Ganztagsbildung stärkt das Selbstwertgefühl : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Ein "Programmheft so dick wie ein Buch", wie Bürgermeisterin Christine Strobl feststellte. Alle Facetten der Ganztagsschule bot der 5. Münchner Ganztagsbildungskongress.

Blick ins Publikum des Münchner Ganztagsbildungskongresses
© Redaktion www.ganztagsschulen.org

Das ungebremst hohe Interesse am fünften Münchner Ganztagsbildungskongress spricht für sich. Wieder kamen vom 19. bis 21. Januar rund 1.200 Interessierte zusammen, um sich in Vorträgen, Podiumsdiskussionen, Foren, Workshops und Ausstellungen über das Thema Ganztagsbildung zu informieren. Dazu bestand noch die Möglichkeit, fünf Ganztagsschulen und eine Einrichtung der Jugendarbeit zu besuchen, darunter die Grundschule am Hedernfeld und die Grundschule Berg am Laim, Vorjahresgewinnerin des Münchner Schulpreises, deren Schulleiter Dr. Michael Hoderlein mit seinem Team auch in einem Vortrag über die Einrichtung von Ganztagsklassen informierte.

Das Motto des 5. Kongresses lautete „Ganztagsbildung gemeinsam gestalten“. Stadtschulrat Rainer Schweppe erklärte in seinem Grußwort, dass die Stadt München mit dem „Aktionsprogramm Schule- und Kita-Bau 2020“ ein Milliardenprogramm aufgelegt habe. In dem Zusammenhang erinnerte Schweppe auch an das Ganztagsschulprogramm der Bundesregierung, das die bundesweite Diskussion über Ganztagsbildung angestoßen habe. Ein weiteres Engagement des Bundes findet er wünschenswert.

„Nichts ist wichtiger, als das Selbstwertgefühl zu stärken“

Bürgermeisterin Christine Strobl sprach in ihrem Grußwort über die soziale Durchlässigkeit des Bildungswesens, die „immer noch zu wünschen übrig lässt“. Beispielsweise gebe es zwischen den Münchner Grundschulen große Unterschiede beim Übergang zum Gymnasium, die Quoten der Gymnasialempfehlungen reichen von 13 bis 92 Prozent. „Wir haben keine Leistungs-, sondern eine Herkunftselite“, schlussfolgerte Strobl. Die Ganztagsschule könne durch individuelle Förderung diesen Zustand abmildern und als Lebensort sozialen Zusammenhalt schaffen.

Für die Hauptvorträge hatte die Münchner Serviceagentur für Ganztagsbildung diesmal eine Referentin und einen Referenten aus der Politikwissenschaft eingeladen. Prof. Dr. Gesine Schwan hielt ein „Plädoyer für ein umfassenderes Bildungsverständnis“: „Was in der Ganztagsschule passiert, ist essentielle Voraussetzung für ein demokratisches und gewaltfreies Gemeinwesen.“ Ganztagsschulen könnten die Persönlichkeitsbildung stärken und Schülerinnen und Schüler ermöglichen, ihre Potenziale zu entdecken und zu nutzen, zum Beispiel in der kulturellen Bildung.

Die Ganztagsschule ermögliche, dass sich Mitschülerinnen und Mitschüler einmal ganz anders erleben. „Nichts ist wichtiger, als das Selbstwertgefühl von Menschen zu stärken“, betonte Gesine Schwan. „In der Schule kann die Sicht auf Mitmenschen verändert und gelernt werden, mit anderen zurechtkommen. Demokratie kann nicht funktionieren, wenn ich die Anderen ablehne.“ Sie verwies dabei auch auf die aktuellen Migrationsbewegungen.

Fortschritt und Beharrung

Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani von der Fachhochschule Münster sprach in seinem Vortrag „Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft“ über den Unterschied zwischen der „gefühlten Wirklichkeit“ und der Datenlage zur Integration in Deutschland. „Wenn ich auf einem Kongress in Kanada von Kollegen auf die Lage zur Integration angesprochen werde, wird bewundert, wie gut es bei uns läuft.“ Hierzulande werde oft „ein Bild gezeichnet, als gehe das Abendland unter.“

Alle Kennziffern zur Migration in den Bereichen  Wohnen, Bildung und Beruf hätten sich in Deutschland in den letzten 15 Jahren, auch im Vergleich zu Einwanderungsnationen wie Frankreich und Großbritannien, erheblich verbessert. „Wenn man sich eine Wolkenkuckucksheim-Gesellschaft vorstellt, dann ist die daran gemessene Wirklichkeit immer der Weltuntergang. Aber wir müssen uns an konkreten Zahlen der Vergangenheit und Gegenwart orientieren und selbstbewusst mit der Migrationsfrage umgehen“, so der Wissenschaftler, dessen Eltern einst aus Syrien geflohen waren. „Konstruktive Konfliktbewältigung ist Synonym für sozialen Fortschritt.“

Für die Schule sieht El-Mafaalani ein Dilemma darin, dass manche Eltern mit Migrationshintergrund für ihre Kinder einerseits den Erfolg in der Schule erwarteten und damit Integration, andererseits an Sprache, Religion und Bräuchen aus dem Herkunftsland festhielten. „Dieses Dilemma von Fortschritt und Beharrung kann die ganztägige Bildung helfen anzugehen.“

Netz von Lernorten und Kooperationsbeziehungen

Zum Ganztagsbildungskongress gehört seit 2015 auch die Verleihung des Münchner Schulpreises, den am Nachmittag des ersten Kongresstages Bürgermeisterin Christine Strobl und Stadtschulrat Schweppe übergaben. Eine Jury aus Expertinnen und Experten – darunter erstmals eine Schülerin – hatte aus der Vielzahl von Bewerbungen sechs Schulen nominiert. Der erste Platz ging in diesem Jahr an eine berufliche Schule, die Städtische Anita-Augspurg-Berufsoberschule für Sozialwesen.

Die Grundschule am Winthirplatz erreichte den zweiten Platz. Sie überzeugte durch die „wertschätzende Beziehungskultur“ und durch ihre WIN-Klassen, die sie auf dem Kongress auch vorstellte. WIN heißt „Wir in Neuhausen“, und Schülerinnen und Schüler mit nichtdeutscher Muttersprache sollen gewinnen, wenn sie ihre ersten Schritte in der neuen Umgebung machen. In der Mittelschule an der Wittelsbacher Straße, die den dritten Preis erhielt, arbeiten 16 der 19 Klassen im gebundenen Ganztag. „Die Schule webt ein Netz von verschiedenen Lernorten und außerunterrichtlichen Kooperationsbeziehungen“ hieß es in der Laudatio. Dazu gehören auch Berufsschulen und die Universität, denn die Schule unterstützt ihre Schülerinnen und Schüler bis zum Übergang in die Ausbildung.

Frühtalk zur Ganztagsbildung

„Das Programmheft ist inzwischen so dick wie ein Buch“, hatte Bürgermeisterin Christine Strobl in ihrem Grußwort zur Eröffnung des Kongresses festgestellt. Wohl wahr. Zur Breite der Themen gehörten beispielsweise das Schulentwicklungsprogramm für den Ganztag des Staatsinstituts für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB) oder die Schulklima-Befragungen des Pädagogischen Instituts an Münchner Schulen. Die Kooperation mit der Jugendhilfe brachte das Deutsche Jugendinstitut ein. In weiteren Workshops ging es um Schule als Lebenswelt, um Emotionen beim Lernen, um Bildung in Armutsmilieus, aber auch um Jugendbeteiligung im Stadtteil oder interkulturelle Jungenarbeit, wie sie das Projekt HEROES der AWO München leistet.

Der zweite Tag begann mit einem „Frühtalk“. Unter dem Motto „Ganztagsbildung – Die Kunst der Entfesselung“ diskutierte Prof. El-Mafaalani mit Eva-Maria Espermüller-Jug von der Anne Frank-Realschule München, Hannah Imhoff von der StadtschülerInnenvertretung und dem Prof. Dr. Ulrich Deinet von der Hochschule Düsseldorf. Deinet, Experte für Sozialraumforschung, plädierte dafür, an der weiteren Öffnung der Ganztagsschulen zu arbeiten: „Die Lernlandschaft stellt für die Schule eine Entlastung dar.“ Diese könnten auch Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter schaffen, wenn sie zum Beispiel Eltern kontaktieren, um ihnen in „einer Art positiven Intervention“ Rückmeldungen zu den Bildungserfolgen ihrer Kinder zu geben. Der Wissenschaftler kritisierte indes die räumlichen Voraussetzungen an Ganztagsschulen, die oft nicht mit den pädagogischen Erfordernissen mithielten.

Schulleiterin Espermüller-Jug wandte ein, dass eine Schule nicht warten sollte, bis die entsprechenden Räume kämen. Ihre Anne-Frank-Realschule hat 2014 den Deutschen Schulpreis gewonnen, und die Schulleiterin berichtete über das Projektlernen und Lernbüros in ihrer Schule: „Wir setzen auf unterschiedliche und offene Lernformen, lassen den Schülerinnen und Schülern Freiräume.“

Ist das noch Jugendarbeit?

Die Sozialpädagogin Astrid Annesser vom Kreisjugendring München-Land arbeitet an der gebundenen Ganztagsgrundschule Hohenbrunn in Riemerling im Landkreis München. Im Workshop „Aufgaben der Jugendhilfe im gebundenen Ganztag an Grundschulen“ beschrieb sie die Kooperation der beiden Partner: „Die Ganztagsschule braucht beide Sichtweisen – das formale Lernen der Schule und das informelle Lernen der Jugendhilfe“. Die Verknüpfung mit der Lebenswelt könne Schule alleine nicht leisten. Die Jugendhilfe bringe ein Konzept der Vielfalt, leistungsunabhängige Anerkennung und einen anderen Blick auf das Kind mit.

Besucher vor der Programmtafel des Kongresses
© Redaktion www.ganztagsschulen.org

Sie müsse sich nicht auf die Rolle der Feuerwehr bei Problemen reduzieren lassen, betonte Astrid Annesser. Noch werde die Kooperation mancherorts durch die „enorme Konkurrenzsituation“ von Schule und Jugendhilfe behindert. Manche Lehrkräfte hielten Jugendarbeit für „völlig überflüssig“, während Jugendhilfe-Verantwortliche meinen, ohne Freiwilligkeit gebe die Jugendhilfe ihren Kern preis. „Ist das dann überhaupt noch Jugendarbeit, was wir an Schulen machen?“, laute die Befürchtung.

Der Kreisjugendring München-Land arbeitet an Standards zum Engagement in Ganztagsschulen, berichtete Astrid Annesser. Dazu gehören aus ihrer Sicht auch Sozialpädagoginnen oder Sozialpädagogen für jede Klasse und Zeiten für die Kooperation mit den Lehrkräften.

Die Übernahme von Artikeln und Interviews - auch auszugsweise und/oder bei Nennung der Quelle - ist nur nach Zustimmung der Online-Redaktion erlaubt. Wir bitten um folgende Zitierweise: Autor/in: Artikelüberschrift. Datum. In: https://www.ganztagsschulen.org/xxx. Datum des Zugriffs: 00.00.0000