerinnen und Zuschauer
© Heike Krüger, Servicaagentur "Ganztägig lernen" Hessen

Die Ganztagsschule bietet nach seiner Ansicht die Chance, vertrauensvolle und damit lernfördernde Beziehungen aufzubauen. Entscheidend sei der größere zeitliche Raum. Miteinander zu essen, mit Kindern ohne Erwartungs- und Leistungsdruck zu sprechen, sie sportlich und musisch zu fördern und zugleich in Kontakt mit der Natur kommen zu lassen – das alles steigere Motivation und mithin den Lern- und Leistungserfolg. Hinzu käme die Möglichkeit, die Schüler intensiver zu beachten, sie freundlich zu begleiten und ihnen zu zeigen, dass man sie akzeptiert. Bauer: „Wenn Kinder einen Beziehungsdialog angeboten bekommen, sind sie auch bereit, viel dafür zu tun.“ Umgekehrt gelte das aber auch. Wer als Lehrer oder Lehrerin Signale wie Müdigkeit oder Desinteresse aussende, werde Entsprechendes in der Klasse auslösen.

Chancen der Ganztagsschule nutzen

Die von ihm dargestellte Chance könne von Ganztagsschulen allerdings nur genutzt werden, „wenn sie den Wahnsinn der Halbtagsschule mit all der Hetze und dem Druck nicht auf den Ganztag ausdehnen“. Das bestätigt ein erfahrener Pädagoge: „Wir unterschätzen das nach wie vor und versuchen, die zusätzliche Zeit zu nutzen, noch mehr Wissen zu vermitteln. Das müssen wir schnell ändern.“

Selbstorganisiertes Lernen in der Freiherr-vom-Stein-Schule Rodgau

Um die konkrete Gestaltung der Ganztagsschule ging es in den sich anschließenden Workshops. Deren thematische Bandbreite reichte vom Umgang mit Hausaufgaben beziehungsweise individuellen Lernzeiten und Selbstorganisiertem Lernen über Mittagskonzepte, den Wechsel zwischen Spielen, Lernen, Toben und Chillen bis zur individuellen Förderung und kollegialer Hospitation. „Meine Kollegen und ich sind uns einig, dass es bei dieser Tagung gelungen ist, im Vortrag, aber auch in allen Workshops zu verdeutlichen, dass es in der Schule nicht nur um Lernen und Wissensvermehrung, sondern um Menschen geht“, gab eine Pädagogin zu Protokoll.

Beispiel Workshop „Individualisierung in der ganztägig arbeitenden Grundschule“. Angeboten wurde er von der Leiterin der Freiherr-vom-Stein-Schule Rodgau, Ursula Esser, und ihrem Vorgänger Wendelin Grimm. Sechs Jahre ist Grimm pensioniert. Trotzdem spricht er stets von „unserer“ Schule. Dort gestalten die Schülerinnen und Schüler ihre Lernprozesse selbst.

Frühzeitig geben Pädagoginnen und Pädagogen während der sechs- bis achtwöchigen Lerneinheiten zu einem Themenkomplex Rückmeldungen über den Leistungsstand. Hinweise zum Lernprozess, etwa wenn es um die Aufgabe geht, einen Text zu planen und zu verfassen, werden stichwortartig auf für alle einsehbaren Pläne festgehalten. Im Lernprozess suchen sich die Kinder ihren eigenen Lernpartner, sprechen gleichaltrige „Experten und Expertinnen“ an. Die Räumlichkeiten sind entsprechend konzipiert. Herz des Klassenraums ist ein großer runder Tisch. An ihm finden die Klassengespräche statt. Individuell gelernt wird an kleinen Gruppentischen. Die Kinder können und sollen sich bewegen. „Es gibt nicht die Sitzordnung. Sie wird jeweils der Lernsituation angepasst“, erläutert Grimm.

Seit den 1980er Jahren sammelte die Schule mit dem selbstständigen Lernen Erfahrungen. Und gewann die Eltern für diesen Weg. Unter anderem, weil mit den Müttern und Vätern die Jahreslernziele und die erstrebenswerten Kompetenzen detailliert besprochen wurden. Im Workshop wurde verdeutlicht, dass das einzelne Kind bei der Benotung im Mittelpunkt steht. Grimm: „Noten orientieren sich an den Anforderungen. Der Vergleich zwischen den Kindern entfällt.“

Besucherinnen vor einem Messestand
© Heike Krüger, Servicaagentur "Ganztägig lernen" Hessen

Will heißen: Theoretisch können alle Kinder die gleiche Note erhalten. Der Schule ist es wichtig, Lernprozesse so zu gestalten, dass kein Kind als Versager dasteht. Die flexible Eingangsphase, in der die Kinder je nach eigenem Fortschritt ein bis drei Jahre verweilen, erleichtert den Weg. Sitzenbleiben existiert seit Jahren nicht mehr, und das bei gestiegenem Leistungsniveau. Die Übergangsquote zum Gymnasium liegt seit Jahren über dem Landesdurchschnitt. „Und die Schüler halten sich dort“, ergänzt der Ex-Schulleiter.

Kompetent differenzieren

Mit Jürgen Fischer übernahm ebenfalls ein ehemaliger Schulleiter (Joseph-von-Eichendorff-Schule Kassel) den Workshop „Kompetent differenzieren“. Seine Botschaft: Individualisieren hat Grenzen. „Jeden Einzelnen immer und überall zu erreichen, geht nicht“, erläuterte er dem Publikum. Doch es gebe Möglichkeiten, als Lehrerin oder Lehrer so frei im Kopf zu werden, dass in Klassen mit 25 und mehr Kindern Individualisierung trotzdem in Teilen gelinge. Er empfiehlt Basisaufgaben für alle, verschiedene Materialien, Tipps zur Arbeitsweise, Ideen für Lösungen und Lösungsblätter zu entwickeln und auszulegen. Fischer: „Wenn also ein Schüler einen Tipp benötigt, weiß er, wo er ihn findet. Und schon habe ich ein paar Minuten gewonnen. Die Zeitersparnis macht den Lehrer freier im Kopf und gibt ihm Raum, mit einzelnen Kindern zu sprechen, sie zu begleiten.

Von ausschließlich individualisiertem Lernen hält er weniger: „Es muss auch Stunden des Vortrags geben.“ Das „Wann“ hänge von der Lernsituation ab. Wichtig sei nur, authentisch zu bleiben, seine Stärken zu nutzen – etwa, wenn man ein besonders guter Vorleser sei. Auch Fischer hob die Bedeutung des Raums hervor. An der Joseph-von-Eichendorff-Schule habe sich das Inselkonzept bewährt. In den „Inseln“ stehen wechselweise Sozialpädagogen, Ehrenamtliche oder außerschulische Partner für Kinder, die eine „Auszeit“ benötigen, als Ansprechpartner zur Verfügung.

Kollegiale Hospitation erfordert Feedback-Kultur

Als Entlastung und Bereicherung empfindet das Kollegium der Gesamtschule Ebsdorfergrund die dort etablierte kollegiale Hospitation. Inspiriert vom ersten bundesweiten Ganztagsschulnetzwerk entschloss man sich an der Gesamtschule, die Chance zu nutzen, voneinander zu lernen, Erfahrungen auszutauschen und das eigene Handeln noch stärker zu reflektieren. Schulleiter Lothar Potthoff erläuterte in seinem Workshop: „Unterricht ist das Kerngeschäft von Schule. Durch die kollegiale Hospitation haben wir die Chance, den Unterricht zu betrachten, ohne beurteilt zu werden.“

Konkret heißt das: Drei Pädagogen schließen sich zusammen, besuchen sich wechselseitig und sprechen über den Unterricht. Bewertungen sollen ausdrücklich vermieden werden. Das allerdings fiel nicht immer leicht. Potthoff: „Wir Lehrer sind es ja gewohnt, den ganzen Tag zu bewerten.“ Eine externe Fortbildung wurde organisiert, um Bewusstsein und Sprache für eine Feedback-Kultur zu vermitteln. „Es geht darum, nur zu beobachten, Ich-Botschaften rüberzubringen“, so der Schulleiter. Die kollegiale Hospitation benötigt Zeit. Die wird den daran Beteiligten durch Vertretungspläne gegeben. „Aber sie sind auch bereit, dafür Freistunden zu nutzen“, sagt Potthoff. Sie wissen, was sie davon haben: Sie erfahren, dass sie mit Problemen nicht alleine dastehen. Und betrachten den Austausch im Team als Mittel gegen Vereinzelung und den damit häufig verbundenen Burn-Out.

 

 

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