"Ganztag zwischen den Meeren" 2014 : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Motivation, Kooperation, Lebenswelten und neue Wege des Lernens standen im Mittelpunkt des 6. Ganztagsschulkongresses „Ganztag zwischen den Meeren“ am 7. November in Rendsburg (Schleswig-Holstein).

Der Einladung der Serviceagentur „Ganztägig lernen“, die den Kongress in Kooperation mit dem Ministerium für Schule und Berufsbildung sowie dem Ministerium für Soziales, Gesundheit, Wissenschaft und Gleichstellung des Landes Schleswig-Holstein organisiert hatte, waren mehr als 250 Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Praxis gefolgt. Unter ihnen auch zahlreiche Schülerinnen und Schüler. Dass auch Stühle unbesetzt blieben, lag am Streik der Lokführer. Das betraf beispielsweise den Referenten zum Thema „Und was ist mit Freizeit? – Frei- und Rückzugräume in der Ganztagsschule“ . Bedauerlich, wie viele Gäste meinten. Sie hatten sich auf diesen „Seitenblick“ besonders gefreut. Hatte es doch zu diesem Thema noch keinen Beitrag bei früheren Landeskongressen gegeben.

Die Veranstalter wählten in diesem Jahr ein neues Tagungskonzept. „Seitenblicke“ und „Einblicke“ ersetzten die traditionellen Workshops oder Vorträge. Auf dem „Marktplatz“ vor Beginn des Kongresses stellten sich Referenzschulen den Fragen der Besucher. Im Programmteil „Blickwinkel“ diskutierte Speerwurfweltmeisterin Steffi Nerius mit Schülerinnen und Schülern über mentale Strategien im Leistungssport. Um es vorwegzunehmen: Diese Form der Kongressgestaltung öffnete viel Raum für Gedankenaustausch. „Und genau das ist es, weswegen wir hier sind“, betonte ein Lehrer im Gespräch mit einem Kollegen.

„Man muss immer neue Ziele setzen.“

Heike Kahl und Britta Ernst
Dr. Heike Kahl, Geschäftsführerin der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, und Britta Ernst, Ministerin für Schule und Berufsbildung des Landes Schleswig-Holstein © Deutsche Kinder- und Jugendstiftung gGmbH

Die Ministerin für Schule und Berufsbildung des Landes Schleswig-Holstein, Britta Ernst, beteiligte sich am Auftaktgespräch mit Dr. Heike Kahl, der Geschäftsführerin der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, und Speerwurfweltmeisterin Steffi Nerius. „Wir müssen den eingeschlagenen Weg fortsetzen und auch jene Schulen mitzunehmen, die gerade den Schritt in den Ganztag wagen wollen“, unterstrich Heike Kahl. Britta Ernst machte Mut: „Der eingeschlagene Weg wird nicht zurückgehen.“ Sie reagierten damit auf Fragen der Kongressteilnehmer und von Moderator Armin Himmelrath, wie es mit dem Ausbau der Ganztagsschulen weitergehe, wenn das IZBB-Begleitprogramm ausläuft.

Im „Blickwinkel“-Austausch mit Schülerinnen und Schülern machte Steffi Nerius anschließend deutlich, wie wichtig Eigenmotivation für den Erfolg ist. „Wenn du die nicht hast, erreichst du dein Ziel nicht.“ Auf die Frage, wie man Kinder in der Schule motivieren könne, meinte die Leistungssportlerin: „Man muss sich und ihnen immer neue Ziele setzen.“

Im Gespräch mit www.ganztagsschulen.org äußerte Steffi Nerius sich auch zur Sorge mancher Vereine, die Ganztagsschule könne zum Mitgliederschwund führen, da die Kinder keine Motivation hätten, nach der Schule noch zum Training zu gehen. „Ja“, meinte Nerius, „wir spüren im Verein, dass es schwieriger wird, Talente aufzuspüren. Ich glaube, wir müssen umdenken. Wir als Trainer und Leistungssportvereine sollten auf die Ganztagsschulen zugehen und gute Kooperationen aufbauen.“

Ein spannender Seitenblick in die Natur

Kooperation und Motivation standen im Zentrum der „Seitenblick“-Überlegungen des Verhaltensökologen Dr. Volker Witte, der unter anderem an der LMU München gelehrt hat: „Was wir von Ameisen lernen können: Wer kooperiert in der Natur mit wem und warum?“ war seine Fragestellung. In seinen Darstellungen, in denen die Ameisen eher eine Randnotiz waren, musste das Wort Schule kein einziges Mal fallen, und doch lieferte er den interessierten Zuhörern Antworten auf die im Thema gestellte Frage.


 


Witte erläuterte, dass in der Natur eher keine Kooperation, sondern Konkurrenz existiere. Dennoch gebe es Tiere, die sich nicht bekämpften, sondern Schwärme bilden: Fische, Vögel.  Er führte zahlreiche Beispiele für Kooperation aus dem Tierreich an. Die Frage, warum sich bestimmte Tiere nicht bekämpften, beantwortete er mit dem Hinweis: "Sie haben den Konkrrenzkampf zurückgestellt, um sicherer vor Feinden zu sein, wissend, dass sie auch ein höheres Risiko eingehen, etwa bei der Futterverteilung. Sie haben eine klare Kosten-Nutzen-Rechnung aufgestellt." Das ist laut Witte auch auf den Menschen übertragbar: „Er gehört auch zur Natur und auch für ihn ist Kooperation eher ungewöhnlich.“ Augenzwinkernder Kommentar einer fasziniert lauschenden Lehrerin: „Die Beispiele sind einleuchtend. Das nehme ich als Anregung für unsere Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern mit in unsere Schule.“

Inklusion gelingt, wenn alle einbezogen werden

Ein weiterer Seitenblick richtete sich auf die Anti-Bias-Arbeit. Melanie Stamer von der Universität Hamburg verdeutlichte die Komplexität einer vorurteilsbewussten und inklusiven Bildung. Im Zentrum ihrer Überlegungen stand die Frage: „Wie kann Schule ein Ort sein, an dem sich jeder angenommen und wohl fühlt?“ Auch als Lehrer müsse man sich der Problematik bewusst sein und die eigenen Wert- und Normalitätsvorstellungen hinterfragen. Das funktioniere am besten im Austausch mit anderen: „Dadurch entdeckt man weitere Blickwinkel.“

Diversitätsbewusste Pädagogik gelinge nur, wenn man sich der eigenen gesellschaftlichen Position bewusst werde. Dies wiederum sei eine Voraussetzung für gelingende Inklusion. Jeder und jede Einzelne müsse spüren: „Ich bin hier sichtbar. Ich werde einbezogen.“ Sie empfahl den Schulen, bei ihrer inklusiven Entwicklung wirklich alle einzubeziehen: „Das bedeutet nicht nur Schülerinnen und Schüler, Lehrer und Eltern, sondern auch Hausmeister, Küchen- und Reinigungspersonal.“

Einblicke in einen Schüleralltag

Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kongresses
© Deutsche Kinder- und Jugendstiftung gGmbH

Beteiligung und Wahlfreiheit erhöhen die Motivation. Davon sind Lotta Penmöller und Simon Graf überzeugt. Die beiden 16-Jährigen besuchen die Geschwister-Prenski-Schule in Lübeck. Sie gehörten zu jenen, die den Kongressteilnehmern „Einblicke“ in ihren Schulalltag boten. Neben zahlreichen Möglichkeiten sich zu engagieren (Schülervertretung, Gourmet-Club für die Mensa, Schülerfirmen) bietet ihnen die Stundentafel Freiheit und zugleich Gelegenheit, Verantwortung zu übernehmen.

So beinhaltet der Stundenplan für alle Kinder ab der 5. Klasse Projektunterricht mit bis zu sechs Stunden pro Woche. Selbstständig widmen sich die Schülerinnen und Schüler einem Thema. In Klasse neun endet dies mit einer Projektprüfung. Simon etwa wählte für sich  die Pyramiden. Und Lotta ist sich des „Neides“ von Freunden an anderen Schulen bewusst: „Die finden diese Freiheit toll, weil sie von uns hören, dass Lernen so viel mehr Spaß macht.“

Dabei kommt die Verantwortung nicht zu kurz. Viele Jahre können die Schülerinnen und Schüler dieser gebundenen Ganztagsschule Mittagsfreizeiten oder Arbeitsgemeinschaften in Anspruch nehmen. In Klasse 11 müssen sie selbst eine anbieten. Lotta hat sich für ein Vorleseprojekt mit jüngeren Schülerinnen und Schülern entschieden.

Marktplatz der Möglichkeiten

Dieser und alle anderen Einblicke bereicherten den Erfahrungsschatz der Kongressteilnehmer. Oder, wie es Simon formulierte: „Daraus, dass ich hier Leute treffe und Neues erfahre, ziehe ich extrem viel Motivation.“ Einblicke boten im Übrigen auch die ausstellenden Marktplatz-Schulen.  Dazu gehörten etwa die Grundschule Mühlenredder, die Gemeinschaftsschule Handewitt, die Schule Roter Hahn aus Lübeck, das Marion-Dönhoff-Gymnasium Mölln, die Waldschule Groß Grönau und die Freiherr-vom-Stein-Schule aus Neumünster. Sie zählten zum Referenzschulnetzwerk „Ganztägig lernen“, das mit diesem Kongress seinen offiziellen Abschluss fand.

Die Bedeutung des Austausches umschrieb Nicola Fomferra aus der Grundschule Mühlenredder so: „Wir haben einiges über die Nutzung von Klassenräumen oder etwa die Ferienbetreuung von anderen gelernt. Umgekehrt haben sich andere Schulen sehr für unser Modell interessiert, ein kostenloses Kursprogramm anbieten zu können.“ Mit Blick auf die Zukunft meinte die Pädagogin: „Wir werden versuchen, mit den anderen Schulen in Kontakt zu bleiben. Ganz ohne Begleitung würde das aber wohl für manche Schule schwierig werden.“

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