3. Berliner Ganztagsschulkongress: Inklusion ist Teilhabe : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Der 3. Berliner Ganztagsschulkongress am 27. April 2016 fand unter dem Motto „Irgendwie anders – Chancen inklusiver Ganztagsschule“ statt.

Eingang des Schulgehbäudes der Fritz-Karsen-Schule in Neukölln
Fritz-Karsen-Schule in Berlin-Neukölln © Redaktion www.ganztagsschulen.org

Das Wort „Willkommenskultur“ war an diesem Mittwoch überall präsent auf dem 3. Berliner Ganztagsschulkongress, zu dem die Serviceagentur „Ganztägig lernen“ wieder in die Fritz-Karsen-Schule in Neukölln eingeladen hatte. Das Kongressthema „Irgendwie anders – Chancen inklusiver Ganztagsschule“ gab unter anderem Gelegenheit, darzustellen, wie Ganztagsschulen in Berlin die Inklusion praktizieren. Dazu gehört auch, geflüchtete Kinder und Jugendliche aufzunehmen.

Schon der Kongress selbst strahlte für die rund 450 Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine willkommen heißende Atmosphäre aus. Das Team der Serviceagentur sorgte mit vielen kleinen Gesten dafür, dass sich alle wohlfühlten. So lagen auf den Stühlen der Aula „Gerechtigkeits“-Müsliriegel oder „Flexibilitäts“-Gummibärchen bereit. In einem Klassenzimmer war eine „Lern-Lounge“ eingerichtet, zum Lesen, Filmeschauen oder auch nur zum Ausruhen. Die Schülerinnen und Schüler der Fritz-Karsen-Schule sorgten mit großer Hilfsbereitschaft dafür, dass jeder Raum in dem weitläufigen Gelände gefunden wurde.

Nach einer kurzen Begrüßung durch Anne Davis und Sabine Hüsemann von der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ und einem musikalischen Beitrag von Doreen Kutzke von der Jodelschule Berlin ging es sofort in medias res. Prof. Michel Knigge von der Universität Potsdam eröffnete mit seinem Impulsvortrag „Inklusion in Deutschland“ den Fachkongress.

Inklusion ist Teilhabe und Gerechtigkeit

Der Professor für Inklusion und Organisationsentwicklung bettete das Thema auch historisch ein. Er zitierte Ernst Christian Trapp (1745-1818), den ersten deutschen empirischen Pädagogen, der sich schon 1780 eine Grundfrage stellte, die Lehrerinnen und Lehrer bis heute bewegt: „Wie hast Du dies alles anzufangen bei einem Haufen Kinder, deren Anlagen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Neigungen, Bestimmungen verschieden sind, die aber doch in einer und eben derselben Stunde von Dir erzogen werden sollen?“

In der heutigen Diskussion, so Michel Knigge, werde der Inklusionsbegriff zu häufig auf Menschen mit Behinderungen verengt. Ein weiter gefasster Inklusionsbegriff beschreibe den allgemeinen Umgang mit der bereits von Trapp konstatierten Heterogenität, die „nicht nur mit Förderbedarf zu tun hat“. Dabei müsse man allerdings immer genau hinschauen. Unterschiede im Schulerfolg können oft durch soziale Disparitäten erklärt werden, zum Beispiel beim Thema Migration. „Der soziale Effekt ist häufig wichtiger. Es geht immer auch um Grundfragen der Gerechtigkeit und Teilhabe“, so der pädagogische Psychologe und Schulforscher, der sich unter anderem mit Einstellungen von Lehrkräften zur Inklusion beschäftigt hat.

Studien zeichneten ein differenziertes Bild inklusiver Beschulung von Schülerinnen und Schülern in Regelschulklassen im Vergleich zu Förderschulen. Bei Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen sei der Lernzuwachs in inklusiven Lerngruppen größer als in separierten Klassen. Teilweise bis zu einem Schuljahr betrage der Unterschied, was für die inklusive Beschulung spreche. Weniger günstige Befunde bieten die Studien bisher für die Förderschwerpunkte emotionale und soziale Entwicklung oder Sprache.

Die Ganztagsschule bietet laut Michel Knigge eine vielversprechende Ressource für den inklusiven Unterricht, weil in ihr multiprofessionelle Teams tätig sind: „Das pädagogische Handeln kann durch die intensive Zusammenarbeit ganz unterschiedlicher Akteure besonders wirkungsvoll sein.“

Willkommensklassen an der Johanna-Eck-Schule

Diese Multiprofessionalität spiegelte sich in den am Nachmittag vorgestellten elf Praxisbeispielen wider. Diese wurden fast sämtlich von Schulleitungen, Sozial- und Sonderpädagogen und -pädagoginnen oder Erzieherinnen in Teams vorgestellt. Silke Donath, stellvertretende Schulleiterin, und die Sozialpädagogin Birgit Warner präsentierten zum Beispiel die „Willkommens- und Schulkultur“ an der Johanna-Eck-Schule, einer Integrierten Sekundarschule in Berlin-Mariendorf.

„Wir unterrichten Jugendliche, die neu nach Deutschland gekommen sind und nicht Deutsch sprechen, in drei verschiedenen Lerngruppen“, berichtete Silke Donath. „Das einzige Kriterium der Zuordnung zu einer Lerngruppe sind ihre Sprachkenntnisse in Deutsch, die in einem Aufnahme-Diagnose-Verfahren erhoben werden. Unser Ziel besteht darin, sie später in einer Regelklasse zum Schulabschluss zu führen.“

Die Schülerinnen und Schüler in den Willkommensklassen werden von Lehrkräften, die mit ihnen durch die Schullaufbahn „hochwachsen“, nach selbst in der Schule erarbeiteten differenzierten Förderplänen unterrichtet. Die Fächer entsprechen dabei denen der Regelklassen. „Wir trainieren unterschiedliche Arbeitsformen und Unterrichtsmethoden, zum Beispiel verschiedene kooperative Lernformen und die Arbeit mit Kompetenzrastern“, erläuterte Silke Donath.

"Die Jugendlichen freuen sich, wenn sie es geschafft haben"

„In regelmäßigen Teamsitzungen besprechen wir den Leistungsstand der Schülerinnen und Schüler und ob sie in die nächste Sprachstufe wechseln können“, erzählte Birgit Warner. „Die Kinder und Jugendlichen entwickeln Ehrgeiz, in die nächste Stufe zu kommen, und freuen sich, wenn sie es geschafft haben. Da wir manchen Unterricht wie den musischen Kurs und die Projekte kursübergreifend gestalten, bleiben die Schülerinnen und Schüler im Kontakt mit ihren Freunden.“

In den Gruppen hat sich eine „multikulturelle Zusammenarbeit“ als förderlich für den Spracherwerb erwiesen. Die meisten Schülerinnen und Schüler benötigen etwa eineinhalb bis zwei Jahre, bis sie in eine Regelklasse wechseln können. „Es ist keine Seltenheit mehr, dass wir Jugendliche bekommen, die zwei Jahre auf der Flucht gewesen sind“, so Silke Donath. „Wir haben lernen müssen, dass für sie die Schule, der Klassenraum und die Klassengemeinschaft als sicherer Ort sehr wichtig ist. Die Schülerinnen und Schüler sind mit ihrer großen sozialen Kompetenz und ihrer freundlichen und einladenden Art eine Bereicherung für unsere Schule.“

Vielfältige Partizipation an der Herrmann-Hesse-Schule

Die Herrmann-Hesse-Schule in Berlin-Kreuzberg ist seit 2008 ein gebundenes Ganztagsgymnasium – ein Schritt, der sich laut Schulleiterin Sylke Rosche mehr als ausgezahlt hat: „Früher wurden uns die Schülerinnen und Schüler zugeteilt. Seit zwei Jahren werden wir dank unseres Konzepts und des Engagements unserer Kollegen von Eltern angewählt, sodass sich die Vielfalt unseres Kiezes zum Glück auch wieder in der Schule abbildet.“ An drei Tagen dauert der Ganztag bis 16 Uhr. Er ist mit Zeiten für das selbstständige Lernen, selbst gewählte Profilkurse, Leistungs-AGs und Zeiten für Entspannung in der Mittagspause rhythmisiert.

Besonders zeichnen das Ganztagsgymnasium die zahlreichen Möglichkeiten zur Partizipation für die 620 Schülerinnen und Schüler aus, die Schulleiterin Rosche, die Schulsozialarbeiterin Lisa Mühlenbrock und der Sozialpädagoge Mark Schüttner vorstellten. So übernehmen die Achtklässler in den ersten sechs Wochen eines neuen Schuljahres Patenschaften für die Siebtklässler, zeigen ihnen die Schule, beantworten ihre Fragen und erleichtern ihnen das Ankommen. Alle Klassen verfügen über einen Klassenrat. Außerdem ist die Gesamtschülervertretung aktiv. Sie trifft sich einmal im Monat, um wichtige Themen zu besprechen.

Im Schuljahr 2011/12 haben die Schülerinnen und Schüler ein Gartenhaus auf dem Gelände saniert, das seitdem von den Jugendlichen selbstverwaltet als Schülerclub genutzt wird, in dem sie spielen und ausruhen können. „Der Raum wird gut angenommen, und es hat noch keinen Vandalismus gegeben“, erzählte Sozialpädagoge Schüttner. Ebenso problemlos läuft die Schulmediation, bei der etwa zehn ausgebildete Mediatorinnen und Mediatoren Konflikte zwischen Mitschülern schlichten.

Ein Höhepunkt ist in jedem Schuljahr die Zeugnisvergabe in der Aula. Hier erhalten die Schülerinnen und Schüler nicht nur ihr Zeugnis, sondern auch besondere Urkunden, mit denen Jahrgangsbestleistungen, besondere Leistungssteigerungen und soziales Engagement gewürdigt werden. Bei letzterer Kategorie schlagen sich die Schülerinnen und Schüler gegenseitig vor. „Die Schüler sind immer sehr stolz und manchmal wirklich überrascht, wenn sie nach vorne gerufen werden und donnernden Applaus bekommen“, schilderte Schulleiterin Rosche, die jeweils die Laudatio hält und die Urkunden im Stil einer „Oscar“-Verleihung übergibt, die Atmosphäre.

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