Bewegende Ganztagsschule in Hessen : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Bewegung in der Ganztagsschule hat viele Facetten, eine große Bedeutung und fördert die Gesundheit. Der Fachtag „Ganz bewegt! Mit Bewegung Ganztagsschule gesund gestalten“ am 13. März in Frankfurt am Main offenbarte es.

„Ganztag, Sport und Gesundheit gehören zusammen.“ Auf diesen Nenner brachte es Wolf Schwarz, Leitender Ministerialrat im Hessischen Kultusministerium, bei seiner Begrüßung der Gäste des Fachtags in Frankfurt. Er sprach ihnen aus der Seele. Sie waren gekommen, um sich in Vorträgen, zahlreichen Workshops, vor allem aber auch intensiven Gesprächen zusätzliche Anregungen zu verschaffen, wie ein bewegender und gesunder Ganztag gelingen kann.

In seinem Einführungsvortrag machte Alexander Jordan, der die Zentrale Fortbildungseinrichtung für Sportlehrkräfte des Landes Hessen leitet, deutlich, dass der Weg dorthin eine Frage der Schulentwicklung sei. „Schulen, die sich auf diesen Weg begeben wollen, sollten anhand der Kriterien Wohlbefinden, Lebenskompetenzen, Zeitstruktur, Angebote und Beziehungen eine Haltung offenlegen und einen pädagogischen Konsens herausarbeiten, wie Schulentwicklung hin zu einer bewegenden und gesunden Schule vorangetrieben werden kann“, betonte er.

Alexander Jordan ermuntert die Zuschauerinnen und Zuschauer zu Bewegungsübungen
... und auf dem Fachtag beim Vortrag von Alexander Jordan © Moritz Schmandt

Er präsentierte einen Selbsteinschätzungsbogen zu jedem der Kriterien: Sind wir uns sicher, dass Schülerinnen und Schüler zufrieden sind? Ist der überfachliche Kompetenzerwerb bedeutungsvoll und wird durch verlässliche Absprachen ermöglicht? Gibt es attraktive und altersangemessene Bewegungs- und Sportangebote? Der Bogen ist mit dem Ziel entwickelt worden, eine Verbindung zwischen dem relevanten „Qualitätsrahmen Schule & Gesundheit“ und den pädagogischen Haltungen vor allem von Lehrkräften an Schulen zu schaffen. Jordan: „Die Selbsteinschätzung fördert Orientierung. Diese wiederum ist für Schulentwicklungsprozesse unerlässlich.“

„Mental Stark!“ – Erkenntnisse der Forschung

Überzeugende Argumente, warum Bewegung in der Ganztagsschule unerlässlich ist, lieferte die Sport- und Neurowissenschaftlerin Dr. Sabine Kubesch. In ihrem Ausflug in die Hirnforschung „Mental Stark! – Bedeutung und Förderung der Selbstregulation in der Schule“ erläuterte sie, dass die exekutiven Funktionen des Stirnhirns, dessen Entwicklung erst mit circa 30 Jahren abgeschlossen ist, die bewusste und zielgerichtete Steuerung von Aufmerksamkeit, Verhalten und Emotionen beeinflussen. „Schülerinnen und Schüler, die vermehrt Schwierigkeiten haben, ihr Verhalten, ihre Gefühle und ihre Aufmerksamkeit zu steuern, haben oftmals unzureichend ausgebildete exekutive Funktionen“, betonte sie.

Diese Heranwachsenden zeigten häufig Umstellungsprobleme, z. B. vom freien Spiel auf Stillarbeit oder vom Bereitlegen der Arbeitsmaterialien bis hin zum eigentlichen Start der Aufgabenbearbeitung. Es falle ihnen schwer, sich auf neue Aufgaben und Arbeitsanweisungen einzustellen. Schüler mit schwachen exekutiven Funktionen seien leichter ablenkbar, vergäßen häufiger als andere Schüler Arbeitsanweisungen, sie verlören sich in mehrteiligen Aufgaben und hätten Probleme, diese zu Ende zu führen.

„Aber“, so fügte die Wissenschaftlerin hinzu, diese Funktionen würden unter anderem durch eine gesteigerte körperliche Fitness gefördert. „Deshalb benötigen wir mehr Sportunterricht in Schulen.“ In zwei Workshops brachte sie den Lehrkräften und zahlreich anwesenden in Schule Tätigen anderer Professionen leicht umsetzbare Beispiele für Bewegungspausen nahe, die im Unterricht und im Ganztag die exekutiven Funktionen der Schülerinnen und Schüler trainieren und deren Selbstregulation fördern.

„Mit einfachen Mitteln Bewegungsdrang wecken“

Lehrerin mit Schülerinnen und Schülern im Kreis in der Klasse
© Britta Hüning

Eben jene Praxisbeispiele hatten die Veranstalter – das Hessische Kultusministerium, die Serviceagentur „Ganztägig lernen“ und die Zentrale Fortbildungseinrichtung für Sportlehrkräfte des Landes Hessen – bei der Auswahl und Gestaltung der vielen spannenden Workshops im Blick. Einen moderierte Hermann Städtler. Seit Jahren bietet der ehemalige Schulleiter in Deutschland, Österreich und Südtirol Fortbildungen zu den Themen Bewegung und Lernen, Gesundheit von Lehrerinnen und Lehrern sowie Schulorganisationsentwicklung an. Unter seiner Leitung entstand das Konzept „Bewegte Schule – gesunde Schule Niedersachsen“.

Städtlers Credo: „Mit einfachen Mitteln kann man den natürlichen Bewegungsdrang der Schülerinnen und Schüler im Unterricht und in den Pausen wecken.“ Seiner Ansicht nach könne man dann von einer „Bewegten Schule“ sprechen, wenn die Umsetzung des Bewegungsverlangens ermöglicht werde. Er machte Vorschläge. So könne man im Unterricht ohne Probleme an die Schülerinnen und Schüler gerichtete Fragen wie „Stimmst du der Aussage zu…?“ nicht allein mit einem Ja oder Nein beantworten lassen, sondern darum bitten, dass Zustimmung durch Aufstehen und Ablehnung durch In-die-Hocke-gehen signalisiert werde. Fachfremder Vertretungsunterricht könne genutzt werden, um die Kinder und Jugendlichen nach draußen zu schicken, statt sie „Mandalas ausmalen zu lassen“.

Er machte aber auch deutlich: „Der punktuelle Einsatz von Bewegung macht allein noch keine bewegte Schule aus. Vielmehr gilt es, das ganze System Schule in Bewegung zu bringen.“ Auch der Lehrer oder die Lehrerin profitiere von der Bewegung. Die der Schüler sage ihm viel über ihren Zustand und Gefühle: „Das hilft, auf ihre Interessen und Bedürfnisse einzugehen.“ Lehrkräften empfahl er: „Setzen Sie Ihren Körper als Hilfsmittel für Ihre Gedanken ein. Das macht Sie authentisch.“

Bewegung zur Teambildung in der Grundschule am Diebsturm

Wie Städtler hoben die Grundschulen am Diebsturm aus Grünberg  im Landkreis Gießen und die Hans-Quick-Schule aus Bickenbach im Landkreis Darmstadt-Dieburg die besonderen Chancen von Ganztagsschulen, bewegendes und gesundes Lernen zu fördern, hervor. Beide Grundschulen zählen zu jenen, die sich dem Pakt für den Nachmittag angeschlossen haben.

Teilnehmer stehen im Kreis und halten eine Murmelbahn in den Händen
Murmelbahn als praktische Übung im Workshop © Moritz Schmandt

Mit einer Vielzahl von Bewegungsangeboten wartet die Grundschule am Diebsturm auf. Sie reichen von der bewegten und auch einer stillen Pause über „Ringen und Raufen“ bis hin zur Talentförderung im Basketball. Konrektorin Ursula Pieler und Schulsozialarbeiter Florian Wietschorke unterstrichen, dass ihre Angebote den Kindern einen Wechsel zwischen An- und Entspannung ermöglichten. Dazu trage auch bei, dass die Schule inzwischen Abschied von den Betreuungsräumen zugunsten von Themenräumen genommen hat.

„Da die Kinder jederzeit wechseln können, sind sie automatisch in Bewegung.“ Außerdem ermöglichen die Angebote so die freie Entfaltung der Kinder.  Florian Wietschorke entführte die Workshop-Gäste in praktische Übungen, baute mit ihnen die längste Murmelbahn der Welt oder ließ einen Hula-Hoop-Reifen von einem zum anderen wandern. „So gelingen Bewegung und spielerische Teambildung“, berichtete er.

Kinderrechte als Basis von Entscheidungen: Hans-Quick-Schule

„Zwischen Hektik und Entspannung“ hatte Beate Hunfeld, die Leiterin der Hans-Quick-Schule ihren Workshop genannt. „Bewusst“, wie sie betonte. Denn Lehrkräfte ständen häufig unter Zeitdruck, hätten kein Geld und keinen geeigneten Raum – das verursache Hektik. „Gleichzeitig ist es unsere Aufgabe, den Schülerinnen und Schülern den Raum zu geben, sich selbst zu verwirklichen“, sagte sie.

Ihre Schule orientiert sich stark an den Kinderrechten. „Und da gehören Mitbestimmung und die Möglichkeit, sich zu entspannen, hinzu“, erklärte sie. Das zu akzeptieren, hätten sie und ihr Kollegium auch erst lernen und erfahren müssen. Im ersten Jahr des Ganztags wurde eine Vielzahl von Angeboten unterbreitet. „Nahezu jede AG, die man sich vorstellen kann, stand zur Wahl. Die Kinder aber haben das gar nicht gewollt und uns gesagt, sie wollten lieber mehr selbst entscheiden, Zeit zum einfachen Spielen und Reden statt einengender Angebote haben“, erinnert sich Pieler.

Inzwischen stehen „nur“ noch eine Musik-AG und einige Sportförderangebote auf dem Plan. „Alle sind zufrieden“, bilanziert die Schulleiterin und schränkt zugleich ein: „Die Eltern müssen wir mitunter schon überzeugen. Dank unserer guten Kommunikation mit ihnen gelingt das aber.“

Bildung geschieht vor- und nachmittags

Schülerinnen und Schüler bei einem gemeinsamen Klassenspiel
© Britta Hüning

Ein Kommunikationsthema sprach schließlich auch Stephan Schulz-Algie, Referatsleiter für Bewegungs- und Gesundheitsförderung, Schule und Sport bei der Sportjugend Hessen, an. „Schule sollte nicht alleiniger Gestalter von Ganztag werden“, meinte er. Vielmehr müssten alle anderen Professionen, darunter eben auch die Sportvereine, sonstiges pädagogisch tätiges Personal und Sozialarbeiter, darin eingebunden werden. Und zwar auf der oft zitierten Augenhöhe. „Wenn alle akzeptieren, dass das, was sowohl am Vormittag als auch am Nachmittag geschieht, Bildung ist, steigert das das gegenseitige Verständnis, die Wertschätzung und Akzeptanz“, versicherte er.

Ihr Verständnis von Rhythmisierung und bewegender Schule drückten die Veranstalter auch im bewegten Mittagsband aus. Mittagspause bei diesem Fachtag hieß eben nicht nur Stehen am Buffet, sondern auch Bewegungsangebote zu nutzen. Ein solches unterbreitete Markus Furtner mit seinen Jonglageübungen, die er auch in Schulen anbietet. „Sie fördern Körperbeherrschung, Konzentration und Koordination“, betonte er. Eine Teilnehmerin pflichtete ihm spontan bei: „Jetzt fühle ich mich fit für den zweiten Teil der Tagung.“ Sprachs und machte sich wissensdurstig auf den Weg zum nächsten Workshop.

 

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