Kind- und jugendgerecht: Ganztagsbildung in NRW : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Ganztagsbildung in Nordrhein-Westfalen heißt: „Die Bedürfnisse der Kinder und ihrer Familien werden immer Priorität haben.“ Über aktuelle Entwicklungen im Dreiklang aus Bildung, Betreuung und Erziehung spricht Bildungsministerin Dorothee Feller im Interview.

Online-Redaktion: Frau Ministerin, Nordrhein-Westfalen hat in den vergangenen 15 Jahren viel für den Ausbau der Ganztagsschulen getan und gehört sicherlich zu den Vorreitern. Wie schätzen Sie den Stand der Entwicklung ein?

Dorothee Feller: Der Ausbau der Offenen Ganztagsschulen im Primarbereich ist in den vergangenen Jahren stetig vorangeschritten. In Nordrhein-Westfalen stehen derzeit Plätze für über die Hälfte aller Kinder im Grundschulalter bereit. Die Ganztagsschulen in Nordrhein-Westfalen haben einen hohen bildungspolitischen und familienpolitischen Stellenwert. Bildung, Betreuung und Erziehung sind Grundpfeiler einer guten Ganztagsbildung, diese werden wir konsequent weiterentwickeln.

Den weiteren Prozess zum Ausbau des Rechtsanspruchs auf einen Ganztagsplatz ab 2026 werde ich gemeinsam mit meiner Amtskollegin, der Kinder- und Jugendministerin, gestalten, unter anderem mit einem gemeinsamen Lenkungskreis und der Einberufung eines Expertenbeirates. Dieser Schulterschluss von Schule und Jugendhilfe ist zentrales Gestaltungsmerkmal der Offenen Ganztagsschule in Nordrhein-Westfalen und wird sich auch in einem gemeinsam erarbeiteten Landesausführungsgesetz widerspiegeln. 

Online-Redaktion: Im Vordergrund des Ausbaus stand in NRW immer die OGS, also die Offene Ganztagsgrundschule. Wie sehen Sie diese Priorität?

Spieleausgabe für die Pause: Janosch-Grundschule Troisdorf
Spieleausgabe für die Pause: Janosch-Grundschule Troisdorf © Online-Redaktion

Feller: Mit der Offenen Ganztagsschule haben wir ein gutes, etabliertes und akzeptiertes Modell. Dabei – und das ist mir wichtig – werden die Bedürfnisse der Kinder und ihrer Familien immer Priorität haben. Deswegen werden wir die enge Verzahnung von Schule und Jugendhilfe auch beibehalten und weiter ausbauen. 

Online-Redaktion: Ein Schwerpunkt sind auch die nordrhein-westfälischen Gesamtschulen und seit dem Projekt „Ganz In“ auch Ganztagsgymnasien. Wie wichtig sind Ganztagsangebote für Jugendliche?

Feller: Die Ganztagsschule soll kindgerecht und auch jugendgerecht ausgestaltet werden. Die Bedürfnisse von Jugendlichen sind anders als die Bedürfnisse von Grundschulkindern. Wenn der Aspekt einer verlässlichen Betreuung in den höheren Klassen mehr und mehr in den Hintergrund tritt, wird die inhaltliche Ausgestaltung hier umso wichtiger. Ich bin überzeugt, dass Angebote, die partizipativ gestaltet werden, viel bessere Akzeptanz bei den jungen Menschen finden.

Freiräume und Angebote zur Auseinandersetzung mit Themen, die für die Entwicklung relevant und bedeutsam sind, zum Beispiel aus dem Bereich Umweltbildung oder aus der Berufsorientierung bergen viele Potenziale. Ganztagsschulen können hier auch einen wichtigen Beitrag zur Schaffung von Chancengerechtigkeit und gesellschaftlicher Teilhabe leisten.

Online-Redaktion: Die Diskussion dreht sich in allen Ländern um Verlässlichkeit und Flexibilität des Ganztagsangebots. Ist die Organisationsform – offen oder gebunden – ein Thema für Sie? 

Feller: Gebundene Ganztagsschulen, in denen alle Schülerinnen und Schüler verbindlich teilnehmen, bieten durchaus Potenziale für die Rhythmisierung des Tagesablaufs. Besonders hervorheben möchte ich auch die Bedeutung der gebundenen Ganztagsförderschulen, die Schülerinnen und Schülern mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung und ihren Familien einen verlässlichen Rahmen geben und vielfältige Unterstützungsangebote ermöglichen. Bei der Diskussion um geeignete Organisationsformen ist es daher wichtig, unterschiedliche Bedürfnisse und Erfordernisse zu berücksichtigen. 

Mofa-AG im Ritzefeld-Gymnasium
Mofa-AG im Ritzefeld-Gymnasium © Ritzefeld-Gymnasium Stolberg

Und auch in den Offenen Ganztagsschulen ist die verlässliche Teilnahme für ein gutes Angebot sehr wichtig, und es gibt auch viele Schulen, die fast alle Kinder im Ganztag erreichen. Der Wunsch vieler Familien nach einer gewissen Flexibilität bei der Teilnahme, zum Beispiel, um an anderen Bildungsangeboten oder auch einmal an einer Familienfeier teilzunehmen, muss aber auch berücksichtigt werden. Die derzeitige Erlasslage ermöglicht diese Flexibilität. Solche Spielräume müssen beibehalten werden, auch wenn der gebundene Ganztag in der Primarstufe bei den Vorbereitungen zum Rechtsanspruch mitgedacht wird. 

Online-Redaktion: Viele Fragen drehen sich um die Ausstattung der Ganztagsschulen, die räumliche Ausstattung und das erforderliche Personal. Welche Herausforderungen sehen Sie in diesen beiden Bereichen?

Feller: Zunächst ist es aus meiner Sicht wichtig, auf bestehenden, bewährten Konzepten aufzubauen, sowohl bei den Raumfragen als auch beim Personal. Aber auch kreative und pädagogisch sinnvolle neue Ansätze spielen eine wichtige Rolle. Zum Beispiel bei der Raumgewinnung da, wo Neubauten schwer umzusetzen sind, häufig in den großstädtischen Ballungsgebieten. Diesen Prozess werden wir aktiv begleiten; die Bundesmittel für den Infrastrukturausbau in Höhe von 3,5 Milliarden Euro sind hier eine wichtige Ergänzung.

Im Kontext der Personalgewinnung müssen die Herausforderungen bei der Gewinnung qualifizierter Fachkräfte, vor der alle Bundesländer stehen, mitgedacht werden. Wir wollen einen qualitativ hochwertigen Ganztag, aber wir müssen auch dafür sorgen, dass genug Personal gefunden werden kann. Daher müssen neben grundständig qualifizierten Fachkräften auch die Chancen der Zusammenarbeit mit Partnern, zum Beispiel im Sport oder im Bereich der kulturellen Bildung, intensiv bedacht werden. Im Kinder- und Jugendministerium ist eigens für die Frage der Fachkräftegewinnung eine Koordinierungsstelle geschaffen worden, auch in diesem Bereich ist eine gut verzahnte Zusammenarbeit notwendig. 

In Nordrhein-Westfalen sind auch Lehrkräfte mit Stundenanteilen an der Ausgestaltung der OGS beteiligt. Das ist und bleibt wichtig, um eine verlässliche Zusammenarbeit und ein gemeinsam gestaltetes Angebot zu ermöglichen. Gleichwohl dürfen wir die Augen nicht davor verschließen, dass durch die aktuellen Krisen der Ausbau des Ganztags deutlich erschwert worden ist.

Online-Redaktion: Sie waren fast zwanzig Jahre bei der Bezirksregierung Münster tätig, zuletzt als Regierungspräsidentin. Welche Bedeutung haben lokale Bildungslandschaften?

Bienen-AG der Offenen Ganztagsgrundschule Dahlem
Bienen-AG der Offenen Ganztagsgrundschule Dahlem © OGS Dahlem / Mirjam Schmitz

Feller: Eine große, sie sind der Schlüssel zu einem ganzheitlichen Bildungsangebot. In meiner Tätigkeit bei der Bezirksregierung habe ich immer wieder gesehen, wie wichtig es ist, Themen konzeptionell zusammenzudenken und zu bewegen. Schule ist heute ein Ort des Lernens, des Lebens, der Begegnung – eben ein Ort, an dem Kinder und Jugendliche sich ganztägig aufhalten wollen und sollen. Bildung findet in allen Lebensbereichen der Kinder und Jugendlichen statt. Kinder und Jugendliche machen eigene Erfahrungen, lernen Neues dazu und entwickeln sich weiter, hier erleben sie Integration und Inklusion in ihrem schulischen Alltag. Und dabei kommen sie immer wieder mit vielen unterschiedlichen Menschen, mit verschiedenen Institutionen und Professionen in Kontakt. 

Das Ziel der regionalen Bildungsnetzwerke ist es, die verschiedenen Akteure aus Schule, Jugendhilfe, Kultur, Sport und viele mehr an einen Tisch zu bringen. Die Vernetzung im Sozialraum, die Abstimmung von Konzepten, der Austausch der Akteure, all das ist unverzichtbar, um allen Kindern gerecht zu werden und sie für die Anforderungen, die sie als Mitglieder der Gesellschaft haben werden, stark zu machen. Mit den derzeit 40 Familiengrundschulzentren, die durch das Schulministerium gefördert werden, ermöglichen wir es, dass Schulen zu Knotenpunkten im Quartier werden. Durch die Bündelung zahlreicher Angebote und durch adressatengerechte Beteiligungsformate werden Hürden und Hemmschwellen abgebaut. 

Online-Redaktion: Wo sehen Sie künftig die Schwerpunkte der Ganztagsschule in Nordrhein-Westfalen?

Feller: Eine gute Ganztagsschule braucht den Dreiklang aus Bildung, Betreuung und Erziehung. Dabei müssen die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen im Mittelpunkt stehen. Das Leitmotiv der kind- und jugendgerechten Ganztagsschule soll für die Entwicklungen der nächsten Jahre auch handlungsleitend sein. Das geplante Landesausführungsgesetz zur Umsetzung des Rechtsanspruchs auf einen ganztägigen Betreuungsplatz für Kinder im Grundschulalter wird ein wichtiger Meilenstein. Insgesamt sind Quantität und Qualität in der Ganztagsschule gemeinsam zu betrachten und weiterzuentwickeln. Wichtig ist mir dabei auch ein enger Austausch von Jugendhilfe und Schule.

Seit 2009 haben auf www.ganztagsschulen.org regelmäßig Bildungsministerinnen und Bildungsminister in Interviews die Entwicklungen beim Ausbau der Ganztagsangebote in ihrem Land erläutert. Alle Interviews finden Sie in der Rubrik „Bildungspolitik: Interviews“.

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