Ganztag in Corona-Zeiten: „Schule unterm Brennglas“ : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

„Corona. Lernen und Arbeiten in der Pandemie“ heißt eine Sonderausgabe der Zeitschrift „Hamburg macht Schule“. Die berichteten Erfahrungen von Schulleitungen und Lehrkräften werden viele teilen.

Als im Frühling 2020 von einem auf den anderen Tag flächendeckend in Deutschland die Schulen schließen mussten, sahen sich Schulleitungen, Lehrkräfte, Eltern, Schülerinnen und Schüler mit einer beispiellosen Situation konfrontiert: Der Schulbetrieb musste weitergehen – aber nicht am Standort Schule. Wie konnten die Schulen Unterricht organisieren, wie mit den Schülerinnen und Schülern in Kontakt bleiben? Welche Rolle fiel den Eltern zu?

Broschüre Corona
© Behörde für Schule und Berufsbildung (BSB)

Die Sommerferien bescherten den Schulen dann eine wohl wie noch nie zuvor benötigte Zeit zum Durchatmen. Und den Herausgebern wie den Autorinnen und Autoren von „Hamburg macht Schule“ die Gelegenheit, eine erste Bilanz „Corona. Lernen und Arbeiten in der Pandemie“ zu ziehen. „Hamburg macht Schule“ richtet sich an Lehrkräfte und Elternräte. Themen der Zeitschrift sind üblicherweise „Unterrichtsentwicklung“ oder zuletzt „Internationale Bildungskooperation und Schüleraustausch“. Im aktuellen Doppelheft, das im August erschienen ist, geben nun Lehrkräfte, Schulleitungen, Eltern und eine Schülerin authentische Einblicke in die gegenwärtigen Herausforderungen. Ihre Erfahrungen dürften viele teilen.

Wie Prof. Dr. Josef Keuffer, Herausgeber und Direktor des Landesinstituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung, im Editorial schreibt: „Die Beiträge zeigen ein Stimmungsbild und sind zugleich erste Reflexionen auf diese Ausnahmesituation. Es ist erstaunlich, wie vielfältig die Schulen auf die Situation reagiert haben und wie sie mit den Herausforderungen umgegangen sind.“

„Schule unter dem Brennglas“

Die Berichte und Statements der unmittelbar Beteiligten offenbaren dabei nicht nur den Realismus, mit dem sie den Ernst der Lage anerkennen, sondern sind oft auch erfrischend humorvoll. So schreibt zum Beispiel Ulf Neebe, der Schulleiter des Gymnasiums Allee in Altona: „Erst einmal ging es darum, die Schülerinnen und Schüler nicht zu überfrachten und die Elternhäuser nicht in die Verzweiflung zu treiben.“

Immer wieder fällt die Wendung „Schule unter dem Brennglas“. Gemeint ist, dass es eigentlich um grundlegende Themen und Fragen der Schule geht, die sich jetzt nur deutlicher zeigen. So wird ein Lehrer hellhörig, als einer seiner besten Schüler über den Fernunterricht sagt: „Ich konnte endlich einmal in Ruhe lernen.“ Besonders aber zeigt das „Brennglas“ die unterschiedlichen Lernausgangslagen, Lernumgebungen oder Ausstattungen mit Lernmitteln der Schülerinnen und Schüler.

Goethe Gymnasium
Im Lockdown menschenleer wie alle Schulen: Goethe-Gymnasium © Lutz Hambach

Frank Scherler, Schulleiter des Goethe-Gymnasiums resümiert beispielsweise: „Unter dem Brennglas wurde schnell deutlich, wie verschieden die Voraussetzungen in den Familien tatsächlich sind. Diese Erkenntnis lässt sich auch als eine Art Bestätigung für Ganztagsschulen verstehen. Und auch die Errungenschaft der allgemeinen Schulpflicht als zentrale staatliche Aufgabe hat hier ihren Platz.“

Schule als Stabilitätsfaktor

In der Grundschule Appelhoff, in der die Kinder „von Haus aus nicht zu den Bildungsgewinnern gehören“, fiel besonders ins Gewicht, dass die pädagogisch durchdachten Angebote der gebundenen Ganztagsschule – vom Segeln übers Geige spielen bis zum „Bücher entdecken“ – plötzlich wegfielen. Denn die Schule „ist ein hoher Stabilitätsfaktor für die Kinder“, wie Schulleiter Stefan Kauder betont. Lehrerinnen und Lehrer riefen die Kinder jetzt zweimal wöchentlich zu Hause an oder brachten Lernmaterialien nach Hause. „Es bringt nichts, einem Schüler ein iPad in die Hand zu drücken, wenn es zu Hause kein WLAN gibt.“

Die Schulschließungen bedingten den engeren Austausch mit den Elternhäusern und sorgten auf allen Seiten für neue Einblicke: Eltern erhielten laut Schulleiter Frank Scherler mehr Einsicht in die Lerninhalte, Lehrkräfte bekamen mehr Feedback von Schülerinnen und Schülern. Dabei entstand auch neuer Respekt füreinander.

Appelhoff Schule
„... es gehen auch wichtige Sozialräume verloren“ © Claudia Pittelkow

Christian Lenz, Schulleiter des Kurt-Körber-Gymnasiums, berichtet: „Eine Schülerin aus der 6. Klasse (!) antwortete mir auf die Frage, wann sie zu Hause arbeitet, dass sie das immer morgens zwischen 7 und 9 Uhr macht. Als Grund dafür nannte sie ihre zwei Schwestern, mit denen sie sich das Zimmer teilt (...). So hat sie als Frühaufsteherin die Morgenstunden als Zeit zum Arbeiten entdeckt.“ An diesem und einem weiteren Beispiel fragt sich der Schulleiter beeindruckt, „woher diese beiden Schülerinnen die Kraft und Motivation zur Strukturfindung bekommen haben“.

Fernunterricht: „Selbstwirksamkeit entdecken“

Möglichkeiten zur „Binnendifferenzierung im Fernunterricht“ bilanziert Fabian Wehner, Lehrer für Deutsch, Religion und Geschichte am Gymnasium Blankenese. Er kommt unter anderem zu dem Schluss, dass die „Arbeit mit den leiseren und leistungsstarken Schülerinnen und Schülern“ von den Erfahrungen während des Fernunterrichts profitieren kann, auch mit jenen, „die uns sonst oft den Eindruck vermitteln, dass sie wenig Förderung brauchen“.

Erwähnenswert ist hier eine Randnotiz der Redaktion des Heftes: Wenn sie nämlich darauf hinweist, dass mit dem vielfach und unpräzise verwendeten Begriff „Homeschooling“ der „Fernunterricht“ gemeint ist. Denn die Verantwortung für den Unterricht und die Ausarbeitung der Aufgaben oblag auch in der Zeit der Schulschließungen weiter den Schulen, Schulleitungen und Lehrkräften.

Digitale Online-Portfolios erläutert Dr. Tobias Schlegelmilch, Mathematik- und Physiklehrer am Gymnasium Klosterschule in seinem Beitrag, mit dem Fokus auf „lernförderlichen Rückmeldungen“: „Durch schnelles, individuelles und prozessbezogenes Feedback werden demotivierende Fehlschläge beim Einsatz von offeneren Aufgaben vermieden, Schülerinnen und Schüler gewinnen an Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeitserfahrungen, und sie erweitern ihre Kompetenzen zum selbständigen Lernen.‟ Viele Schülerinnen und Schüler seien in dieser Zeit „über sich selbst hinausgewachsen und haben gelernt, in hohem Maße selbstverantwortlich und eigenständig zu lernen“.

„Juhu – schulfrei? Ach nee ...“

Tagebuch
Tagebuch in Bildern einer Schulleiterin © Pia Brüntrup / Gymnasium Hoheluft

Die Elternsicht fällt nicht nur in verschiedenen Schulen, sondern auch an ein- und derselben Schule höchst unterschiedlich aus. Von „Doppelbelastung“ und „Lehrkraftersatz“ ist die Rede, von der Schwierigkeit, als Eltern zu reagieren, wenn die Motivation beim Kind nachlässt. Psychische Folgen aufgrund mangelnder Sozialkontakte werden angeführt. „Ich hoffe, den Entscheidungsträgern ist sehr bewusst, was den betroffenen Familien abverlangt wird“ schreibt ein Elternteil pointiert.

Andere bilanzieren: „Die Schule hat die vollkommen unerwartete Aufgabe gut gemanagt.“ Lehrkräfte haben „den Kontakt mit den Kindern gehalten, die Arbeiten für Kinder (und Eltern) gut strukturiert und unterschiedlichste Aufgabenformate gewählt“ oder „durch eigene oder von Dritten erstellte Videoformate auf öffentlich zugänglichen Plattformen unterstützt“. „Bei etwaigen Fragen bestand zu jedem Zeitpunkt auch die Möglichkeit eines direkten Kontakts mit den Lehrkräften.“ Die Elternratsvorsitzende der Grundschule Appelhoff lobt die Homepage ihrer Schule: „Sie war immer auf dem neuesten Stand. Wir Eltern wussten zu jeder Zeit, woran wir sind.“

Die ambivalente Sicht von Schülerinnen und Schülern auf die Zeit des Fernunterrichts spiegelt schon die Überschrift des Beitrags einer Schülerin aus dem Friedrich-Ebert-Gymnasium: „Juhu – schulfrei? Ach nee ...“. Sie bewertet die Zeit sehr differenziert und resümiert dann optimistisch: „Wir haben gelernt zusammenzuhalten.“

Kommunikation aufrechterhalten

Paul Richter, Schulleiter der Grundschule Klein Flottbeker Weg widmet sich wiederum den „Informations- und Kommunikationsstrukturen“ innerhalb der Schule, denn „es war wichtig, den Zusammenhalt in der Schulgemeinschaft durch verlässliche Informations- und Kommunikationsstrukturen aufrechtzuerhalten“. Die Kommunikation reichte von Telefonanrufen und E-Mails über Postkarten, Sprachnachrichten, Hausbesuche mit Gesprächen über den Gartenzaun bis zum eigens eingerichteten YouTube-Kanal.

Für die Kommunikation mit Eltern, Schülerinnen und Schülern waren Lehrerinnen und Lehrer sogar bereit, private Telefonnummern und E-Mail-Adressen herauszugeben. „Die Kollegen waren sich der Problematik sehr bewusst, aber nicht mehr erreichbar zu sein, war auch keine Lösung“, so Katharina Willems von der Stadtteilschule Stellingen. Doch jetzt ständig von morgens bis abends und in den Ferien für alle erreichbar zu sein, war auch eine gewisse „Zumutung“.„Die in einigen Medien geführte Diskussion über das angebliche Versagen von Lehrkräften während der Corona-Krise“ geht daher für Katharina Willems und Schulleiter Bernd Mader „in eine völlig falsche Richtung“.

Bernd Mader
Schulleiter Bernd Mader © Claudia Pittelkow

Wie manches Kollegium die Zeit außerdem genutzt hat, zeigt das Beispiel der Grundschule Appelhoff: Als der Caterer seinen Dienst einstellen musste, „griffen Lehrer, Erzieher und das Schulleitungsteam kurzerhand selbst zum Kochlöffel“, um die Versorgung in der Notbetreuung zu gewährleisten. Und nicht nur das: „Als wir mitbekommen haben, dass Kinder zu Hause teilweise schlecht essen oder auch unregelmäßig, haben wir die Mensa aufgemacht. (...) Und jetzt kommen die Eltern mit ihren eigenen Gefäßen vorbei und holen sich das Essen ab.“

Das Doppelheft enthält noch mehr Erfahrungen, die viele – auch außerhalb der Stadt Hamburg – gewiss teilen werden. Es ist daher in jeder Hinsicht empfehlenswert!

Ein herzliches Dankeschön an die Redaktion „Hamburg macht Schule“ sowie an Lutz Hambach, Pia Brüntrup und Claudia Pittelkow, die für diesen Beitrag freundlicherweise Fotos zur Verfügung gestellt haben!

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