1. Hamburger Ganztag: Dem Lernen Zeit geben : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Die Entwicklung der Ganztagsschule erfährt aktuell in Hamburg einen enormen quantitativen Schub. Dabei darf die Qualität in den einzelnen Schulen nicht zu kurz kommen. Der 1. Hamburger Ganztag am 19. Februar 2010 vermittelte neue Impulse für die Gestaltung des Ganztags und stellte gute Beispiele aus der Praxis vor - zum Beispiel zu den Themen Mittagsfreizeit und Rhythmisierung.

In Hamburg diskutiert man nicht mehr über die Ganztagsschule. Was sich zunächst beunruhigend anhört, ist in Wahrheit eine gute Nachricht. Denn in der Hansestadt ist die Ganztagsschule deshalb nicht mehr im Gespräch, weil sie "selbstverständlich geworden ist", wie Norbert Rosenboom, Leiter des Amtes für Bildung in der Behörde für Bildung und Sport, erklärt.

Dass man in Hamburg durchaus noch über die Ganztagsschule spricht - und zwar konstruktiv - das erwies sich am 19. Februar 2010 im Gymnasium Othmarschen: Rund 350 Interessierte folgten der Einladung der Serviceagentur "Ganztägig lernen" Hamburg, der Behörde für Schule und Berufsbildung Hamburg und des Ganztagsschulverbandes zum 1. Hamburger Ganztag - einer Veranstaltung "zur Unterstützung und zur Qualitätsentwicklung zukünftiger und bestehender Ganztagsschulen".

Viele der Teilnehmerinnen und Teilnehmer nahmen das Angebot dankbar an, weil ganz offenbar ein immenser Informationsbedarf bestand. In den elf Foren, die sowohl thematische - zum Beispiel zum "Professionenmix in der Ganztagsschule", zur "Inklusion" oder zu "Bildungslandschaften und Ganztag" wie auch schulartenspezifische - "Ganztag ist mehr als G8" und "Primarschulen im Ganztag" - Angebote unterbreiteten, riss der Fragestrom nicht ab.

Hoher Nachfragebedarf in den Foren

So beispielsweise im Forum "Mittagspause gestalten". Nicht nur die hohe Teilnehmerzahl signalisierte das Interesse an diesem Thema, sondern auch der Wunsch der Anwesenden, den Referenten sofort Fragen zu stellen und sich deshalb die eigentlich vorgesehene Austauschrunde innerhalb der Teilnehmerschaft zu schenken. "An unserer Schule ist die Mittagspause der Horror: Laut und ständig beanspruchend. Das muss doch auch anders gehen", teilte ein Zuhörer seine Erfahrungen mit.

Als Experten standen Silke Bornhöft und Dörte Frevel von der neu eingerichteten Vernetzungsstelle Schulverpflegung Hamburg sowie die Schulleiterinnen Regine Seemann und Monika Plötzke von der Integrativen Grundschule Schule an der Burgweide in Hamburg-Wilhelmsburg Rede und Antwort.

Die Vernetzungsstelle Schulverpflegung ist als zentrale Anlaufstelle in der Hansestadt zur Optimierung der Schulverpflegung zum 1. September 2009 eingerichtet worden. Sie ist Teil des "In Form"-Programms des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und des Bundesministeriums für Gesundheit, das die Einrichtung solcher Stellen in allen 16 Bundesländern vorsieht.

Mittagessen als zentraler Punkt im Ganztagsschultag

Mit dem Aufbau eines Beratungssystems und der Fortbildung schulischer Multiplikatoren möchte die Vernetzungsstelle die Akzeptanz für das Mittagessen in Schulen und damit die Teilnahmezahlen erhöhen sowie die Ernährungsbildung in den Schulalltag integrieren. Wie der Name schon andeutet, ist auch die Vernetzung ein wesentliches Anliegen: Durch Workhops mit verschiedenen Zielgruppen, der Zusammenarbeit mit anderen Hamburger und überregionalen Netzwerken sowie Modellprojekten wie Verbundlösungen auf Stadtteilebene sollen viele Partner aus Schulen, außerschulischer Bildung, Kommune und Wirtschaft zum Wohle der Kinder und Jugendlichen an einen Tisch zusammen gebracht werden.

Die Schule an der Burgweide, Preisträgerin im bundesweiten Wettbewerb "Zeigt her eure Schule", ist seit dem Schuljahr 2007/2008 gebundene Ganztagsschule. "Im Vorfeld haben wir an vielen Schulen hospitiert, um uns Anregungen zu holen", berichtete Monika Plötzke. Dass dem Mittagessen eine zentrale Rolle in der Gestaltung des Ganztags zukommen werde, war daher von Beginn an klar. Die Grundschule liegt in einem schwierigen sozialen Umfeld, in welchem die Kinder "von ihren Eltern schlecht versorgt werden", wie es Regine Seemann ausdrückt. So sieht das Ganztagsschulkonzept vor, dass sämtliche knapp 300 Schülerinnen und Schüler am Mittagessen teilnehmen.

In der Vorbereitung veranstaltete die Schule eine "Probeesswoche", um einen geeigneten Caterer zu finden. "Jeden Tag haben die Schülerinnen und Schüler der Kinderkonferenz zusammen mit drei bis vier Kolleginnen das Angebot jeweils eines Catereres gegessen", berichteten die Schulleiterinnen. Referenzpunkt: "Jeder der Caterer musste etwas mit Kartoffelpüree kochen, denn an dessen Zubereitung und am Geschmack lässt sich schon viel ablesen", meinte Monika Plötzke. Für jeden Caterer füllten die Schülerinnen und Schüler einen Bewertungsbogen aus - "am Schluss waren sich die Kinder und die Lehrerinnen zum Glück einig", erzählte Regine Seemann.

Kinderkonferenz setzte Änderung der Jahrgangsmischung durch

Der jetzige Anbieter kocht zu fast 100 Prozent mit Produkten aus biologischem Anbau; einmal die Woche kochen die Mütter. Da etwa 90 Kinder Muslime sind, gibt es nur noch vegetarische Kost oder Fisch. Der ganze Stress über den Argwohn der Kinder und ihrer Eltern, Schweinefleisch untergejubelt zu bekommen, ist so buchstäblich vom Tisch. Dabei half auch ein Informationsabend für die Eltern, an dem der Caterer Kostproben kredenzte. "Manche Eltern hatten große Angst vor dem Essen, das ihren Kindern serviert werden würde", erinnert sich Regine Seemann. "Nach dieser Veranstaltung stieg das Vertrauen."

Zu Beginn aßen die Schülerinnen und Schüler für eineinhalb Jahre in einem abgetrennten Teil der Pausenhalle, inzwischen gibt es eine "tolle Kantine". Auf Wunsch der Kinderkonferenz hat sich etwas Weiteres geändert. Aßen sie anfangs noch nach Jahrgängen getrennt, sitzen die Kinder nun in jahrgangsgemischten Gruppen zusammen, was in der Tat nach Aussage der Schulleiterinnen weniger Stress in der Kantine bedeutet. Die Aufsicht führen eine Lehrerin und zwei Erzieherinnen.

Bewährt haben sich auch die Kräutertöpfe auf den Tischen. Die Schülerinnen und Schüler pflücken sich hier Thymian, Basilikum oder Petersilie und sind "schon zu richtig kleinen Kräuterexperten geworden", wie sich die Schulleiterinnen freuen. Einmal in der Woche schnippeln die Kinder mit Erzieherinnen auch Gemüse für die ganze Schulgemeinschaft.

Ruhe finden auf der "Insel"

Die Kinder sorgen für den Tischdienst und decken die Tische auf und ab. Es gibt auch keine Essensausreiche, das Essen wird in Schüsseln auf den Tisch gestellt. Andere Kinder sind im Wasserdienst für das Trinken zuständig. In der Kantine sind Wasserspender aufgestellt, und auch im Unterricht ist das Trinken erlaubt. Mütter besorgen den Abwasch. Ihre Arbeit wird aus dem Essensgeld in Höhe von 2,50 Euro - ermäßigt 50 Cent - pro Mahlzeit finanziert.

Die Schulleitung und zwei Lehrerinnen kümmern sich um die Essensabwicklung. Sie sammeln das Geld bar ein - "manche Eltern haben einfach kein Bankkonto" -, was ein "mühsames und zeitraubendes Geschäft ist, das aber langsam besser funktioniert."

Die Mittagsfreizeit in der Zeit von 12.15 bis 14.30 Uhr beinhaltet aber mehr als das Mittagessen: Auf die Kinder warten viele Angebote, die sie ohne Anmeldung wahrnehmen können, zum Beispiel Fußball, Malen, Entspannung oder Märchen. "Da wir manche Kinder haben, die nicht ganz einfach sind, brauchen wir stark betreute Angebote und auch ein Notfallprogramm für Schülerinnen und Schüler, die manchmal überfordert sind, an etwas teilzunehmen. Diese schicken wir auf unsere so genannte Insel, wo sie eine Erzieherin erwartet und sie Ruhe finden", erläuterte Regine Seemann. In den Angeboten der Mittagsfreizeit sind neben den Erzieherinnen auch Lehrerinnen eingesetzt.

Individuelles und fächerübergreifendes Lernen

Die Mittagspause ist an der Max-Brauer-Schule in Hamburg-Altona nicht das stärkste Glied der ab Klasse 3 gebundenen Ganztagsschulkette, wie Tim Hagener, stellvertretender Schulleiter der Integrierten Gesamtschule mit Grundschule und gymnasialer Oberstufe, im Forum "Taktwechsel: Stundentafel anders gesehen" freimütig einräumte. Dafür bietet diese Ganztagsschule ihren 1335 Schülerinnen und Schülern unter der Überschrift "Dem Lernen Zeit geben" ein ausgefeiltes Konzept des individuellen, interessegeleiteten und fächerübergreifenden Lernens.

Individuelles Lernen wird besonders durch das Lernen in Lernbüros unterstützt. In den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch lernen die Schülerinnen und Schüler anhand von Kompetenzrastern: Die Lerngegenstände sind in Tabellen in Schwierigkeitsstufen wie beispielsweise "Ich beherrsche alle vier Grundrechenarten" eingeteilt. Die Schülerinnen und Schüler tragen nach den Übungen ihren Leistungsstand mit Hilfe von Punkten in diese Raster ein. Haben sie ausreichend Punkte gesammelt, absolvieren sie einen Test. "Das Lernbüro orientiert sich am individuellen Lernstand und -tempo der Kinder und Jugendlichen", erklärte Hagener.

Dem Lernen in Projekten liegt fächerübergreifendes Lernen zugrunde: In sechs Projektphasen pro Schuljahr arbeiten die Schülerinnen und Schüler in jeweils zwölf Wochenstunden praxisorientiert, an außerschulischen Lernorten, selbstorganisiert und in der Gruppe an einem Thema. Heißt es zum Beispiel in der Jahrgangsstufe 5 "Wir schreiben an einem Buch", dann sind die Fächer Deutsch, Naturwissenschaften ("Herstellen von Papier"), Gesellschaft ("Wie funktioniert der Buchmarkt?"), Arbeitstechniken ("Schreibkonferenzen abhalten"), Berufsorientierung ("Besuch einer Druckerei"), Bildende Kunst ("Seitenlayout entwickeln") und Mathematik ("Was kostet unser Buch?") involviert.

In den vier verschiedenen Werkstätten, die in acht Stunden in der Woche stattfinden, lernen die Schülerinnen und Schüler schließlich nach eigenen Interessensschwerpunkten. Verpflichtende Werkstätten, in denen Grundfertigkeiten und -fähigkeiten erworben werden, sind Musik/Kunst, Sport, Computerführerschein sowie Arbeiten mit Holz und Metall. Freie Werkstattangebote werden unter anderem beim Zirkus, dem Bläserensemble und dem Forscherlabor angeboten. Hier kommen auch Kooperationspartner ins Spiel. Insgesamt 50 Honorarkräfte sorgen für das vielfältige Angebot.

"Wir müssen zeigen, dass wir besser sind"

Hier ist das "Lernen aus erster Hand", das Angela Kling, die Serviceagenturleiterin, als stilbildend für eine Ganztagsschule nannte, verwirklicht. Das Arbeitsleben und die Kommune kommen in die Schule, und umgekehrt geht diese ins Umfeld. "Die Vernetzung in den Stadtteil ist gut", meinte Tim Hagener dann auch über seine Max-Brauer-Schule.

Zu Beginn des 1. Hamburger Ganztags hatte Bernd Martens, der Vorsitzende des Hamburger Ganztagsschulverbandes, einen Satz zitiert, den einst ein Vater ihm gegenüber geäußert hatte: "Die Ganztagsschule darf kein verlorener Tag für mein Kind sein." Daran müsse sich eine Ganztagsschule messen lassen. Norbert Rosenboom, der Leiter des Amtes für Bildung, ging noch einen Schritt weiter: "Die Ganztagsschulen müssen zeigen, dass sie besser als die Halbtagsschulen sind - im Individualisieren, in der Teamarbeit, im Rhythmisieren."

Der 1. Hamburger Ganztag war bestimmt kein verlorener Tag für die Ganztagsengagierten - das von Max Fuchs, dem Leiter der Akademie Remscheid, in seinem Vortrag beschriebene "gesunde Eigeninteresse der Lehrerinnen und Lehrer, etwas Gutes für sich und ihre Schüler zu tun", war spürbar an der engagierten Beteiligung der Pädagogen. Und es war sicher kein schlechtes Zeichen, dass ein Großteil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an einem Freitagabend nach dem offiziellen Ende der Veranstaltung noch die Köpfe zusammensteckte, um beim "Ganztags-Talk" weiter zu diskutieren.

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