Boom im hohen Norden : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

"Boom" und "Erfolgsprogramm" sind die Worte, die aus dem Kieler Kultusministerium in Sachen Ganztagsschule vermeldet werden. In ganz Schleswig-Holstein ist die Nachfrage der Schulen, Ganztagsschulen zu werden, ungebrochen: Allein in diesem Jahr sind 112 dazugekommen. Die Anträge auf Förderung im nächsten Jahr übersteigen die zur Verfügung stehenden Mittel bereits um ein Vielfaches.

Flagge von Schleswig-Holstein

Im Jahr 2020 wird die Zahl der Schülerinnen und Schleswig-Holstein um rund ein Drittel geringer sein als zurzeit. "Wie dann unsere Schullandschaft aussehen wird, kann jetzt noch niemand wissen", meint Jürgen Nowottny, der frisch gekürte neue Vorsitzende des Ganztagsschulverbandes Schleswig-Holstein. Doch bereits in der Gegenwart verändert sich einiges in der Bildungslandschaft im hohen Norden. "Wir haben 40 Prozent Alleinerziehende hier bei uns in Bargteheide", erzählt Nowottny, der Lehrer an der Anne Frank-Gesamtschule ist. "Da ist die Bedarf an ganztägiger Betreuung hoch. Die Eltern wollen ja nicht, dass ihre Kinder auf der Straße rumhängen."

Neben dieser gesellschaftspolitischen Begründung für die Nachfrage nach Schulen mit ganztägigen Angeboten spielt auch die demographische Entwicklung bereits eine Rolle. Auf der Ostsee-Insel Fehmarn hat der Schulträger gerade vor diesem Hintergrund Pläne über die Umgestaltung der Schullandschaft weg vom vielgliedrigen System hin zu einer "Schule für alle", wie Kultusministerin Ute Erdsiek-Rave diese Form bezeichnet, entworfen. Diese am finnischen System orientierte Schule, in der alle Schülerinnen und Schüler bis zur neunten Klasse gemeinsam lernen, würde ebenfalls ganztägige Angebote machen.

"Wir begrüßen es natürlich, wenn sich die Verantwortlichen vor Ort Gedanken über die Zukunft ihrer Schulstandorte machen", erklärt Jens Oldenburg, der Pressesprecher des Kultusministeriums. "Die Vertreter sind bei uns im Ministerium gewesen, um ihre Pläne vorzustellen, und jetzt muss das Konzept genauer betrachtet werden." Während die Einführung der "Schule für alle" aktuell nicht zu erwarten steht, ist die Ganztagsschule laut Oldenburg bereits ein "Erfolgsprogramm": "Die Nachfrage ist ungebrochen hoch, wie sich an den Anträgen zeigt."

Schulträger beteiligen sich an Kosten

Insgesamt gibt es laut Kultusministerium aktuell 134 Offene und 23 Gebundene Ganztagsschulen. Davon sind 112 im Kalenderjahr 2004 neu dazugekommen. In Schleswig-Holstein beantragt der Schulträger im Einvernehmen mit der Schule beim Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur die Einrichtung einer Offenen Ganztagsschule unter Beifügung einer inhaltlichen Konzeption, die in das Schulprogramm aufgenommen wird. Die Zustimmung der Schulkonferenz sowie das Einvernehmen mit dem örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe sind im Laufe des Genehmigungsverfahrens nachzuweisen. Für die Genehmigung ist eine Stellungnahme des zuständigen Schulamtes - bei Gymnasien und Gesamtschulen der zuständigen Schulaufsicht - erforderlich. Der Antrag kann zusammen mit einem Antrag auf Finanzhilfe aus dem Investitionsprogramm des Bundes "Zukunft Bildung und Betreuung" gestellt werden. Für dieses Jahr stehen dem Land rund 33 Millionen Euro aus dem Programm zur Verfügung.

Insgesamt erhält Schleswig-Holstein 135 Millionen Euro bis zum Jahr 2007 aus dem Investitionsprogramm. Mit diesen Mitteln werden ausschließlich bauliche Maßnahmen gefördert. Voraussetzung ist , dass der Schulträger ein auf Dauer angelegtes inhaltliches Konzept vorlegt und sich an den Investitionen mit mindestens zehn Prozent beteiligen. Die Betriebskosten Offener Ganztagsschulen können zum Teil ebenfalls aus Landesmitteln aufgrund der "Richtlinie zur Förderung von Betreuungsangeboten an Grund- und Förderschulen", der "Richtlinie zur Förderung von Betreuungsangeboten an Verlässlichen Grundschulen" und der "Richtlinie über Förderung von Ganztagsangeboten an Schulen" gefördert werden. Es sind Zuschüsse von bis zu 30.000 Euro je Schule und Schuljahr möglich. Im Haushalt 2004 sind dafür etwa 1,5 Millionen Euro und im Haushalt 2005 etwa 1,8 Millionen Euro vorgesehen.

"Die Zahlen sprechen für sich"

Es sind hauptsächlich die Offenen Ganztagsschulen, die vom Land gefördert werden. "Es ist vorteilhaft, wenn die Angebote freiwillig sind", meint Jens Oldenburg zur Akzeptanz der Ganztagsschule. "Die Zahlen sprechen ja für sich: Die offene Form findet in den Kommunen den größeren Anklang." Die Anmeldung einer Schülerin und eines Schülers für die offene Ganztagsschule ist für die Dauer eines Schuljahres verbindlich. Alle allgemeinbildenden Schulen und Sonderschulen können Offene Ganztagsschulen werden. Bei den Gymnasien und Gesamtschulen wird jedoch nur die Sekundarstufe I berücksichtigt. Der Zeitrahmen umfasst an mindestens drei Wochentagen mindestens sieben Zeitstunden. "Die offenen Ganztagsschulen bieten auch die beste Möglichkeit, Kooperationspartner in die Schulen zu holen", so Oldenburg.

Das Bildungsministerium unterstützt diese Kooperationen. So wurden mit dem Landessportverband Schleswig-Holstein, dem LandFrauenVerband, dem Landesverband der Volkshochschulen sowie zuletzt am 20. August 2004 mit dem Landesmusikrat Rahmenvereinbarungen abgeschlossen. "Immer mehr Partner beteiligen sich aktiv am Schulleben", erklärte Bildungsministerin Ute Erdsiek-Rave. Die Zusammenarbeit mit dem Landesmusikrat sei eine große Bereicherung: "Hierdurch können wir zusätzlich zum regulären Musikunterricht an den Schulen die Angebote an musischer Bildung ausbauen." Solche Vereinbarungen schaffen für die Schulen und Vereine einen Rahmen, in dem sie verbindliche Kooperationsverträge vor Ort abschließen können. Das Land unterstützt auch die laufenden Kosten der außerunterrichtlichen Angebote durch finanzielle Zuschüsse.

An der Anne Frank-Gesamtschule in Bargteheide ist die Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern der offenen Jugendarbeit im "Bargterheider Modell" quasi instutionalisiert worden. "Wir sind da ein bisschen vorgeprescht", erzählt Jürgen Nowottny, "aber da alle Fraktionen im Rat sich hinter das Modell gestellt haben, gab es bei uns keine Grabenkämpfe." Er fügt hinzu: "Wir wissen, dass das nicht überall so gut funktioniert."

Kooperation statt Konkurrenz

Mit der Entstehung der Anne-Frank-Schule als Integrierter Gesamtschule mit Ganztagsbetrieb wurde das so genannte Ganztagszentrum errichtet. Dieser Schulerweiterungsbau umfasst einen Mensabereich, einen Mehrzwecksaal mit Bühne sowie verschiedene Gruppen- und Werkfachräume für den Ganztagsbetrieb und ist örtlich unmittelbar an die Schule angebunden. Politischer Konsens bestand seit Beginn der Planungsphase darin, dieses baulich umfassender zu planen und personell so auszustatten, dass sich das Ganztagszentrum zu einer Vernetzungsschnittstelle zwischen allen im städtischen Schulzentrum angesiedelten Schulen, der Schulsozialarbeit und der offenen städtischen Freizeitjugendarbeit entwickeln konnte.

Mit Fertigstellung des Ganztagszentrums als Bindeglied zwischen schulischer und außerschulischer Jugendarbeit wurden alle pädagogischen Kräfte der städtischen Jugendarbeit gebündelt und zum Jahresbeginn 2000 unter dem neu gebildeten Dach des Jugendarbeitsteams organisatorisch zusammengefasst. Das im Zentrum eingerichtete Büro dient als Koordinationsstelle für die Vernetzung von Jugendhilfe und Schule. Neben zwei Schulsozialpädagogen gehören zum Jugendarbeitsteam ein weiterer Sozialpädagoge, zwei Erzieherinnen, eine sozialpädagogische Assistentin und ein Hausmeister für das Ganztagszentrum sowie derzeit elf freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die als Übungsleiterinnen und -leiter ehrenamtlich oder gegen eine geringe Aufwandsentschädigung die Gruppenarbeit ermöglichen. Als ein Grundsatz der pädagogischen Arbeit gilt die Maxime zur gezielten Vernetzung mit anderen Institutionen des Jugendbildungssektors nach dem Motto: "Kooperation statt Konkurrenz" und "Ergänzung statt Verdrängung".

Schulamt von Anträgen überschüttet

Die Anträge für Ganztagsschulen verteilen sich auf alle Kreise im Land, ein signifikantes Gefälle gibt es nicht. Auch die parteipolitische Färbung eines Kreises spielt keine Rolle, wie Jens Oldenburg konstatiert. Führend in der Ganztagsschulzahl ist der Kreis Pinneberg mit 26 Ganztagsschulen vor Lübeck, wo das Schulamt derzeit mit Anträgen "überschüttet" wird, wie die "Kieler Nachrichten" am 25. Oktober 2004 meldeten. In der Hansestadt verfügen 23 Standorte über ganztägige Angebote. Jörg Senkspiel, der Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Lübeck und gleichzeitig Leiter der ganztägigen Holstentor-Realschule, erklärt sich die hohe Nachfrage wie Jürgen Nowottny mit dem hohen Betreuungsbedarf vor allem für Kinder aus Migrantenfamilien und sozial schwächeren Familien. Erstmals will nun allerdings auch ein Gymnasium Offene Ganztagsschule werden: Das Johanneum hat einen entsprechenden Antrag gestellt. "Die heutige Elterngeneration pflegt einen anderen Lebensstil, Mütter sind berufstätig. Dem muss sich eine öffentliche Schule stellen", begründet Schulleiter Jörn Muxfeldt das Vorgehen. Für die nachmittäglichen Betreuungsangebote kann sich der Leiter des 840 Schülerinnen und Schüler starken Gymnasiums die Zusammenarbeit mit Musik- und Theaterschulen sowie Sportvereinen vorstellen.

An Lübeck zeigt sich der Nachfrage-Boom in Sachen Ganztagsschule besonders deutlich: Während bereits in diesem Jahr Anträge auf Unterstützung aus dem Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" abgewiesen werden mussten, werden Schulamtsleiter Friedrich Thorn zu Folge im kommenden Jahr nur zwei Schulen in den Genuss der Gelder kommen - 25 Schulen haben aber bereits Anträge gestellt. Was für die Stadt gilt, gilt auch für das ganze Land: Laut des Kieler Bildungsministeriums sind für 2005 landesweit Baumaßnahmen für 112 Millionen Euro beantragt, aber nur 33 Millionen Euro an Bundesmitteln stehen zur Verfügung. "Dieser Boom wird anhalten", ist sich Jürgen Nowottny sicher.

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