Ganztag in Berlin: Immer auf Achse : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Annekathrin Schmidt leitet die Serviceagentur „Ganztägig lernen“ in Berlin. Im Interview berichtet sie, welche Bedeutung die Serviceagentur seit 15 Jahren für Berliner Ganztagsschulen hat und welche neuen Vorhaben es gibt.

Annekathrin Schmidt
Annekathrin Schmidt: „nach vorne geschaut und Visionen entwickelt“ © DKJS

Online-Redaktion: Jubiläen sind häufig Anlass, „strahlend“ die Vergangenheit zu beleuchten. Galt das für den Festakt zum 15-jährigen Bestehen der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Berlin auch?

Annekathrin Schmidt: Wir haben uns nicht nur getroffen, um uns gegenseitig auf die Schultern zu klopfen, obwohl es dafür natürlich ausreichend Gründe gibt. Nein, wir haben nach vorne geschaut, Herausforderungen benannt und Visionen entwickelt – unter dem Fokus einer kinder- und jugendgerechten Ganztagsschule.

Aber es herrschte doch fast eine Atmosphäre wie bei einem Klassentreffen. Man begegnete jenen, mit denen man eng und regelmäßig zusammenarbeitet, und anderen, die man vielleicht eine Weile nicht gesehen hat, aber die eine tragende Rolle bei der Ganztagsentwicklung des Landes Berlin haben. Wir alle stellten fast ein wenig staunend fest, was aus dem kleinen Team am Start doch für eine stattliche Serviceagentur mit nunmehr immerhin 13 Mitarbeitenden geworden ist.

Online-Redaktion: Was Ihre „Ehrengäste“ sicher zu würdigen wussten?

Schmidt: Wir betrachten ihre Grußworte als kleine Geschenke zum Jubiläum. Natürlich freuen wir uns, dass Ines Rackow, die Ganztagsschulreferentin des Landes Berlin, die Serviceagentur als feste Instanz und wertvolle Gesprächspartnerin schätzt. Oder wenn die Geschäftsführerin der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, Dr. Heike Kahl, betont, dass die Stiftung, die die Serviceagenturen „Ganztägig lernen“ mit ins Leben gerufen hat, als langfristige Projektbegleiterin an der Seite der Ganztagsschulentwicklung steht.

Online-Redaktion: Wo steht die Ganztagsentwicklung in Berlin?

Schmidt: Dass wir als Land Berlin quantitativ extrem viel erreicht haben, steht außer Frage. 89 Prozent der Berliner Schulen sind Ganztagsschulen, man kann von einem flächendeckenden Ausbau sprechen. Aber um in der von der Serviceagentur entwickelten Symbolik „Immer auf Achse“ zu bleiben: Es gibt und muss weiter viel Bewegung geben, um die durchaus noch vorhandenen Baustellen fertigzustellen.

Online-Redaktion: Konkret heißt das?

Spiel
Antje Ipsen-Wittenbecher und Daniela Wellner-Petsch (Mitte) haben die Serviceagentur geprägt. © DKJS

Schmidt: Die zunehmende Verbreitung des Ganztags sagt noch nichts darüber aus, ob die Schulen auch gute Schulen sind. Ich erinnere an ein Zitat des Leiters des Deutschen Jugendinstituts, Prof. Dr. Thomas Rauschenbach. Er hat 2016 geschrieben: „Im Mittelpunkt muss die Perspektive der Schulkinder stehen: Erst wenn sie gerne und freiwillig die außerunterrichtlichen Angebote am Nachmittag nutzen, ist ein erster Schritt zum Erfolg getan. Und wenn dies dann darüber hinaus noch auf den Unterricht abstrahlt, kann die Ganztagsschule wirklich zu einer ‚neuen’ Schule werden.“ Dem gerecht zu werden – und das nicht nur am Nachmittag –, das betrachten wir als die wesentliche Herausforderung. 

Online-Redaktion: Auch darüber wurde beim Festakt detaillierter gesprochen?

Schmidt: Zwei Dinge waren für uns sehr hilfreich. Zum einen die Keynote von Prof. Dr. Silvia-Iris Beutel von der TU Dortmund. Sie hat noch einmal verdeutlicht, wie wichtig die Qualität etwa in der Unterrichtsgestaltung, bei Leistungsbewertungen oder der Partizipation für Ganztagsschulen ist. Die Kernfrage lautet: Was tut den Schülerinnen und Schülern gut? Und die Schülerinnen und Schüler kamen durch Petar Lolovic, einen Klassensprecher des Gottfried-Keller-Gymnasiums, zu Wort. Auch er hat Impulse gesetzt, mit sechs Thesen. Sie gipfelten im Fazit, dass Schülerinnen und Schüler das Recht brauchen, die Zeit im Ganztag mitzugestalten, wenn die Schulen eine Art „zweites Zuhause“ darstellen.

Das heißt, dass die Kollegien die Schülervertretung anerkennen müssen, dass Schülerinnen und Schüler ihre Meinungen offen äußern können und dass sie mehr Mitsprache bei der Unterrichtsgestaltung haben möchten. Darüber hinaus wünscht er sich, dass Schulleitungen offen für Schülerbeteiligung sind, dass Schülerinnen und Schüler Kontakt zu Personen außerhalb der Schule benötigen, um berufliche Vorbilder zu haben, und schließlich, dass Schülerinnen und Schüler immer auch freiwillige Arbeitsgemeinschaften nutzen zu können.

Online-Redaktion: Klare Wünsche, die Sie unterstützen?

Schmidt: Die Bedeutung einer kinder- und jugendgerechten Ganztagsschule ist ja allen bewusst und wurde während unseres kleinen Festaktes nur noch einmal unterstrichen. Wir haben uns an diesem Abend dann in kleinen Gruppen intensiv gerade mit den Thesen des Schülervertreters auseinandergesetzt und abgewogen, welchen Aspekten wir uns am intensivsten widmen wollen. Auch wenn sich dabei keine Einheitlichkeit herauskristallisierte, können wir doch festhalten, dass die Notwendigkeit offener Meinungsäußerung der Schülerinnen und Schüler und der Wunsch nach mehr Mitsprache bei der Unterrichtsgestaltung die größte Zustimmung fanden. Dem wollen wir mit unserer künftigen Arbeit verstärkt Rechnung tragen. Es bedarf eines umfassenden Blickes auf Kinder und Jugendliche, und es braucht verschiedene Bildungsangebote und -gelegenheiten, formal, non-formal und informell, um die Kinder und Jugendlichen in ihren jeweiligen Stärken und Fähigkeiten zu unterstützen.

Schülerinnen und Schüler im Schulunterricht
© Britta Hüning

Online-Redaktion: Welche Themen sind in Bezug auf den Ganztag in Berlin aus Ihrer Sicht zurzeit besonders präsent?

Schmidt: Ein Stichwort sind die Räumlichkeiten. In einer verdichteten Stadt wie Berlin ist es natürlich schwer, an Schulen die Räume zu schaffen, die eigentlich erforderlich sind, um einen qualitativ hochwertigen Ganztag umzusetzen. Ein Thema, das damit zusammenhängt, ist die Einführung des beteiligungsfreien Mittagessens  seit diesem Schuljahr. Eltern von Grundschülerinnen und -schülern haben für das Mittagessen in der Schule keine Kosten mehr. Die Zahl der Kinder, die in der Schule essen wollen, ist seither in einigen Schulen, besonders der westlichen Bezirke, sprunghaft gestiegen. Es existieren jedoch häufig keine entsprechenden Mensen, die diesem Andrang gerecht werden, sodass kurzfristige Lösungen notwendig sind.

Online-Redaktion: Wie kann die Serviceagentur die Schulen hier unterstützen?

Schmidt: Aus der Perspektive der Qualitätsentwicklung von Ganztagsschulen ist die Einführung des beteiligungsfreien Mittagessens ein wichtiger Impuls, weil damit auch wesentliche ganztagsspezifische Punkte berührt werden, sei es der Kinder- und Jugendorientierung, der Raumgestaltung, der Rhythmisierung oder der Kooperation der Professionen. Der Aspekt Ernährung ist einer der Gestaltungsbereiche einer guten und gesunden Ganztagsschule. Eine an den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler orientierte, ausgewogene Ernährung ist wichtig für die gesunde Entwicklung und die konzentrierte Teilnahme am Schulalltag. Das wird vor allem durch die Vernetzungsstelle Kita- und Schulverpflegung in Berlin unterstützt.

Als Serviceagentur „Ganztägig lernen“ schauen wir einerseits in Regionalen Werkstätten mit den Schulteams aller Schulen der Berliner Bezirke und den jeweiligen Schulaufsichten nach erprobten Modellen und Ansätzen. Wir haben einen Rahmen geschaffen, diese miteinander zu teilen. Auf dem Fachtag „(K)ein Platz zum Essen“ im Mai erhielten die Schulen einen vertieften Einblick in alternative Raumnutzungskonzepte. In allen Angeboten arbeiten wir als Serviceagentur prozessorientiert und setzen bei der Veränderung von pädagogischen Konzepten an. Wir unterstützen Schulen kurzfristig, Lösungsansätze zu entwickeln, und laden sie ein, mittelfristig und langfristig das beteiligungsfreie Mittagessen als Entwicklungschance ihres ganztägigen Bildungskonzeptes zu sehen.

Dr. Heike Kahl
Dr. Heike Kahl © DKJS

Online-Redaktion: Haben sich die Aufgaben der Berliner Serviceagentur insgesamt gewandelt?

Schmidt: Von Beginn an haben wir eng mit den Schulen gearbeitet, haben sie dabei unterstützt, den Ganztag aufzubauen und weiterzuentwickeln. Wir waren hier Serviceagentur im wahrsten Sinne des Wortes, das heißt, wir haben unsere Angebote an den Bedürfnissen der einzelnen Schule entwickelt. Diesen Strang verfolgen wir natürlich auch weiterhin. Doch ein zweiter ist dazugekommen. Heute und in Zukunft sind wir noch stärker die Partnerin der Bildungsverwaltung, wenn es darum geht, welche Maßnahmen die Steuerungsebene entwickeln muss, um die Akteure im Ganztag zu unterstützen.

Online-Redaktion: Was auch bedeutet, die Standards weiterzuentwickeln?

Schmidt: Ja. Aktuell existieren unterschiedliche Qualitätspapiere. Es gibt aber auch verschiedene Finanzierungsmodelle für die verschiedenen Schularten. Wir werden gemeinsam mit dem LISUM, dem Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg, das Land dabei unterstützen, einen schulartenübergreifenden Qualitätsrahmen für Ganztagsschulen zu entwickeln.

Online-Redaktion: Werfen wir einen Blick in die Zukunft. Wo stehen die Serviceagentur und die Ganztagsentwicklung in Berlin in fünf Jahren?

Schmidt: Was uns als Serviceagentur angeht, freuen wir uns über die Entscheidung des Landes Berlin, die Serviceagentur weiter zu fördern. Das bedeutet, dass wir die Ganztagsschulentwicklung auch künftig begleiten werden. Wenn es uns gemeinsam mit allen Akteuren gelingt, die Qualität der Ganztagsangebote, beispielsweise mit noch mehr Rhythmisierung und weniger additiven Modellen, aber auch einer Verbesserung der multiprofessionellen Teamarbeit nach innen und außen, zu unterstützen, werden wir in fünf Jahren hoffentlich wieder ein sehr positives Fazit ziehen können. Und trotzdem immer weiter auf Achse bleiben.

Die regionalen Serviceagenturen „Ganztägig lernen“ in den Ländern, die Austausch, Vernetzung und Fortbildung der Ganztagsschulen, unterstützen, wurden 2005/2006 im Rahmen des Programms „Ideen für mehr! Ganztägig lernen“ der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung gegründet. Alle Interviews finden Sie in der Rubrik „Ganztagsschule in den Ländern“.

Über die bildungspolitischen Ziele in den Ländern berichten die Kultusministerinnen und Kultusministern in Interviews: https://www.ganztagsschulen.org/de/2645.php. Aus den Kommunen kommen Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sowie Landrätinnen und Landräte zu Wort.

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