"Ganz! Schön! Anders?" – Hessischer Ganztagskongress : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Kurzweilig, informativ und im wahrsten Sinne des Wortes bewegend – so erlebten mehr als 200 Teilnehmende den Kongress „Ganz! Schön! Anders? Ganztagsschule – Potenziale erkennen, Perspektiven entwickeln“ am 6. Oktober in Wetzlar.

Wer Prof. Dr. Haci-Halil Uslucan noch nie lauschen konnte, wenn er über „Verkannte Talente und Potenziale bei Schülerinnen und Schülern mit Zuwanderungsgeschichte“ referiert, der sollte es schnellstens nachholen. Darin jedenfalls war sich die große Mehrheit der Kongressgäste in der Wetzlarer Stadthalle einig. Uslucan gelingt es immer wieder, seine hohe Fachlichkeit in anschauliche Sprache und Beispiele zu kleiden. So auch dieses Mal.

Hessischer Ganztagskongress
Prof. Dr. Haci-Halil Uslucan (l.), Jürgen Wrobel (r.) © Reinhart Bartsch/Serviceagentur Hessen

Eindrucksvoll schilderte er, wie Kinder aus Zuwandererfamilien trotz eindeutig vorhandener Talente immer wieder verkannt und daher auch nicht entsprechend gefördert würden. Ihr Anteil in Hochbegabtenprogrammen Deutschlands – ähnlich wie in angelsächsischen Staaten – beträgt nach Studien der Begabungsforscherin Margit Stamm zwischen vier und neun Prozent, während ihr realer Anteil in der Bevölkerung zwischen 20 und 30 Prozent liegt. „Eine klare disproportionale Verteilung also, die wir uns weder im Interesse der Gesellschaft noch schon gar im Interesse des Einzelnen leisten können“, betonte der Professor der Universität Duisburg-Essen.

Er räumte ein, dass es unabhängig vom Zuwanderungsaspekt auch andere Gruppen in der Gesellschaft gebe, deren Potenziale ebenfalls zu wenig erkannt würden. So scheine es nach wie vor so zu sein, dass die Fähigkeiten hochbegabter Mädchen seltener erkannt und gewürdigt würden, als dies bei Jungen der Fall sei. Dies gelte auch für hochbegabte Kinder mit körperlichen Behinderungen. „Ihre körperliche Behinderung wird vielfach als eine so dominante Einschränkung wahrgenommen, dass die außergewöhnliche Begabung des Kindes zu wenig gesehen werden kann“, erklärte Uslucan.

Die Frage nach dem „Purzelbaum“

Die Fehleinschätzungen gegenüber Hochbegabtenpotenzialen von Migranten werde mitunter durch eine falsche Selbsteinschätzung der Betreffenden und ihrer Familien verstärkt. „Eltern von hochbegabten Kindern erkennen das Potenzial häufig nicht, andere wissen wiederum nicht, wie sie ihre Kinder entsprechend fördern können.“ Uslucan beklagte die nach wie vor praktizierte Praxis sprachgebundener Wissenstests. Spreche ein Kind noch nicht gut genug Deutsch, verzerrten sie die Erkenntnisse über seine tatsächlichen Potenziale. Und nannte ein aussagekräftiges Beispiel: Die Frage, wie lange es wohl benötige, um einen Purzelbaum zu schlagen, beantwortete ein türkisches Kind mit: "Etwa eine Stunde". Die Frage hatte es veranlasst, darüber nachzudenken, wie lange es dauern würde, einen mittelgroßen Baum zu fällen. Das deutsche Wort "Purzel" war ihm nicht bekannt, der Begriff "Baum" dagegen sehr wohl. Es war demnach sehr gewitzt und lag trotzdem mit der Antwort falsch. Nach einer kurzer Erläuterung in seiner Muttersprache beantwortete das Kind die Frage schnell und richtig.

Uslucans Schlussworte glichen fast schon einem freundlich formulierten Appell: „Ein gravierendes Ergebnis der Verkennung von Potenzialen ist natürlich eine individuelle Benachteiligung. Menschen, die ein hohes Potenzial haben, aber dieses nicht umsetzen können, werden an ihrem Recht auf freie Entfaltung gehindert. Bei Zuwanderern hat das auch Auswirkungen auf gesellschaftliche Integrationsprozesse und soziale Akzeptanz. Wir haben hier eine Chance, das Image dieser Gruppe positiv zu ändern, wenn wir auch stärker ihre Potenziale erkennen.“

Bewegende Momente

Nach so viel geballten und nachdenklich stimmenden Erkenntnissen – „Ich werde künftig noch anders auf meine Kinder schauen“, so eine erfahrenen Lehrerin – und intensivem Austausch über das Gehörte, entführten die Kongressgastgeber, das Hessische Kultusministerium und die Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Hessen, ihre Gäste in 30minütige Bewegungs- und Entspannungsworkshops.

Hier sah man beispielsweise eine Gruppe beim Aktiven Gehirntraining („Die Klügeren bewegen sich“), dort eine, die sich bei Jonglage, Snakeboard oder Xlider locker machte. Alles natürlich mit dem Hintergedanken: „Lockern wir unseren Schulalltag und Unterricht auf und geben Kindern Raum für Entspannung, dann wirkt sich das positiv auf ihre Leistungsbereitschaft, ihr Denkvermögen und ihren Lernerfolg aus.“

Kommentar eines jungen Pädagogen: „Wenn man das einmal selbst gemacht hat, spürt man die positiven Folgen viel besser, als wenn man das in einem Referat hört.“ Und fügte schmunzelnd hinzu: „Dicker Pluspunkt für die Organisatoren des Kongresses für diesen bewegenden Moment.“

Zeit und Raum nutzen

Dass es am Nachmittag in einem der Praxisworkshops auch um Bewegung in der Schule ging, war sicher kein Zufall. Alexander Jordan von der Zentralen Fortbildungseinrichtung für Sportlehrkräfte des Landes Hessen machte deutlich, dass Bewegung Schülerinnen und Schüler in ihren Lernprozessen wirkungsvoll unterstützt. Und er vermittelte, dass Lehrkräfte bewegungsfördernde Elemente in Lehrprozessen als entlastend empfinden. Jordan: „Damit ermöglichen lernbegleitende und lernerschließende Bewegungsphasen eine gelingende Unterrichtsentwicklung.“

Gerade mit Blick auf die mittägliche eigene Bewegungserfahrung (vor dem durchaus nicht nur kalorienarmen Mittagessen) meinte ein Workshop-Teilnehmer: „Das ist es eigentlich, was Ganztagsschulen ausmachen sollte. Sie sollten Zeit und Raum nutzen, um solche Erkenntnisse im Schulalltag umzusetzen.“ Selbstkritisch aber merkte er an: „Auch ich ertappe mich immer wieder, noch viel zu sehr darauf zu achten, ob ich denn mit meinem Programm, sprich Vermitteln von Lerninhalten, ‚durchgekommen’ bin.“

Kinder auf Stelzen
© Britta Hüning

Die im Workshop exemplarisch genannten, leicht umsetz- und anpassbaren Spiele, Übungen und Methoden sowie die vorgestellten guten Praxisbeispiele, Informationen über Fortbildungs- und Beratungsangebote sowie Anregungen für bewegungsfördernde Schulvorhaben werden ihm auf diesem Weg sicher hilfreich sein.

Selbstsicherheit und Selbstvertrauen stärken

Nicht minder interessant ging es im Workshop „Einführung in Traumafolgestörungen und Beispiele stabilisierender Maßnahmen für den pädagogischen Alltag mit Flüchtlingskindern“ zu. Hinter dem etwas sperrigen Titel verbargen sich konkrete und das Individuum in den Blick rückende Aspekte. Birgit-Marie Stoewer ist „vom Herzen“ Erzieherin und zugleich Dozentin an der Fachschule für Sozialwesen in Kassel. Sie engagiert sich in der Initiative START für die psychosoziale Betreuung von Flüchtlingsfamilien.

Für sie ist klar: „Nicht alle Flüchtlingskinder sind traumatisiert. Aber alle leiden unter einer starken Verunsicherung.“ Stoewer macht es an einem Beispiel deutlich. Schon ein Schulwechsel bedeute für viele Kinder Stress. „Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie sind geflohen, kommen in ein fremdes Land…“, sagt sie. Und blickt zugleich optimistisch voraus: „Die Ganztagsschule bietet besondere Chancen, solchen Kindern neue Selbstsicherheit, Zutrauen zu sich selbst zu geben und ihre Konzentrationsfähigkeit zu steigern.“ Warum? „Weil hier auch einmal in kleineren Gruppen konzentriert mit dem Kind gearbeitet werden kann. Weil hier die Chance besteht, mit ihm, unabhängig von der Sprache, durch Gemeinschaftserlebnisse, Bewegung und Kreativität (Malen) in Kontakt zu kommen, seine Interessen kennenzulernen und zu fördern.“

Von Therapeuten und Lehrern...

Um Förderung, vor allem aber auch den Blick aufs einzelne Kind ging es auch im Workshop „Vom Verstehen zum Handeln – Überlegungen zum Umgang mit psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen in der Schule“. Als Kinderarzt weiß Michael Weckesser vom Klinikum Kassel um die Herausforderung für Schulen. Doch er macht Mut, indem er vor Überforderung warnt: „Lehrer sind keine Therapeuten, und wir sind keine Lehrer.“ Im Klinikum Kassel möchte man Brücken bauen, auch zu den Eltern betroffener Kinder. Im Klinikum werden sie therapeutisch behandelt, in der angegliederten Schule für Kranke in Kleingruppen auf die Rückkehr in die Regelschule vorbereitet.

Hessischer Ganztagskongress
© Reinhart Bartsch/Serviceagentur Hessen

Woran aber können Lehrerinnen und Lehrer erkennen, dass ein Kind ein psychisches Problem hat? Weckesser gibt drei Hinweise: Hohe und fortlaufende Schulfehlzeiten, stärkere Verwicklung in Konflikte als andere Kinder, kritische Leistungsknicks. Erkennt eine Lehrkraft solche und ähnliche Symptome, sollte sie sich mit Kollegen austauschen. „Das geht in der Ganztagsschule, weil dort unterschiedliche Professionen mit unterschiedlichen Sichtweisen zusammenarbeiten, natürlich besonders gut“, meint er. Sehen es die Kollegen ähnlich, sollte die Schule Kontakt zur Familie suchen, zugleich aber auch auf Beratungs- und Unterstützungsmöglichkeiten hinweisen.

Auch in diesem Workshop spürte man die Nachdenklichkeit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die eine Pädagogin so auf den Punkt brachte: „Er hat Recht. Wir können gerade in der Ganztagsschule den Blick noch mehr aufs einzelne Kind richten und sein Interesse möglicherweise durch andere Angebote wecken.“

 

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