Ganztag in NRW: "Die Veränderung liegt in der Normalisierung" : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Er zählt zu den Männern der ersten Ganztagsstunden in Nordrhein-Westfalen: Im Gespräch zieht Uwe Schulz, Referatsleiter im Jugendministerium NRW, eine Bilanz.

Online-Redaktion: Sie waren von Anfang an bei der Entwicklung des Offenen Ganztags in Nordrhein-Westfalen dabei, in der begleitenden Forschung, im Verbundprojekt „Lernen für den GanzTag“, schließlich in der Serviceagentur „Ganztägig lernen“. Was hat sich verändert?

Uwe Schulz: Das ist eine komplexe Frage. Inzwischen haben ja diejenigen, die 2003/04 als Pioniere am Offenen Ganztag teilnahmen, ihre Schulpflicht beendet und besuchen jetzt die gymnasiale Oberstufe oder haben eine Ausbildung begonnen. Ich antworte auf Ihre Frage mal mit einem Paradoxon: Die Veränderung liegt in der Normalisierung. Der Ganztag ist jetzt breit akzeptiert, bei Eltern und Kindern, bei den Schulen und der Kinder- und Jugendhilfe, in den Kommunen und vor allem auch im politischen Raum.

Porträtfoto Schulz
© Uwe Schulz

Der Ganztag ist im Primarbereich in der Fläche ausgebaut – etwa 250.000 Kinder nehmen täglich daran teil. Im Sekundarbereich haben rund ein Drittel der Schulen den gebundenen Ganztag eingeführt. Die neuen Gesamt- und Sekundarschulen werden alle als Ganztagsschulen gegründet. Ich denke, dass der Ganztag für Familien ein bedeutender Faktor geworden ist und sich sowohl Schulen wie auch ihre Bildungspartner aus Jugendhilfe, Kultur und Sport verändert und geöffnet haben. Und vieles mehr!

Online-Redaktion: Als der Ganztagsschulausbau in NRW vor zehn Jahren begann, erhitzten sich die Gemüter über die Schließung der gut funktionierenden Horte. Ein Jahrzehnt später sind diese Ängste bei Eltern verflogen. Warum?

Schulz: In der Offenen Ganztagsschule, der OGS, wird gute Arbeit geleistet. An vier von fünf Grundschulen ist ein Träger der Kinder- und Jugendhilfe in den außerunterrichtlichen Angeboten engagiert, das heißt die Fachlichkeit ist auch dort vorhanden. Und es gibt nun etwa achtmal mehr OGS- als Hortplätze. Ich glaube, auch das ist als gesamtgesellschaftliche Leistung anerkannt worden.

Online-Redaktion: Gelingt das Zusammenspiel zwischen Jugendhilfe und Schule inzwischen reibungslos?

Schulz: Wir haben einen Stand erreicht, in dem die Beteiligten im Sinne der Sache verantwortlich und verlässlich miteinander arbeiten. Natürlich gibt es dabei mancherorts Reibungsverluste, nicht zuletzt aufgrund unterschiedlicher pädagogischer Traditionen oder der teilweise unterschiedlichen Ziele, die die Systeme Schule und Kinder- und Jugendhilfe verfolgen. Alles in allem sehe ich die Entwicklung positiv: Es ist unglaublich viel entstanden im Offenen Ganztagsschulbereich.

Online-Redaktion: Wo gibt es Nachholbedarf?

Schulz: Die Bildungskonferenz des Landes Nordrhein-Westfalen hat im Jahr 2011 auch unter breiter zivilgesellschaftlicher Beteiligung weitreichende Perspektiven für die Weiterentwicklung eines qualitativ guten Ganztags formuliert. Um drei Aspekte anzusprechen: Die Zusammenarbeit von Schulen und außerschulischen Trägern muss sich weiterentwickeln, auch unter dem Aspekt, dass der Ganztag nun auch inklusiv wird. Wir wissen, dass der Offene Ganztag, nicht zuletzt aus finanziellen Gründen, mancherorts unter schwierigen Bedingungen stattfindet.

Und wir benötigen Kontinuität in der qualifizierten Bildungs- und Erziehungsarbeit mit den Kindern und Jugendlichen. Und da beginnt uns der Fachkräftebedarf, der sich in einigen Schulen inzwischen abzeichnet, doch auch Sorgen zu machen.

Und, wenn Sie mir die Anmerkung an dieser Stelle erlauben: Wir hoffen natürlich sehr, dass sich der Bund auch über 2014 hinaus an einem Unterstützungsprogramm wie „Ideen für mehr! Ganztägig lernen.“ beteiligt, damit die Serviceagenturen „Ganztägig lernen“ in den Ländern auch zukünftig ihre wichtigen Unterstützungsangebote für Ganztagsschulen und ihre Bildungspartner leisten können.

Online-Redaktion: An der Offenen Ganztagsschule scheiden sich dennoch die Geister. Sind sie schon Ganztagsschule oder erst „Betreuung“?

Schulz: Sie sind O f f e n e  Ganztagsschulen, wie der Name schon sagt. Es nimmt lediglich ein Teil der Kinder an den außerunterrichtlichen Angeboten teil. Damit erscheint eine umfängliche Rhythmisierung des Schultags schwierig, das ist richtig.

Aber dennoch lässt sich auch in diese Richtung in den Offenen Ganztagsschulen bereits einiges bewegen. Zentral für die gelingende Zusammenarbeit ist die Kommunikation der multiprofessionellen Teams in den Schulen untereinander. Viele Schulen integrieren zumindest für die Ganztagskinder inzwischen Hausaufgaben in Lernzeiten. Manche Schulen haben Ganztagsklassen eingeführt.

Schüler am Kicker
© Britta Hüning

Darüber hinaus erschließt sich mir nicht, warum Bildung und Betreuung immer wieder gegeneinander ausgespielt werden. Seit PISA sind der Stellenwert und die Anerkennung von nonformalen und informellen Bildungselementen in der Schule erheblich gestiegen. Und das ist das, was im außerunterrichtlichen Bereich geschieht. Wie im Unterricht auch, ist das mal nah und mal nicht so nah dran an dem, wie man sich Qualität von Bildung wünscht. Trotzdem sollte man eines festhalten: In den Offenen Ganztagsschulen wird täglich mit hohem Engagement gearbeitet. Auch das findet breite Anerkennung.

Online-Redaktion: Welche Chancen bietet der Offene Ganztag?

Schulz: Dazu ist in den vergangenen zehn Jahren sehr viel gesagt worden. Ich möchte aus meiner Erfahrung drei Dinge hervorheben, ohne die Frage abschließend beantworten zu können. Erstens: Nach allem, was ich aus Befragungen von Kindern weiß, erlebt eine deutliche Mehrheit von ihnen den Offenen Ganztag für sich als Gewinn. Das ist ein ganz wichtiges Ergebnis und auch ein Kompliment an diejenigen, die den Offenen Ganztag vor Ort gestalten.

Zweitens: Kinder werden in der Offenen Ganztagsschule von verschiedenen Erwachsenen mit unterschiedlichen Kompetenzen begleitet. Das eröffnet mehr Chancen, ihre Bedürfnisse zu erkennen, Interessen zu fördern oder Probleme zu bearbeiten. Es gibt viele Beispiele in NRW, wo das gut funktioniert, weil Schule und Jugendhilfe zusammenarbeiten. Neben der ganz normalen Bildungsarbeit mit den Kindern sollte man hier auch an die Bereiche Prävention, Kinderschutz oder erzieherische Förderung denken.

Drittens: Die Einführung der Offenen Ganztagsschule hat in den Kommunen die Entwicklung unterstützt, dass Bildung auch außerhalb des Kita-Bereichs als Gestaltungsbereich kommunaler Politik aktiv wahrgenommen wird. Der Aufbau von Bildungslandschaften ist ein zentrales Politikfeld geworden, das ja beispielsweise vom Deutschen Städtetag forciert wird.

Online-Redaktion: Welchen Beitrag kann die Ganztagsschule zum Aufbau kommunaler Bildungslandschaften leisten?

Schulz: Im Grunde geht es bei der Bildungslandschaft ja um den Aufbau des sprichwörtlichen afrikanischen Dorfes, in dem es für die vielfältigen Bedarfe und Interessen von Kindern und Jugendlichen entsprechend abgestimmte Angebote gibt. Insofern in der Ganztagsschule bereits Schule, Jugendhilfe und weitere Bildungspartner zusammenarbeiten, ist sie natürlich ein ganz wichtiger Baustein der Bildungslandschaft.

Online-Redaktion: Sport- wie auch Musikvereine suchen nach Wegen, mit Ganztagsschulen zu kooperieren und dadurch auch den von manchen befürchteten Mitgliederschwund zu verhindern. Was raten Sie den Vereinen?

Schulz: In NRW sind Sport- und Musikangebote die mit Abstand häufigsten Ganztagsangebote, die überhaupt von Kooperationspartnern durchgeführt werden. Die Wege werden also schon überall gegangen. Es gibt viele kreative Wege, die Chancen zu nutzen, die sich aus der Zusammenarbeit ergeben. Da muss man Dinge auch ausprobieren und Erfahrungen sammeln. Das zeigt das Beispiel der Sportjugend in NRW, die sich für ein sogenanntes Mitgliedschaftsmodell einsetzt. Das heißt, in der Offenen Ganztagsschule werden Kinder, die am Angebot eines örtlichen Sportvereins teilnehmen, gleichzeitig Vereinsmitglieder. Die Kosten übernehmen die Träger des Angebotes.

Online-Redaktion: Wird Ganztagsschule eines Tages Normalität, ja selbstverständlich werden?

Schulz: Die Offene Ganztagsschule gehört in NRW bereits zur Normalität. Eine „Ganztagsschuldenke“, wie ein Kollege das nennt, ist aber noch nicht in allen Köpfen angekommen. Man hört ja auch immer wieder, dass es das Wort Ganztagsschule in anderen Sprachen nicht gibt. Die Halbtagsschule war der German Sonderweg. Vielleicht verschwindet eines Tages das Wort Ganztagsschule auch wieder aus unserem Wortschatz, weil man unter „Schule“ selbstverständlich ein ganztägiges, variables, mit vielfältigen Partnern gestaltetes und kommunal geprägtes, institutionalisiertes Bildungsangebot für Kinder und Jugendliche versteht.

Uwe Schulz ist Erziehungs- und Sozialwissenschaftler. Seit 2011 leitet er das Referat „Ganztagsbildung, Kulturelle Bildung in der Kinder- und Jugendhilfe“ im Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen. Zuvor war er von 2003 bis 2011 Mitarbeiter des Instituts für soziale Arbeit e.V.  – ISA in Münster, dort u.a. Mitglied des wissenschaftlichen Kooperationsverbunds zur Begleitung der Offenen Ganztagsschule im Primarbereich (bis 2009), Projektkoordinator im Bund- Länder-Programm bzw. Verbundprojekt „Lernen für den GanzTag“ (2004-2008). Ab 2008 war er im ISA  Bereichsleiter „Jugendhilfe und Schule” sowie stellvertretender Leiter der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ und schließlich von 2010 bis 2011 Geschäftsführer des ISA.

Seit 2009 haben auf www.ganztagsschulen.org regelmäßig Bildungsministerinnen und Bildungsminister in Interviews die Entwicklungen beim Ausbau der Ganztagsangebote in ihrem Land erläutert. Alle Interviews finden Sie in der Rubrik „Bildungpolitik: Interviews“.

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