Baden-Württemberg: "Ganztagsschule gilt als Prädikat" : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Jahrzehntelang hatte in Baden-Württemberg die Ganztagsschule im Schulgesetz den Status des Schulversuches. Diesen Zustand hat der Landtag am 16. Juli 2014 nun für die Grundschulen beendet.

„Die Ganztagsschule steht im Schulgesetz – das war doch undenkbar in Baden-Württemberg“, begrüßt Frank Mentrup, der Oberbürgermeister der Stadt Karlsruhe, am 21. Juli 2014 die rund 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Karlsruher Konzerthaus. Für die Gastgeberstadt hat Mentrup die Eröffnung der Veranstaltung „Der neue Ganz!Tag! an Grundschulen“ übernommen. 177 Grundschulen im Land Baden-Württemberg werden im kommenden Schuljahr 2014/2015 als Ganztagsschulen starten. Gewürdigt wird damit auch die Entscheidung, die das möglich gemacht hat und die an diesem Tag von nicht wenigen als „historisch“ gewürdigt wird.

„Wir sollten die Besonderheit des Augenblicks genießen“, erklärt Andreas Stoch, der baden-württembergische Kultusminister. „Es ist ein historisch wichtiger Schritt in der Weiterentwicklung der Bildungslandschaft in Baden-Württemberg. Die Ganztagsschule ist für die Landesregierung eines der wichtigsten Instrumente, die Bildung des Landes zu verbessern.“

Der Minister – auch dies ist auf der Veranstaltung des Öfteren zu hören – gilt als eine der Schlüsselpersonen bei der Vorbereitung und Durchführung des Gesetzes, das am 16. Juli 2014 vom baden-württembergischen Landtag verabschiedet worden ist. Mit dem Gesetz für die Ganztagsgrundschule und die Grundstufen der Förderschulen ist der jahrzehntelange Zustand, dass Ganztagsschulen nur als Schulversuch geführt werden konnten, beendet.

Gemeinden „mustergültig eingebunden“

Die ersten Ganztagsschulen wurden in Baden-Württemberg in den 1970er Jahren eingerichtet. Norbert Brugger, Dezernent des Städtetags Baden-Württemberg, erläuterte: „Über drei Jahrzehnte galt die Ganztagsschule als schulischer Notfall. Neben dem Investitionsprogramm ‚Zukunft Bildung und Betreuung’ des Bundes und der Veränderung in der öffentlichen Wahrnehmung, in der die Ganztagsschule nun eher als Prädikat gilt, wirkte dieser Zustand zunehmend absurd. Ich bin froh, dass diese Hängepartie nun vorbei ist. Die Entscheidung des Landtags ist positiv – ohne Wenn und Aber.“

Mit dem IZBB setzte der verstärkte Ganztagsschulausbau ein. Aber nach zehn Jahren sieht Minister Stoch noch immer einen „riesigen Nachholbedarf“: „In Baden-Württemberg besuchen nur 18 Prozent der Schülerinnen und Schüler eine Ganztagsschule, während es im Bundesschnitt 32 Prozent sind. Besonders bei den Grundschulen hinken wir hinterher: Von den 2.400 Grundschulen sind 380 Ganztagsschulen, das sind rund 15 Prozent.“

Entsprechend dem erkannten Bedarf setzt das Land jetzt bei den Grundschulen und den Grundstufen der Förderschulen an. Die Landesregierung hatte das neue Konzept in enger Abstimmung mit den kommunalen Landesverbänden vorangebracht. Steffen Jäger, Beigeordneter des Gemeindetages Baden-Württemberg lobte, die Gemeinden seien bei den Beratungen „mustergültig eingebunden“ worden.

„Es ist der Landesregierung gelungen, die 1.057 Städte und Gemeinden zu 95 Prozent glücklich zu machen“, so Jäger. „Das Einzige, was noch fehlt, ist das Aussetzen der festgelegten Schülerzahl von 25 Kindern in einzügigen Grundschulen im ländlichen Raum. Wenn wir wirklich flächendeckend Ganztagsschulen einrichten wollen, wäre es gut, hier in der ersten Zeit auf eine Messzahl von 15 Schülerinnen und Schülern zu gehen.“ Das Motto der Landesregierung „Kurze Beine, kurze Wege“ könne sonst in Gefahr geraten, wenn die Eltern ihre Kinder lieber an anderen Schulen mit Ganztagsangeboten anmeldeten und kleine Grundschulen dann schließen müssten. „Es ist doch sinnvoller, lieber übergangsweise in die Ganztagsschulen auf dem Lande zu investieren als langfristig in Busverkehr.“

„Nicht überstülpen, sondern durch überzeugende Angebote gewinnen“

Das Ziel der Landesregierung ist der flächendeckende Ausbau: Jedes Kind und jeder Jugendliche soll die Möglichkeit haben, eine Ganztagsschule in erreichbarer Entfernung besuchen zu können. Bis 2023 sollen sich rund 70 Prozent der Grundschulen und Grundstufen der Förderschulen an dem neuen Ganztagsschulprogramm beteiligen. Dafür investiert Baden-Württemberg rund 158 Millionen Euro. Statt wie bisher sechs bis acht Lehrerwochenstunden erhalten offenen Ganztagsschulen nun zwölf Lehrerwochenstunden pro Gruppe.

Das mit dem Gesetz verankerte Konzept lässt den Eltern, Schulen und Schulträgern die Wahl zwischen der „verbindlichen Form“ der Ganztagsschule, an der alle Schülerinnen und Schüler teilnehmen, und der „Wahlform“, bei der Eltern, Schülerinnen und Schüler sich für die Teilnahme am Ganztag entscheiden. Außerdem gibt es vier verschiedene Zeitmodelle. „Es ist gut, dass die Gemeinden vor Ort entscheiden können, welche Form der Ganztagsschule sie auswählen können“, lobte Steffen Jäger.

Andreas Stoch erklärte: „Es soll keinen Zwang zum Besuch einer Ganztagsschule geben, wir wollen niemandem etwas überstülpen, sondern die Eltern durch überzeugende Angebote gewinnen. Ich bin auch ganz sicher, dass dies gelingen wird, da diese Effekte an bestehenden Ganztagsschulen bereits eingetreten sind: Wenn die Angebote ansprechen, dann steigt die Lust der Kinder, daran teilzunehmen. Das schafft eine Eigendynamik, und die Anmeldezahlen steigen.“

Der Minister machte aber auch deutlich, dass Wahlfreiheit nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden sollte: „Die Ganztagsschule ist Schule, sie ist kein nachfrageorientiertes Betreuungsinstrument.“

Qualität durch Kooperation

Für einen wichtigen Faktor zum Gelingen der Ganztagsschule hält Steffen Jäger die Kooperation mit außerschulischen Partnern: „Ich halte die Möglichkeit, Lehrerstunden zu kapitalisieren, um Kooperationspartner einzubinden, für das eigentliche Herzstück der neuen Gesetzgebung. Jetzt wird es nicht mehr heißen ‚Ganztagsschule gegen Vereine und Verbände’, sondern ‚Ganztagsschule mit Vereinen und Verbänden’. Vor Ort können nun maßgeschneiderte Angebote entstehen. Ich rate allen Ganztagsschulen, örtliche Akteure einzubinden.“

Zwar gibt es bereits das Jugendbegleiter-Programm in den baden-württembergischen Ganztagsschulen, bei dem hauptsächlich Ehrenamtliche zum Einsatz kommen. Von der neuen Gesetzeslage, die wesentlich mehr Mittel für die Kooperationspartner frei werden lässt – der Kultusminister rechnet damit, dass rund ein Sechstel der Lehrerwochenstunden kapitalisiert wird –, erhoffen sich alle Beteiligten aber einen Qualitätsschub.

Bereits im April 2014 hatten Minister Stoch und Dieter Schmidt-Volkmar, Präsident des Landessportverbandes Baden-Württemberg (LSV), eine Rahmenvereinbarung über die Zusammenarbeit unterzeichnet, mit der zusätzliche Bewegungs-, Spiel- und Sportangebote in den Ganztagsschulen geschaffen werden sollen. „Wir brauchen Verlässlichkeit und Qualität in den Angeboten“, erklärte Schmidt-Volkmar nun in Karlsruhe. „Das wird auch für uns eine Herausforderung, der wir uns aber gewachsen sehen und der wir uns gerne stellen.“

Susanne Rehm von der Landesvereinigung Kulturelle Jugendbildung erhofft sich neue Erfahrungen für Schülerinnen und Schüler, die vielleicht in Angeboten der kulturellen Bildung neue Erfolgserlebnisse hätten und ungeahnte Talente bei sich entdecken könnten, „auch dadurch, dass andere Lernorte aufgesucht werden können.“.

Während Kultusminister Stoch nun erwartet, dass die an den Start gehenden 177 Ganztagsgrundschulen weiter an der Qualität ihrer Angebote arbeiten und künstlerische, sportliche oder andere Profile entwickeln, wünschen sich die kommunalen Vertreter wie Norbert Brugger, dass auch die weiterführenden Ganztagsschulen bald den Schulversuchscharakter verlieren.

 

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