Ganztag in NRW: Eltern mit Qualität überzeugen : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Lernzeiten statt Hausaufgaben, zusätzliche Bildungs- und Förderangebote aus den Bereichen Kultur, Sport und Spiel und Kooperation mit der Jugendarbeit sind Schwerpunkte des Ganztags in Nordrhein-Westfalen. Schulministerin Sylvia Löhrmann spricht im Interview über aktuelle Entwicklungen.

Online-Redaktion: Frau Ministerin, Nordrhein-Westfalen hat schon viel in den Ausbau der Ganztagsschulen investiert. Wie entwickelt sich der Ausbau in den verschiedenen Schularten?

Sylvia Löhrmann: Sehr gut. Schon heute sind rund 90 Prozent der Grundschulen in Nordrhein-Westfalen offene Ganztagsschulen, für über 40 Prozent aller Kinder im Grundschulalter stehen Ganztagsplätze bereit. Zum kommenden Schuljahr sind für die Offene Ganztagsschule im Primarbereich, die OGS, insgesamt 305.100 Plätze vorgesehen, noch einmal rund 30.000 mehr, als das Land im laufenden Schuljahr bewilligt hat.

Bei den weiterführenden Schulen arbeiten alle Gesamtschulen und fast alle Sekundarschulen im Ganztag, dazu ist jedes vierte Gymnasium ein Ganztagsgymnasium. Alles in allem ist bei uns in der gesamten Sekundarstufe I etwa jede zweite Schule eine Ganztagsschule.

Das allein sind schon hervorragende Werte. Das Bild wäre jedoch unvollständig, wenn wir nicht auch die vielen erweiterten Bildungsangebote in den Schulen anerkennen würden, die dem Betrieb einer Ganztagsschule oft schon recht nahe kommen. So haben fast alle Schulen eine pädagogische Übermittagsbetreuung, viele auch darüber hinausgehende Angebote am Nachmittag. Die offene Ganztagsschule ist außerdem attraktiv für die Integration von Kindern aus Familien, die aus ihrer Heimat flüchten mussten. Allein für diese Kinder stehen rund 15.000 Plätze zur Verfügung.

Online-Redaktion: Wie steht das Land zur Frage von offenen und gebundenen Ganztagsschulen?

Löhrmann: Ich halte es für falsch, gebundene und offene Ganztagsschulen gegeneinander auszuspielen, im Übrigen gibt es auch Mischformen. Es ist bislang auch gar nicht nachgewiesen, dass gebundene Ganztagsschulen bessere Ergebnisse brächten als offene Ganztagsschulen. Nachweisbar ist, dass Ganztagsschulen unabhängig von ihrer Ausrichtung gute Wirkungen auf Sozialverhalten, Lernmotivation und Lernverhalten vorweisen. Entscheidend sind dabei die möglichst regelmäßige Teilnahme und im Hinblick auf Akzeptanz und Wirksamkeit eine gute Mischung von verpflichtenden und freiwilligen Angeboten.

Ministerium für Schule und Weiterbildung in Düsseldorf
Ministerium für Schule und Weiterbildung in Düsseldorf © MSW NRW

Ich setze darauf, dass mit der Zeit die Qualität offener Ganztagsformen die meisten Eltern überzeugt und dass sich die Frage, ob gebundener oder offener Ganztag, nicht mehr stellt. Wir sind durchaus auf diesem Weg. Es gibt inzwischen eine Reihe von offenen Ganztagsgrundschulen, an der alle Kinder teilnehmen – wir nennen diese Schulen „OGS für alle“ – oder an der zumindest Ganztagsklassen und Ganztagszüge entstanden sind. Und an gebundenen Ganztagsschulen gibt es optionale Angebote. Die überzeugte Entscheidung für den Ganztag ist ein besserer Weg als ein Zwang zum Ganztag.

Online-Redaktion: Was erwarten die Eltern von Ganztagsschulen? Gibt es in einem so großen Flächenland regionale Unterschiede?

Löhrmann: Eltern erwarten zunächst eine verlässliche Betreuung. Sie erwarten aber auch mit Recht eine Einheit von Betreuung, Bildung und Erziehung. Die Kinder sollen in einer Ganztagsschule gemeinsam lernen und gemeinsam aufwachsen. Gleichwohl gibt es auch noch viele Eltern, die Ganztagsschulen skeptisch betrachten. Umso wichtiger ist es, dass die Eltern bei Bedarfsplanungen aktiv beteiligt werden. Letztlich wird vor allem die Qualität des Ganztags überzeugen. Oft genug haben auch Kinder ihren Eltern keine Ruhe gelassen, bis diese sie zum Ganztag angemeldet haben.

Regionale Unterschiede gibt es natürlich, sie lassen sich aber nicht mit einem Stadt-Land-Gefälle erklären. Es gibt gleichermaßen größere und kleinere Städte, in denen mehr als die Hälfte der Kinder am Ganztag teilnehmen, in manchen Städten und Schulen sogar über 70 Prozent. Andererseits gibt es Regionen, in denen noch Entwicklungspotenziale schlummern. Letztlich spielen auch die Möglichkeiten der Kommunen, die entsprechenden Räume zur Verfügung zu stellen, eine nicht unerhebliche Rolle. Deshalb trete ich auch dafür ein, dass der Bund ein neues Investitionsprogramm für den Ganztag auflegt.

Online-Redaktion: Immer mehr Gymnasien entscheiden sich für den Ganztag. Welche Impulse erhoffen Sie sich von den Landesprojekten „Ganz In – Mit Ganztag mehr Zukunft“ und „Lernpotenziale - Individuell fördern im Gymnasium“?

Löhrmann: Das Projekt „Lernpotenziale“ ist kein spezielles Ganztagsprogramm, obwohl Ganztagsschulen den Anstoß gegeben haben. Die beteiligten Ganztagsschulen nutzen ihre Möglichkeiten zur Rhythmisierung des Schulalltags. Aber auch die Gymnasien, die sich nicht beziehungsweise noch nicht für die Einführung des gebundenen Ganztags entschieden haben, überzeugen durch ihre erweiterten Bildungsangebote und Arbeitsgemeinschaften. Hausaufgaben werden zunehmend in Lernzeiten integriert, sodass für die Schülerinnen und Schüler neue Freiräume und mehr Freizeit entstehen.

Beide Projekte konzentrieren sich auf die Unterrichtsentwicklung. Es wird dabei versucht, gerade auch die Schülerinnen und Schüler, die zu Hause keine ausreichende Förderung erfahren oder in ihrem Wohnort keine unterstützenden Bildungsangebote vorfinden, anzusprechen und ihnen durch individuelle Förderung den Weg zu einem erfolgreichen Schulabschluss zu ebnen. In beiden Projekten profitieren die Schulen von ihrer Arbeit in moderierten Netzwerken.

Online-Redaktion: Welche Fingerzeige haben die „Bildungsberichte Ganztagsschule NRW“ bisher gegeben – was hat sich bewährt, wo gibt es noch Entwicklungsbedarf?

Löhrmann: Die Bildungsberichte geben uns wichtige Impulse. Ganztag – das ist ein wesentliches Fazit – ermöglicht unabhängig von seiner Organisationsform eine nachhaltige Bildungsförderung, wenn die Schülerinnen und Schüler möglichst regelmäßig teilnehmen, die Schule verbindlich mit außerschulischen Partnern kooperiert und die Eltern verlässlich einbezieht. Mehrfach haben die Bildungsberichte auch eine stärkere Beteiligung der Eltern und der Kinder und Jugendlichen an der Ausgestaltung des Ganztags angemahnt. Wir haben deshalb in der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ einen eigenen Schwerpunkt zur Partizipation gebildet.

Ein wichtiges Ergebnis hat auch eine von mir 2011 in Auftrag gegebene Studie zu den langfristigen fiskalischen Wirkungen des Ganztags erbracht: Die Firma Prognos hat einen fiskalischen Nutzen durch höhere Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen festgestellt, der die Kosten des Ganztagsausbaus übersteigt. Die zusätzlichen Einnahmen landen allerdings beim Bund und bei den Sozialversicherungsträgern, während Länder und Kommunen die Kosten des weiteren Ausbaus tragen – bis Mitte der 2020er Jahre rund zwei Milliarden Euro. Auch dies ist ein Grund für mein Plädoyer für eine neue Kooperation von Bund, Ländern und Kommunen.

Gottfried-Kinkel-Schule / Christian Daitche; FOTOBONN
© Gottfried-Kinkel-Schule / Christian Daitche; FOTOBONN

Online-Redaktion: Die Serviceagentur „Ganztägig lernen“ NRW ist über die Landesgrenzen bekannt. Welche Unterstützung brauchen Ganztagsschulen, um die Qualität weiter zu entwickeln?

Löhrmann: Die Serviceagentur „Ganztägig lernen“ arbeitet in Nordrhein-Westfalen inzwischen eng mit der 2014 gegründeten Qualitäts- und Unterstützungsagentur – Landesinstitut für Schule (QuA-LiS) zusammen. Während QuA-LiS sich vor allem auf Fragen der Unterrichtsentwicklung konzentriert, arbeitet die Serviceagentur an der Kooperation von Schule und Jugendhilfe. Beide sorgen gemeinsam für ein Gesamtbild einer umfassenden Ganztagsschulentwicklung.

Schwerpunkte der Qualitätsentwicklung im Arbeitsprogramm der Serviceagentur sind in den Jahren 2015 bis 2018 unter anderem die Themen Lernzeiten, Erzieherische Förderung und Inklusion, Partizipation sowie die Kooperation mit der Jugendarbeit und Jugendverbänden. Ein neues Thema ist angesichts der neuen Zuwanderung in Deutschland die Integration durch Bildung. Ich stelle immer wieder fest, dass die Serviceagentur mit ihren Publikationen, Arbeitshilfen und ihren Veranstaltungen die konkrete Entwicklung des Ganztags vor Ort inspiriert und nachhaltig unterstützt. Ein sehr erfolgreiches Modell sind die 100 Qualitätszirkel, die die Serviceagentur in den Regionen begleitet.

Online-Redaktion: Gibt es Schwerpunkte, die Ihnen für die Zukunft besonders wichtig sind?

Löhrmann: Ja, die gibt es. Ein Aspekt ist die Integration von Hausaufgaben in Lernzeiten. Ganztagsschulen sollten erreichen, dass Kinder vertiefende Übungen und die Festigung des Gelernten im Wesentlichen in der Schule geschafft haben. Lernzeiten werden dann eine wirksame Form individueller Förderung. Der Ganztag hat außerdem dafür gesorgt, dass in den Schulen ein Geist der Multiprofessionalität entstanden ist: durch schulisches Personal anderer Berufsgruppen und durch Kooperationsverträge zwischen Schule, Jugendhilfe, Kultur und Sport. Gemeinsame Teamentwicklung ist deshalb eine weitere große Herausforderung des Ganztags.

Wichtig sind auch die Themen Integration und Inklusion, die letztlich zwei Bezeichnungen für ein gemeinsames Anliegen sind: die individuelle Förderung. Das gemeinsame Lernen und Aufwachsen in einer Ganztagsschule bietet für die Förderung erfolgreicher Bildungsbiografien neue Spielräume, die es an manchen Orten noch zu entdecken, an anderen auszubauen gilt.

Nicht zuletzt möchte ich daran erinnern, dass es an der Zeit ist, dass auch der Bund wieder seine Verantwortung für den Ausbau des Ganztags wahrnimmt. Ganztag ist nicht nur ein schul- oder jugendpolitisches Thema, sondern auch Bestandteil einer nachhaltigen Gesellschafts- und Integrationspolitik.

Seit 2009 haben auf www.ganztagsschulen.org regelmäßig Bildungsministerinnen und Bildungsminister in Interviews die Entwicklungen beim Ausbau der Ganztagsangebote in ihrem Land erläutert. Alle Interviews finden Sie in der Rubrik „Bildungpolitik: Interviews“.

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