„Ganztag zwischen den Meeren“: Fundgrube für Ideen : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Als Fundgrube geballter Erfahrungen von Ganztagsschulen erwies sich der 7. Landeskongress „Ganztag zwischen den Meeren“ in Kiel. Mehr als 300 Interessierte nutzen die Gelegenheit, neue Ideen zu sammeln, sich auszutauschen und Anregungen mitzunehmen.

Es ist schon gute Tradition der Ganztagsschulen in Schleswig-Holstein, sich zu vernetzen, über die Schultern der anderen zu schauen, sich inspirieren zu lassen, sich zu öffnen und auszutauschen. Entsprechend stellte die Würdigung jener 24 Referenzschulen, die sich im jüngsten Netzwerk zusammengeschlossen hatten, einen Schwerpunkt des Kongresses in Kiel dar. Der Kongress „Ganztag zwischen den Meeren“ ist eine Kooperation zwischen dem Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, dem Ministerium für Soziales, Gesundheit, Jugend, Familie und Senioren des Landes Schleswig-Holstein, der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ und des Programms „LiGa – Lernen im Ganztag“. Dieses Mal stand er unter dem Motto: „Potentiale entfalten – Wohlbefinden fördern – Bildungschancen sichern“.

Der Geist des „Gemeinsamen“ schwebte geradezu über dem Veranstaltungsort. Hier die Schulen, die sich austauschen, dort die Ministerien, die gemeinsame Strategien für die Weiterentwicklung der Ganztagsschulen, aber auch der Bildung insgesamt anstreben. Letzteres unterstrich Bildungsministerin Karin Prien ebenso wie Jugendminister Dr. Heiner Garg. Beide machten deutlich, dass es für sie eine Selbstverständlichkeit und Notwendigkeit ist, Grenzen der formalen Zuständigkeit zu überwinden. Schließlich gehe es bei der Arbeit ihrer Ministerien um die gleiche Zielgruppe. Die Geschäftsführerin der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, Heike Kahl, lobte diese Offenheit: „Es ist schon etwas Besonderes, dass in Schleswig-Holstein die für Schule und die für Jugend Zuständigen so eng kooperieren.“

Podiumsdiskussion beim Ganztagsschulkongress
Bildungsministerin Karin Prien (li.), Dr. Heike Kahl, Dr. Heiner Garg © Patrick Hattenberg

Eine noch stärkere Vernetzung und intensivere Kommunikation wünschte sich Karin Prien zwischen Verwaltung, Schulen und Bildungsforschung. Sie rief die Schulen und Schulträger auf: „Wir dürfen nicht nur auf die Erkenntnisse der Forschung warten, sondern müssen der Wissenschaft auch sagen, was wir brauchen.“

„Haben Sie Mut, sich Beulen zu holen“

Der Frage, was der Ganztag  aus der Sicht jahrzehntelanger Schulforschung benötigt, um ein qualitativ guter Ganztag zu sein, widmete sich Prof. em. Dr. Jürgen Oelkers von der Universität Zürich in seinem Impulsvortrag und im Gespräch mit unserer Redaktion. „Ganztagsschulen, am besten gebundene, sollten Bestandteil einer Bildungslandschaft sein. Sie sollten das Mehr an Zeit sinnvoll für Kooperationen und vertiefendes Lernen in weniger starren Zeitstrukturen und mit neuen Methoden nutzen. Ein ‚Mehr vom Gleichen’ darf es nicht geben“, betonte er.

Zugleich mahnte er, Schulentwicklung behutsam voranzutreiben. „Sie können nicht alles auf einmal machen. Setzen Sie Prioritäten und haben Sie den Mut, sich auch Beulen zu holen. Die weisen Ihnen den richtigen Weg“, versicherte er. Er plädierte beispielsweise für eine Abkehr von den herkömmlichen Hausaufgaben: „Damit belastet man nur Schüler und Elternhaus.“ Hausaufgaben gehörten, auch wenn der Titel dann nicht mehr passe, in die Ganztagsschule und könnten ohnehin neu gedacht werden.

„Meistens dienen Hausaufgaben der Nachbereitung. Warum aber können sie nicht am Anfang des Schultags stehen und für dessen Vorbereitung genutzt werden?“, fragte er. „Warum eigentlich nicht?“, grübelte eine junge Pädagogin beim Verlassen des Vortragsraums und machte sich auf den Weg zu den Ständen der Referenzschulen. Dort tauschte sie sich angeregt über deren Erfahrung in Sachen Hausaufgaben aus.

Besucher an den Ständen auf dem Ganztagsschulkongress
Die Referenzschulen lockten viele Gesprächspartner. © Patrick Hattenberg

Mit Bedauern stellte sie fest, dass es „leider unmöglich ist, alle Workshops und Vorträge zu besuchen, mit allen zu sprechen, die Interessantes zu berichten haben“. In der Tat fiel vielen die Wahl schwer, zu entscheiden, welchen Wissensschatz sie heben wollten. Die Palette der Angebote war so groß wie die Vielfalt der Ganztagsschulkonzepte. Hier ging es um Raumkonzepte, dort um den Umgang mit digitalen Medien.

Schülerinnen und Schüler entwickeln ihre Schule

Weitere Schwerpunkte neben vielen Themen der Schulentwicklung waren zum Beispiel individuelles Fördern im Lernlabor, die Gestaltung eines Bildungshauses oder Fragen der Schularchitektur. Auch außergewöhnliche Aspekte fanden eine aufmerksame Zuhörerschaft und engagierte Diskutierende: „Was ist Achtsamkeit im Schulalltag, wie kann sie erreicht werden?“ oder „Welche Bewegungsansätze gibt es, die Mädchen und Jungen in ihrer Aufnahme-, Wiedergabe- und Konzentrationsfähigkeit unterstützen?“

Workshop der Grund- und Gemeinschaftsschule Boostedt
Wie Partizipation gelingt, verriet die Grund- und Gemeinschaftsschule Boostedt. © Patrick Hattenberg

Wo immer man sein Ohr hinwandte, ein Gesichtspunkt zog sich wie ein roter Faden durch Gespräche, Vorträge und Visionen: Partizipation. Eine stark ausgeprägte Kultur der Beteiligung von Schülerinnen und Schülern pflegt seit langem die Grund- und Gemeinschaftsschule Boostedt im Kreis Segeberg. Folgerichtig berichtete Schulleiterin Dagmar Drummen nicht nur von ihren Erfahrungen, sondern hatte auch gleich eine Gruppe Schülerinnen und Schülern zum Kongress nach Kiel mitgenommen.

Deren Auftrag lautete: „Lauft los und schaut, ob Ihr bei den anderen Schulen Dinge findet, auf die Ihr neidisch seid.“ Sie wurden durchaus fündig. Die 14jährige Ida hat beispielsweise am Stand einer Schule interessante Modelle von Sitzgelegenheiten auf dem Pausenhof entdeckt und will mit der Schule im Austausch bleiben. Beteiligung ist für Ida und ihre Schulfreunde Normalität. Wöchentlich trifft sich in der Gemeinschaftsschule Boostedt eine Gruppe besonders Engagierter. „SeS“, „Schüler entwickeln Schule“ steht für sie dienstags in der siebten Stunde an.

Ganztag lebt von Partizipation

„Wir werden gehört, planen aktuell Möglichkeiten für eine freiwillige Schulkleidung, Konzepte für den Pausenhof oder das Angebot im Schulkiosk. Wir werden ernst genommen“, berichtet die 14-Jährige. Und sie sollen sich auch in inhaltliche Dinge einmischen und ihr Stimmrecht in der Schulkonferenz nutzen – etwa, wenn es wie derzeit um die Frage geht, ob Zeugnisse künftig von Noten oder doch von Kompetenzbeschreibungen geprägt sein sollen.

Schulleiterin Drummen kann sich gut vorstellen, dass die Schülerinnen und Schüler künftig auch in die Planung von Unterrichtsabläufen einbezogen werden. Sie ist grundsätzlich überzeugt: „Die Schülerinnen und Schüler wissen am besten, wie sich Schule verändern muss. Ohne sie wären wir bei unseren Entscheidungen viel zu weit von der Realität entfernt.“

Klare Vorstellungen vom Ganztag formulierte die Landesschülersprecherin der Gymnasien in Schleswig-Holstein. Christin Godt war als Referentin eingeladen und wünschte sich, dass das Angebot „vor allem eins sein soll: abwechslungsreich. Besonders am Nachmittag sollten die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit erhalten, Tätigkeiten nachzugehen, die nicht dem Unterricht entsprechen und somit ihren Horizont erweitern.“ Weil die Schule eine heterogene Gemeinschaft sei, müsse es geistige, sportliche und kreative Aktivitäten geben, um vielen individuellen Interessen gerecht zu werden.

Das Ziel lautet: Mehr Bildungsgerechtigkeit

Blick in den Zuschauerraum
Mehr als 300 Teilnehmende verfolgten interessiert den Kongress. © Patrick Hattenberg

Dass Schülerinnen und Schüler eigene Ideen einbringen können, sollte nach Ansicht der Schülervertretung Normalität sein. „Es ist wichtig, dass immer mit allen Beteiligten – dem Lehrerkollegium, der Schülerschaft, den Eltern, aber auch mit dem Schulträger – im Kontakt zu bleiben und sich über Abläufe und Probleme auszutauschen.“ Es brauche einen Perspektivwechsel, um auch auf die Forderungen aller eingehen zu können. „Ganztag lebt von Partizipation“, betonte sie.

Ausdrücklich stimmte Christin Godt Bildungsministerin Karin Prien zu, die in einer Diskussionsrunde gefordert hatte: „Ganztag muss mehr bieten als gute Betreuung. Die Ganztagsschule muss mehr Bildungsgerechtigkeit schaffen.“ Aus dem Mund der Schülersprecherin klingt das so: „Ganztag ist ein hervorragendes Mittel für die Bildungsgerechtigkeit. Der Ganztag kann die Schülerinnen und Schüler gewissermaßen aus den Gegebenheiten ihres Zuhauses herausholen und sie individuell in der Schule unterstützen. Das, was zu Hause nicht geleistet werden kann, muss Schule bieten.“ Jugendminister Heiner Garg sieht darin einen Auftrag: „Wenn es unser Ziel ist, gleiche Chancen zu schaffen, müssen wir die Rahmenbedingungen dafür schaffen. Und das wollen wir gemeinsam leisten.“

 

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